JudikaturJustizBsw58812/15

Bsw58812/15 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
17. Oktober 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Polyakh u.a. gg. die Ukraine, Urteil vom 17.10.2019, Bsw. 58812/15 u.a.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK - Entlassung von in der Amtszeit von Viktor Janukowytsch beschäftigten Beamten aufgrund Lustrationsgesetzes.

Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Hinblick auf die ersten drei Bf. (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK im Hinblick auf alle Bf. (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden an jeden der Bf., € 1.5oo,– an den ErstBf. bzw. je € 300,– an den Zweit- bis FünftBf. für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Im Februar 2010 wurde Viktor Janukowytsch zum ukrainischen Präsidenten gewählt. Er trat sein Amt am 25.2.2010 an. Noch im selben Jahr kam es durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts zu einer Ausweitung seiner präsidialen Befugnisse. Während seiner Amtszeit wurden zudem Bedenken wegen der Verfolgung politischer Gegner und der Ausübung von Druck auf die Gerichtsbarkeit laut. Nach den Euromaidan-Protesten, die zwischen November 2013 und 22.2.2014 stattfanden, erklärte das Parlament die Präsidentschaft von Janukowytsch für beendet und setzte neue Präsidentschaftswahlen an.

Bei den Bf. handelt es sich um Beamte, die verschiedene Positionen im öffentlichen Dienst innehatten, bevor sie mit dem »Gesetz über die Säuberung (Lustration) der Regierung« von 2014 (im Folgenden: »Lustrationsgesetz«) entlassen wurden. Der ErstBf. arbeitete ab etwa 2005 im Büro des Generalstaatsanwalts. Von Januar 2012 bis Mitte Juli 2014 war er stellvertretender Leiter der dortigen Dokumentationsabteilung, von Mitte Juli 2014 bis 23.10.2014 deren Leiter. Der ZweitBf. fungierte zwischen Februar 2009 und Mai 2013 als stellvertretender Leiter der Finanzpolizei bzw. Leiter einer regionalen Abteilung der Finanzpolizei, von Mai 2013 bis Ende Juli 2013 als Leiter einer Abteilung des Direktorats des Ministeriums für Abgaben und Zölle sowie zwischen Ende Juli 2013 und Ende Oktober 2014 als stellvertretender Leiter dieser Abteilung. Der DrittBf. war zwischen Dezember 2002 und 23.10.2014 stellvertretender Staatsanwalt der Region Tschernihiw. Der ViertBf. arbeitete zwischen April 2006 und Ende März 2015 als Leiter der Steuerbehörde von Jaremtsche. Der FünftBf. hatte von 1990 bis 1991 die Position des zweiten Sekretärs der Kommunistischen Partei der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (UkrSSR) in einem Bezirk inne. Zwischen März 2010 und 21.7.2015 arbeitete er als stellvertretender Leiter einer landwirtschaftlichen Abteilung auf Bezirksebene.

Am 16.10.2014 trat das Lustrationsgesetz in Kraft, das die Entlassung von Individuen vorsah, die (i) im Zeitraum von 25.2.2010 bis 22.2.2014 gewisse Positionen in der öffentlichen Verwaltung oder vor 1991 gewisse Positionen in der Kommunistischen Partei der UkrSSR innegehabt hatten oder die (ii) es verabsäumt hatten, die vom Gesetz verlangten Lustrationserklärungen abzugeben. Die Betroffenen erhielten zudem für zehn Jahre ein Beschäftigungsverbot für den öffentlichen Dienst und für verschiedene andere Berufe.

Die ersten drei Bf. wurden aufgrund dieser Regelungen im Oktober 2014, der FünftBf. wurde am 21.7.2015 entlassen. Der ViertBf. wurde am 25.3.2015 entlassen, da er die von seinem Arbeitgeber gesetzte Frist zur Abgabe einer Lustrationserklärung (22.3.2015) nicht eingehalten hatte. Die Namen der Bf. wurden umgehend in einer öffentlich zugänglichen Online-Datenbank in ein Register eingetragen.

Die Bf. rügten ihre Entlassungen vor den zuständigen Verwaltungsgerichten. Die Verfahren der ersten drei Bf. wurden 2014 bzw. 2015 ausgesetzt, um dem Verfassungsgericht die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Lustrationsgesetzes vorzulegen. Laut den Informationen des GH ist diese Frage immer noch beim Verfassungsgericht anhängig. Die Entlassungen der anderen beiden Bf. wurden 2018 bestätigt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Alle Bf. rügten eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens). Die ersten drei Bf. rügten zudem eine Verletzung von Art. 6 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer).

Verbindung der Beschwerden

(115) Angesichts des ähnlichen Gegenstands der [...] Beschwerden erachtet es der GH für angemessen, sie in einem einzigen Urteil zu prüfen (einstimmig).

Einreden zur Zulässigkeit der ersten drei Beschwerden in ihrer Gesamtheit

(116) Die Regierung [...] brachte [...] vor, dass die Bf. es entweder verabsäumt hätten, die verfügbaren innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen, oder dass sie – für den Fall, dass der GH befinden sollte, es würden keine wirksamen innerstaatlichen Rechtsmittel existieren – ihre Beschwerden außerhalb der sechsmonatigen Beschwerdefrist eingebracht hätten.

(141) Der GH stimmt [...] mit der Regierung überein, dass die Berufungen an die Verwaltungsgerichte in Verbindung mit dem Verfahren vor dem Verfassungsgericht auf Initiative dieser Gerichte unter den Umständen des vorliegenden Falles grundsätzlich wirksame innerstaatliche Rechtsbehelfe im Hinblick auf die Rügen der Bf. betreffend ihre Entlassung aus dem öffentlichen Dienst nach dem Lustrationsgesetz darstellten.

(143) [...] Es erfolgte keine endgültige Entscheidung in diesen Verfahren. Die sechsmonatige Frist beginnt ab der endgültigen Entscheidung im Zuge der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu laufen. Die Beschwerden können deshalb nicht für unzulässig erklärt werden, weil sie nicht innerhalb von sechs Monaten nach der Entlassung der Bf. erhoben wurden [...]. Somit ist die diesbezügliche Einrede der Regierung zurückzuweisen.

(144) Wenn der GH die Berufungen an die Verwaltungsgerichte als in der Praxis wirksam ansehen würde, könnte der Umstand, dass in diesen Verfahren keine endgültige innerstaatliche Entscheidung erfolgte, zugleich bedeuten, dass die Rügen der Bf. betreffend ihre Entlassung [...] verfrüht sind. Die Bf. brachten hingegen vor, dass der Rechtsbehelf sich in der Praxis aufgrund von unangemessenen Verzögerungen als unwirksam erwiesen hätte.

(145) Der GH hat bereits festgehalten, dass ein wirksamer Rechtsbehelf ohne übermäßige Verzögerungen funktionieren muss und dass es dann, wenn ein Bf. von einem offenkundig bestehenden Rechtsbehelf Gebrauch macht und ihm erst später Umstände zur Kenntnis gelangen, die ihn unwirksam machen, für die Zwecke von Art. 35 Abs. 1 EMRK angemessen sein kann, den Beginn der sechsmonatigen Frist bei dem Datum anzusetzen, an dem der Bf. sich dieser Umstände zum ersten Mal bewusst wurde oder bewusst hätte werden müssen.

(146) Die Frage, die beantwortet werden muss, ist [...], ob die Verfahren in den Fällen der ersten drei Bf. unangemessen verzögert wurden und falls ja, ob die Bf. durch ihre Handlungen oder Unterlassungen oder der Staat dafür verantwortlich waren. [...] Diese Fragen sind eng mit dem Inhalt der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK betreffend [...] die Verfahrensdauer verbunden. Der GH verbindet sie daher mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig). [...]

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK im Hinblick auf die ersten drei Bf.

Zulässigkeit

(148) Die Regierung brachte vor, dass Art. 6 EMRK lediglich unter seinem zivilrechtlichen Aspekt Anwendung finde. [...] Der strafrechtliche Zweig von Art. 6 EMRK würde hingegen nicht zur Anwendung kommen.

(151) [...] Tatsächlich schließt das innerstaatliche Recht den Zugang zur Anfechtung der Entlassung aus den Positionen, welche die Bf. besetzten, nicht aus. Dies genügt, um zum Schluss zu kommen, dass Art. 6 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Zweig anwendbar ist.

(154) Der GH wiederholt, dass er bei der Beurteilung, ob Verfahren als »strafrechtlich« angesehen werden können, drei Kriterien berücksichtigt: Die rechtliche Einordnung des fraglichen Delikts im nationalen Recht, die Natur des Delikts und die Natur und die Schwere der Strafe. [...]

(156) Im vorliegenden Fall wurde das Verhalten der Bf., für welches die Maßnahmen nach dem Lustrationsgesetz auf sie angewendet wurden, im innerstaatlichen Recht nicht als »strafrechtlich« eingestuft und ähnelte keinem strafbaren Verhalten: Es bestand darin, dass sie in ihren Positionen verblieben, als Präsident Janukowytsch an der Macht war.

(159) [...] Die Natur und Schwere der Maßnahmen nach dem Lustrationsgesetz machten sie nicht »strafrechtlich« im Sinne der Konvention. Deshalb ist Art. 6 EMRK unter seinem strafrechtlichen Aspekt nicht anwendbar.

(160) [...] [Insgesamt] ist dieser Teil der ersten drei Beschwerden nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(173) Die Verfahren dauerten bislang mehr als viereinhalb Jahre vor einer Instanz [...].

(194) Der GH kommt zum Schluss, dass die Länge der Verfahren in den Fällen der Bf. unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles nicht als »angemessen« angesehen werden kann.

(195) Er weist die Einrede der Regierung im Hinblick auf die Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe deshalb zurück (einstimmig).

(196) Es erfolgte aus diesem Grund eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Hinblick auf die ersten drei Bf. (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Zur Zulässigkeit

(199) Soweit der Viert- und FünftBf. betroffen waren, brachte die Regierung [...] vor, die Berufungen der Bf. an die Verwaltungsgerichte wären als Rügen der Verfassungswidrigkeit des Lustrationsgesetzes konstruiert gewesen. Der Umstand, dass diese Gerichte ohne verfassungsrechtliche Zuständigkeit nicht als effektives Gericht für solche Rügen angesehen werden konnten, hätte für die Bf. von vornherein offensichtlich sein müssen. Sie hätten zur damaligen Zeit keinen direkten Zugang zum Verfassungsgericht gehabt. Da sie über kein wirksames Rechtsmittel verfügt hätten, hätten sie sich binnen sechs Monaten ab ihrer Entlassung an den GH wenden müssen.

Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK

(203) [...] Zwischen den Parteien ist nicht strittig, dass durch die Anwendung der Maßnahmen nach dem Lustrationsgesetz auf die Bf. ein Eingriff in deren Rechte nach Art. 8 EMRK erfolgte.

(205) Der GH hat festgehalten, dass es einige typische Aspekte des Privatlebens gibt, die von einer Entlassung, Degradierung, Nichtzulassung zu einem Beruf oder sonstigen nachteiligen Maßnahmen beeinträchtigt werden können. Diese Aspekte umfassen (i) den »engsten Kreis« des Bf.; (ii) seine Möglichkeit, Beziehungen mit anderen zu begründen und zu entwickeln; und (iii) seine gesellschaftliche und berufliche Reputation. Es gibt zwei Wege, auf die sich in solch einem Disput für gewöhnlich eine Frage im Hinblick auf das Privatleben stellt: entweder wegen der eigentlichen Gründe für die strittige Maßnahme (in diesem Fall wendet der GH den »Gründe basierten Ansatz« an) oder – in gewissen Fällen – aufgrund der Konsequenzen für das Privatleben (in diesem Fall wendet der GH den »folgenbasierten Ansatz« an).

(206) Beim »folgenbasierten Ansatz« hat die Schwelle an Schwere im Hinblick auf alle oben genannten Aspekte entscheidende Bedeutung. [...] Der GH wird eine Anwendung von Art. 8 EMRK nur akzeptieren, wenn diese Folgen sehr ernst sind und das Privatleben des Bf. zu einem sehr bedeutenden Ausmaß beeinträchtigen.

(207) Bei der Beurteilung der Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall hält der GH fest, dass diese Bestimmung nicht unter dem »Gründe basierten Ansatz« anwendbar sein kann: Das Lustrationsgesetz wurde auf die Bf. aufgrund ihrer Positionen im öffentlichen Dienst während der Amtszeit von Herrn Janukowytsch oder – soweit der FünftBf. betroffen war – aufgrund der Position in der Kommunistischen Partei der UkrSSR angewendet und wies keine Verbindung zu ihrem Privatleben auf.

(208) Soweit der »folgenbasierte Ansatz« betroffen ist, hält der GH fest, dass das Lustrationsgesetz die Bf. in dreifacher Weise beeinträchtigte:

– sie wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen;

– sie erhielten ein zehnjähriges Verbot, Positionen im öffentlichen Dienst einzunehmen;

– ihre Namen wurden in das öffentlich zugängliche Online-Lustrationsregister eingetragen.

(209) Der GH befindet, dass die Kombination dieser Maßnahmen sehr ernste Konsequenzen für die Möglichkeit der Bf. hatte, Beziehungen zu anderen zu begründen und zu entwickeln, sowie für ihre gesellschaftliche und berufliche Reputation. Dies beeinträchtigte sie in einem bedeutenden Ausmaß. Sie wurden nicht lediglich suspendiert, zurückgestuft oder in Positionen mit weniger Verantwortung versetzt, sondern entlassen und insgesamt vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen, womit sie mit sofortiger Wirkung all ihren Lohn verloren. Sie wurden aus jeder Beschäftigung im öffentlichen Dienst verbannt, wo sie viele Jahre als Laufbahnbeamte gearbeitet hatten.

(210) Dass die Bf. Maßnahmen nach dem Lustrationsgesetz unterworfen wurden, wurde sofort öffentlich gemacht, sogar noch bevor ihre Berufungen dagegen untersucht wurden [...]. Während das Lustrationsgesetz nicht verlangte, dass individuelles Verschulden aufgezeigt wurde, war sein erklärtes Ziel, den öffentlichen Dienst von Individuen zu »säubern«, die mit der »Usurpation der Macht«, der Untergrabung der nationalen Sicherheit und der Landesverteidigung sowie der Verletzung von Menschenrechten in Verbindung standen. Unter solchen Umständen war die Anwendung von Maßnahmen nach dem Lustrationsgesetz sehr wahrscheinlich dazu geeignet, mit sozialem und beruflichem Stigma einherzugehen [...].

(211) Der GH kommt zum Schluss, dass Art. 8 EMRK anwendbar ist.

Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe und Einhaltung der sechsmonatigen Beschwerdefrist durch die ersten drei Bf.

(214) Der GH ist der Ansicht, dass sich die Verfahren [aufgrund der Berufungen an die Verwaltungsgerichte in Verbindung mit den von diesen angestrengten Verfahren vor dem Verfassungsgericht] vor dem Hintergrund seiner Feststellungen unter Art. 6 Abs. 1 EMRK (siehe oben) in der Praxis nicht als ein wirksames Rechtsmittel im Hinblick auf die Rügen der Bf. unter Art. 8 EMRK erwiesen.

(215) Zugleich befasste sich das Verfassungsgericht während der betreffenden Periode mit dem Fall und blieb nicht inaktiv. Es prüfte den Fall in regelmäßigen Abständen. Dies war geeignet, die Bf. und die breite Öffentlichkeit glauben zu lassen, dass die Entscheidung dieses Gerichts jeden Moment ergehen würde. Zudem wiesen die Einzelrichterformationen des GH bereits eine Reihe von Beschwerden als verfrüht zurück, in denen die Bf. ihre Entlassung unter dem Lustrationsgesetz rügten, während ihre innerstaatlichen Verfahren vor den Verwaltungsgerichten, die auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des Lustrationsgesetzes warteten, für relativ kurze Zeiträume unterbrochen waren.

(216) Somit kann angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalles nicht gesagt werden, dass die Bf. erkannt hätten oder erkennen hätten müssen, dass das fragliche Rechtsmittel unwirksam war und daher zu irgendeinem Zeitpunkt vor dem Erlass des gegenständlichen Urteils die sechsmonatige Frist zu laufen begann.

Einhaltung der sechsmonatigen Beschwerdefrist durch den Viert- und FünftBf.

(219) [...] Die Bf. erhoben ihre Beschwerden innerhalb von sechs Monaten ab den endgültigen innerstaatlichen Entscheidungen in den [Berufungs]verfahren.

(220) Aus diesem Grund können die Rügen des Viert- und FünftBf. nicht wegen Nichteinhaltung der sechsmonatigen Frist für unzulässig erklärt werden. Der GH weist deshalb die diesbezügliche Einrede der Regierung zurück.

In der Sache

Ansatz des GH

(262) Der GH hat eine große Anzahl von Fällen untersucht, welche die Lustration nach dem Übergang von totalitärer kommunistischer Herrschaft zur Demokratie betrafen. [...]

(263) [...] Das Lustrationsgesetz behandelt allerdings zwei unterschiedliche Zeiträume: die Periode der totalitären kommunistischen Herrschaft und die Periode, als Präsident Janukowytsch an der Macht war. Die Fälle der ersten vier Bf. betreffen die letztgenannte Periode.

(264) Während daher die Grundsätze, die der GH in Fällen betreffend die postkommunistische Lustration entwickelt hat, im vorliegenden Fall im Hinblick auf die ersten vier Bf. angewendet werden können, muss doch ihre spezielle Situation berücksichtigt werden.

Kam es zu einem Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Privatlebens?

(265) Im Lichte der obigen Erwägungen (Rn. 208-211) zur Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK befindet der GH, dass ein Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Privatlebens erfolgte.

War der Eingriff »gesetzlich vorgesehen«?

(267) Die auf die Bf. angewendeten Maßnahmen hatten ihre Grundlage im [...] Lustrationsgesetz. Das Gesetz wurde veröffentlicht, daher gibt es keinen Zweifel an seiner Zugänglichkeit. Es war auch ausreichend vorhersehbar, soweit die Bf. betroffen sind, und enthielt eine Liste mit Stellen, deren Inhaber restriktiven Maßnahmen nach dem Gesetz unterworfen würden.

(268) Obwohl es den Bf. nicht möglich war abzuschätzen, dass eine solche Gesetzgebung erlassen werden würde, als sie ihre Posten besetzten, [...] wirft dies keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Eingriffs nach der Konvention auf. Rückwirkung ist nach Art. 7 Abs. 1 EMRK nur im Hinblick auf strafbare Handlungen und Strafen verboten [...].

(269) Dass das Tun der Bf. zur betreffenden Zeit legal war, ist ein Faktor, der bei der Beurteilung der Notwendigkeit des Eingriffs berücksichtigt werden kann.

Verfolgte der Eingriff ein legitimes Ziel?

(270) In Fällen betreffend postkommunistische Lustration in anderen zentral- und osteuropäischen Staaten stellte der GH fest, dass Lustrationsmaßnahmen die legitimen Ziele des Schutzes der nationalen und öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer verfolgen (siehe Sidabras und Džiautas/LT, Naidin/RO und Anchev/BG).

(271) Der GH bemerkt, dass das Lustrationsgesetz nach der Einschätzung der Venedig-Kommission (Anm: Die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht.) zwei legitime Ziele verfolgte: (i) die Gesellschaft vor Individuen zu schützen, die aufgrund ihres vergangenen Verhaltens eine Gefahr für das neu errichtete demokratische Regime darstellen konnten und (ii) die öffentliche Verwaltung von Individuen zu säubern, die an Korruption in großem Stil beteiligt gewesen waren [...].

(272) Der GH sieht keinen Grund, daran zu zweifeln, dass der ukrainische öffentliche Dienst sich im betreffenden Zeitraum tatsächlich beträchtlichen Herausforderungen gegenübersah, die die Notwendigkeit von Reformmaßnahmen rechtfertigten, um die zwei von der Venedig-Kommission identifizierten Ziele anzustreben. In diesem Sinne stimmten die erklärten Ziele des Lustrationsgesetzes weitgehend mit den Zielen überein, die der GH in seiner Rechtsprechung im Hinblick auf postkommunistische Lustration in anderen zentral- oder osteuropäischen Staaten als legitim anerkannte.

(274) Nach Ansicht des GH haben seine früheren Feststellungen in den postkommunistischen Lustrationsfällen im vorliegenden Fall nur begrenzte Relevanz, insbesondere soweit die ersten vier Bf. betroffen sind, da die Maßnahmen nach dem Lustrationsgesetz viel weiter sind und auf die Bf. in einem anderen Kontext angewendet wurden als jenem, der in den anderen zentral- oder osteuropäischen Staaten vorherrschte, als sie ihre Lustrationsprogramme umsetzten.

(275) Insbesondere befasste sich der GH in den oben genannten Fällen mit früheren (angeblichen) Kollaborateuren des Geheimdienstes des totalitären Regimes. Im vorliegenden Fall hingegen hatten die Bf. Posten in Institutionen eines Staates inne, der zumindest grundsätzlich auf verfassungsrechtlich-demokratischen Fundamenten stand – auch wenn sie unter der Regierung von Präsident Janukowytsch arbeiteten, die stark für autoritäre Tendenzen kritisiert und als in weitreichende systematische Korruption verwickelt angesehen wurde. Außerdem scheint ihre Entlassung auf eine kollektive Verantwortung von Individuen gestützt worden zu sein, die während Präsident Janukowytschs Zeit an der Macht in staatlichen Einrichtungen beschäftigt waren – unabhängig von den speziellen Funktionen, die sie ausübten, und ihrer Verbindung zu den antidemokratischen Tendenzen und Entwicklungen, zu denen es während dieses Zeitraumes kam. Deshalb kann die angebliche Gefahr, welche die Personen, die dem weiten Spektrum an Maßnahmen des Lustrationsgesetzes unterworfen waren, für die Funktion der demokratischen Institutionen darstellten, nicht mit jener in Fällen von Kollaboration mit totalitären Geheimdiensten gleichgesetzt werden.

(276) In der Rechtsprechung des GH und anderen Dokumenten des Europarats [...] ist ein gefestigter Grundsatz, dass Lustration nicht für Bestrafung, Vergeltung oder Rache verwendet werden darf. Das gilt auch für die strittigen Maßnahmen nach dem Lustrationsgesetz [...].

(277) Gemäß dem Obersten Gericht und dem Vorbringen der Regierung war es das Ziel des Lustrationsgesetzes, das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen wiederherzustellen und die demokratische Staatsführung zu schützen. Diese Ziele hätten jedoch möglicherweise auch durch weniger eingreifende Mittel erreicht werden können, wie die Bf. gegebenenfalls nach einer individuellen Beurteilung aus ihren Verantwortungspositionen zu entfernen und sie wenn möglich in weniger sensible Positionen zu versetzen. Die weitreichende Natur der auf die Bf. angewendeten Maßnahmen in Verbindung mit der sehr aufgeladenen Sprache, die in § 1 des Lustrationsgesetzes im Hinblick auf dessen Ziele verwendet wird, bringt die Möglichkeit ins Spiel, dass einige dieser Maßnahmen zumindest zum Teil durch Rachsucht gegenüber jenen, die mit den vorigen Regierungen in Verbindung standen, motiviert waren.

(278) Wenn dies nachgewiesen werden könnte, könnten die Maßnahmen des Lustrationsgesetzes als eine Untergrabung der demokratischen Staatsführung durch die Politisierung des öffentlichen Dienstes angesehen werden – ein Problem, das das Gesetz angeblich bekämpfen sollte – und wären somit weit davon entfernt, das Ziel zu verfolgen, eine entsprechende Staatsführung zu schützen.

(281) Zudem warnte die Venedig-Kommission auch vor den Folgen eines zu weiten persönlichen Anwendungsbereichs des Lustrationsgesetzes für Individualrechte und hob hervor, dass ein so weiter Ansatz im Hinblick auf das legitime Ziel, das die Lustrationsmaßnahmen zu verfolgen suchten – nämlich den Schutz der demokratischen Staatsführung und nicht Rache –, ungerechtfertigt sein könnte.

(282) Angesichts der obigen Erwägungen hat der GH Zweifel daran, ob der fragliche Eingriff ein legitimes Ziel verfolgte. Da allerdings im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs ein Punkt deutlicher hervorspringt, wird der GH die Frage der »Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft« basierend auf der Annahme untersuchen, dass die auf die Bf. angewendeten Maßnahmen die legitimen Ziele verfolgten, auf die in Rn. 270 Bezug genommen wurde.

War der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig«?

Die ersten drei Bf.

(284) Die Maßnahmen unter dem Lustrationsgesetz wurden auf die Bf. aufgrund ihrer angenommenen Verbindung mit der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Janukowytsch angewendet.

(285) Es ist zwischen den Parteien unstrittig, dass die Amtszeit von Herrn Janukowytsch in der Ukraine durch eine Reihe von negativen Entwicklungen im Hinblick auf die Achtung der Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte charakterisiert war und dass seine Regierung als undemokratisch wahrgenommen wurde und in weitreichende systematische Korruption verwickelt war. [...]

(286) Der GH befindet deshalb, dass unter solchen Umständen Maßnahmen zur Veränderung und Reform im öffentlichen Dienst grundsätzlich gerechtfertigt waren, einschließlich Maßnahmen gegen Staatsbedienstete, die persönlich mit den oben genannten negativen Entwicklungen in Verbindung standen.

(287) Die Frage, die es zu beantworten gilt, ist, ob der belangte Staat seinen Ermessensspielraum überschritt, indem er auf die Bf. unabhängig von den speziellen Funktionen, die sie ausübten, und allein auf Basis des Umstands, dass sie während der Amtszeit von Herrn Janukowytsch gewisse relativ hochrangige Positionen innehatten, restriktive Maßnahmen anwendete.

(288) Der GH hat im Kontext von postkommunistischer Lustration festgehalten, dass Vertragsstaaten, die aus undemokratischen Regimen hervorgegangen sind, einen weiten Ermessensspielraum bei der Wahl haben, wie sie mit dem Erbe dieses Regimes umgehen.

(289) Angesichts der oben in Rn. 285 dargelegten Umstände befindet der GH, dass den Behörden im vorliegenden Fall ein ähnlicher Ermessensspielraum gewährt werden sollte.

(290) Der GH hält allerdings fest, dass er selbst im Kontext von Fällen betreffend den Übergang von totalitärer Herrschaft zu Demokratie und betreffend (angebliche) Kollaborateure von totalitären Geheimdiensten nie mit solch weitreichenden restriktiven Maßnahmen konfrontiert war, die auf Staatsbedienstete allein für ihr Verbleiben in ihren Positionen unter einer Regierung angewendet wurden, die in der Folge für undemokratisch befunden wurde.

(291) Selbst in solchen Fällen stellte der GH Verletzungen von verschiedenen Bestimmungen der Konvention fest, wenn Lustrationsmaßnahmen lediglich aufgrund einer flüchtigen Verbindung [...] und ohne ausreichende Individualisierung angewendet worden waren.

(292) Eine solche Individualisierung [...] kann auch auf legislativer Ebene erfolgen. Für die Wahl eines solchen Ansatzes müssen jedoch zwingende Gründe vorgelegt werden. Die Qualität der parlamentarischen und gerichtlichen Überprüfung des Gesetzesvorhabens ist diesbezüglich ein besonders wichtiger Faktor.

(293) Andere Faktoren, die bei der Beurteilung der Verträglichkeit eines Gesetzesvorhabens zu berücksichtigen sind, das die Verhängung von restriktiven Maßnahmen ohne individuelle Beurteilung des Verhaltens eines Individuums betrifft, sind die Schwere der konkreten Maßnahme und ob es ausreichend eng zugeschnitten ist, um das anvisierte dringende soziale Bedürfnis auf verhältnismäßige Weise anzusprechen [...].

(294) Zu den Umständen des vorliegenden Falles hält der GH fest, dass die Anwendung der Maßnahmen nach dem Lustrationsgesetz auf die Bf. keine individuelle Beurteilung ihres Verhaltens einschloss. Tatsächlich wurde nie behauptet, dass die Bf. selbst spezielle Handlungen gesetzt hätten, um die demokratische Staatsführung, die Rechtsstaatlichkeit, die nationale Sicherheit, die Landesverteidigung oder die Menschenrechte zu untergraben. Sie wurden kraft Gesetzes allein für das Innehaben gewisser relativ hochrangiger Positionen im öffentlichen Dienst während der Präsidentschaft von Herrn Janukowytsch [...] entlassen. [...]

(296) Wie oben (Rn. 208-211) festgehalten, waren die auf die Bf. angewendeten Maßnahmen sehr restriktiv und weitreichend. Daher waren sehr überzeugende Gründe erforderlich um zu zeigen, dass sie ohne eine individuelle Beurteilung ihres persönlichen Verhaltens angewendet werden konnten, nämlich durch die bloße Schlussfolgerung, dass ihr Verbleib im Amt während der Präsidentschaft von Herrn Janukowytsch ausreichend demonstrierte, dass es ihnen an Loyalität gegenüber den demokratischen Grundsätzen der Staatsorganisation mangelte oder sie in Korruption verwickelt waren.

(297) Die Regierung wies auf keine Diskussion solcher Gründe im Zuge der parlamentarischen Debatte über das Lustrationsgesetz hin. Ganz im Gegenteil listet § 1 des Gesetzes »die Unschuldsvermutung« und die »individuelle Verantwortlichkeit« unter den Grundsätzen auf, die den Säuberungsprozess leiten sollen. Für den GH weist das auf einen gewissen Mangel an Kohärenz zwischen den vom Gesetz erklärten Zielen und seinen tatsächlichen Bestimmungen hin. [...]

(298) Außerdem ist der GH nicht überzeugt davon, dass das Gesetz ausreichend eng zugeschnitten war, um das »dringende soziale Bedürfnis« anzusprechen, das es verfolgen hätte sollen. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass das Gesetz bedeutend weitreichender und allgemeiner war als etwa jene Gesetze, die durch Polen oder Lettland angenommen wurden. Diese waren in ihrer Anwendung auf jene beschränkt, die bei den demokratiefeindlichen Aktivitäten der früheren Behörden eine aktive Rolle spielten.

(299) So konnten, wie die Fälle des Zweit- und des DrittBf. zeigen, die Maßnahmen des Lustrationsgesetzes z.B. sogar auf einen Beamten angewendet werden, der in seine Position bestellt wurde, lange bevor Herr Janukowytsch Präsident wurde – alleine aufgrund des Umstands, dass er es verabsäumt hatte, seine Stelle innerhalb eines Jahres nach Amtsantritt von Herrn Janukowytsch zu kündigen.

(300) Mit anderen Worten ist das Element, das die Anwendung der restriktiven Maßnahmen nach dem Lustrationsgesetz auslöst, der Amtsantritt von Herrn Janukowytsch und nicht irgendeine etwaig während seiner Amtszeit erfolgte Entwicklung, die das demokratisch-verfassungsrechtliche Regime untergräbt und mit der der Betroffene eine Verbindung gehabt haben mag. Der GH erwägt, dass Laufbahnbeamte nicht restriktiven Maßnahmen solcher Schwere unterworfen werden können, nur weil sie nach der Wahl eines neuen Staatsoberhauptes in ihren Positionen im öffentlichen Dienst geblieben sind.

(301) Es gibt keine stichhaltige Erklärung für den zeitlichen Rahmen, den das Lustrationsgesetz als Hauptkriterium für die Anwendung der restriktiven Maßnahmen ansetzt [...]. Die Regierung selbst schien zu argumentieren, dass das Lustrationsgesetz eine Antwort auf die negativen Folgen der Aktivitäten aller postkommunistischen Eliten wäre. Der Zeitraum von 1991 bis 2001 ist jedoch vom Regelungsbereich des Gesetzes ausgeschlossen.

(302) Gleichermaßen existiert keine Erklärung für die einjährige Periode als Schlüsselkriterium für die Anwendung des Lustrationsgesetzes [...]. Der GH bemerkt auch das Argument des ErstBf., wonach der Präsident der Ukraine, der das Lustrationsgesetz damals verabschiedete, selbst neun Monate lang als Minister in Präsident Janukowytschs Regierung gedient hatte. Die Regierung betonte als eines der wesentlichen Ziele des Lustrationsgesetzes die Notwendigkeit, durch die sichtbare Erneuerung ihres Personals das öffentliche Vertrauen in die staatlichen Behörden wiederherzustellen. Es ist schwer zu sehen, wie dieses Ziel unter solchen Umständen [...] durch die »Säuberung« von weit weniger wichtigen Beamten erreicht werden konnte.

(303) Die Regierung zitierte als Hauptelement für den Beweis der antidemokratischen Natur der Amtszeit von Herrn Janukowytsch die Entscheidung des Verfassungsgerichts aus 2010, die eine Vergrößerung der Macht des Genannten bewirkte [...]. Das Lustrationsgesetz misst dieser Entscheidung oder irgendeiner diesbezüglichen konkreten negativen Entwicklung während der Amtszeit von Herrn Janukowytsch allerdings keine Bedeutung bei [...]. Jedenfalls wurde zwischen den Bf. und solchen speziellen konkreten Entwicklungen kein Zusammenhang aufgezeigt.

(304) Desgleichen behauptete die Regierung, dass es unter der Amtszeit von Herrn Janukowytsch ein Muster dahingehend gegeben habe, korrupte Individuen allein auf Basis ihrer persönlichen Loyalität und unter Missachtung demokratischer Verfahren und Werte im öffentlichen Dienst unterzubringen. Es wurde jedoch nie gezeigt, dass es bei der Ernennung der Bf. oder ihrer Belassung im Amt irgendwelche Unregelmäßigkeiten gegeben hätte. Alles weist darauf hin, dass ihre Karrieren sich vor dem Amtsantritt von Präsident Janukowytsch und während seiner Präsidentschaft auf eine gewöhnliche Weise entwickelten. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie im öffentlichen Dienst »platziert« worden wären und dass ihre Karrieren sich in seiner Amtszeit auf eine ungewöhnlich positive Weise entwickelt hätten.

(305) Was die Bezugnahme der Regierung auf die angeblich politisch motivierte Verfolgung der politischen Gegner von Herrn Janukowytsch oder Euromaidan-Demonstranten angeht, so konnte nicht gezeigt werden, dass einer der Bf. in einen dieser angeblichen Übergriffe verwickelt gewesen wäre. [...]

(306) Der GH muss sich auch mit dem Argument der Regierung befassen, wonach die Maßnahmen durch das Lustrationsgesetz aufgrund des Notstands durch die Feindseligkeiten in den Regionen Donezk und Luhansk nicht stärker individualisiert hätten werden können. Der GH hält jedoch fest, dass die Erklärung der Ukraine unter Art. 15 EMRK, welche sie dem Generalsekretär des Europarats am 5.6.2015 übermittelte, nicht auf das Lustrationsgesetz als eine der von der Derogation umfassten Maßnahmen Bezug nimmt.

(307) [...] Die angeblich dringende Natur der Maßnahmen nach dem Lustrationsgesetz wird von dem Umstand widerlegt, dass sie auf die Bf. nicht auf provisorischer oder temporärer Basis angewendet wurden, sondern für zehn Jahre. Auch unter der Annahme, dass gewisse Veränderungen beim Personal dringlich waren, gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Situation während der betreffenden Periode so labil geblieben wäre, dass sie eine detaillierte Überprüfung der offiziellen Rolle jedes Individuums und auf Basis einer solchen Überprüfung die schrittweise Rücknahme ursprünglich dringender Maßnahmen in einem späteren Stadium verhindert hätte.

(308) Letztlich wurden die Bf. aus dem öffentlichen Dienst entlassen und wurden Informationen darüber öffentlich verfügbar gemacht, noch bevor sie eine Überprüfung solcher Maßnahmen erhalten konnten. Auch das ex post facto-Rechtsmittel, das den Bf. offen stand, wies eine exzessive Verzögerung auf. Als Ergebnis davon dauerten die Verfahren bislang bereits fast die Hälfte der zehnjährigen Periode, für die sie vom öffentlichen Dienst und gewissen weiteren Beschäftigungen im öffentlichen Sektor ausgeschlossen waren.

Der ViertBf.

(310) Der ViertBf. wurde entlassen und restriktiven Maßnahmen nach dem Lustrationsgesetz unterworfen, weil er seine Lustrationserklärung vier Tage zu spät eingereicht hatte.

(311) Es ist unklar, ob der Bf., wenn er seine Erklärung innerhalb der Frist eingereicht hätte, trotzdem den Maßnahmen nach dem Lustrationsgesetz unterworfen worden wäre. Es scheint, dass dies der Fall gewesen wäre, da er seine Position in der Steuerbehörde zwischen 2010 und 2014 innehatte. Die Stellungnahme der Regierung [...] weist darauf hin, dass sie der Ansicht war, der ViertBf. wäre wie die ersten drei Bf. ein Beamter, der mit der Regierung von Präsident Janukowytsch in Verbindung stand, und das Lustrationsgesetz wäre deshalb auf ihn anzuwenden. [...]

(312) Wenn die Entlassung und Anwendung der anderen Maßnahmen des Lustrationsgesetzes auf ihn daher auf seiner Verbindung mit der Amtszeit von Präsident Viktor Janukowytsch basierte, sind die oben dargelegten Erwägungen zu den ersten drei Bf. auch für den ViertBf. heranzuziehen.

(313) Wenn der Bf. den Maßnahmen nach dem Lustrationsgesetz lediglich wegen der um vier Tage verspäteten Einreichung seiner Erklärung unterworfen wurde, obwohl die Maßnahmen ansonsten auf ihn nicht angewendet worden wären, kann der GH nicht erkennen, wie derart schwerwiegende Maßnahmen als verhältnismäßig zur trivialen Natur der Unterlassung des Bf. angesehen werden konnten. [...] Die Situation des Bf. war insofern besonders, als er zu dem Zeitpunkt, als die Eingabefrist ablief, krank war. Es wurde kein Argument vorgebracht, wonach diese Verzögerung und die Einreichung der Erklärung am Tag nach dem Verlassen des Krankenhauses irgendwelche Probleme im Zusammenhang mit dem allgemeinen Überprüfungsverfahren verursacht hätten.

(314) [...] Im vorliegenden Fall existierte kein Hinweis, dass es in der Karriere des ViertBf. unbekannte Tatsachen gegeben hätte, welche durch die Erklärung enthüllt werden hätten können. Es ist unbestritten, dass der einzig mögliche Grund für die Anwendung des Lustrationsgesetzes auf den Bf. der Umstand war, dass er zwischen 2010 und 2014 seine Position in der Steuerbehörde innehatte – ein Umstand, der seinem Arbeitgeber, bei dem die Erklärung eingereicht wurde, [...] wohl bekannt war. So gesehen war die Verpflichtung, eine Erklärung einzureichen, im vorliegenden Fall von den Situationen zu unterscheiden, in denen eine solche Verpflichtung darauf abzielte, gewisse möglicherweise verborgene Tatsachen zu enthüllen wie etwa eine geheime Kollaboration mit den Geheimdiensten von früheren totalitären Regimen [...].

(315) Deshalb kann der GH nicht erkennen, wie die Verhängung einer derartig schwerwiegenden restriktiven Maßnahme für eine geringfügige Verzögerung bei der Einreichung einer solchen technischen Erklärung als »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« angesehen werden konnte.

Der FünftBf.

(316) Der GH hat lange festgehalten, dass der Zeitpunkt der Annahme und Umsetzung von postkommunistischen Lustrationsmaßnahmen eine Schlüsselüberlegung bei der Beurteilung ihrer Verhältnismäßigkeit ist. [...]

(317) In Adamsons/LV betonte der GH als eines der Kernprinzipien in seiner Rechtsprechung im Hinblick auf Lustration, dass die Lustrationsmaßnahmen ihrer Natur nach temporär sind und dass die objektive Notwendigkeit für die Beschränkung von Individualrechten aufgrund dieses Verfahrens mit der Zeit abnimmt. [...]

(320) Im vorliegenden Fall wurden die Lustrationsmaßnahmen mehr als 23 Jahre nach dem Übergang der Ukraine von der totalitären kommunistischen Herrschaft zur Demokratie erlassen und angewendet. Dazu kommt noch, dass sie sich nicht gegen einen angeblichen KGB-Agenten, sondern gegen einen früheren Funktionär in der Kommunistischen Partei der UkrSSR richteten, und zwar ohne irgendeinen Hinweis darauf, dass seine Tätigkeiten in dieser Partei mit irgendwelchen Menschenrechtsverletzungen oder speziellen antidemokratischen Aktivitäten in Verbindung standen. Die obigen Erwägungen finden daher ebenso und a fortiori im vorliegenden Fall Anwendung. Die Anwendung von restriktiven Maßnahmen von solcher Schwere auf Personen, die Positionen in der Kommunistischen Partei der früheren Sowjetunion und der UkrSSR innehatten, ohne irgendeinen Hinweis auf konkretes Fehlverhalten von ihrer Seite und nach einer so langen Zeitspanne verlangt eine sehr starke Rechtfertigung.

(321) Der GH stellt fest, dass die ukrainischen Behörden es verabsäumten, im Hinblick auf Personen, die in der Kommunistischen Partei lediglich vor 1991 gewisse Positionen innehatten, zwingende Gründe vorzubringen, um die Lustration zu rechtfertigen [...]. Die Stellungnahme der Regierung und die innerstaatlichen Entscheidungen blieben zu diesem Punkt praktisch stumm.

(322) Der GH befindet, dass die Unverhältnismäßigkeit der Lustrationsmaßnahme im Fall des FünftBf. besonders ausgeprägt ist. Es wurde kein ernstzunehmendes Argument vorgebracht, wonach der Bf., ein Beamter der lokalen Verwaltung im Bereich der Landwirtschaft, auf vorstellbare Weise eine Bedrohung für das neu errichtete demokratische Regime darstellen konnte. Die innerstaatlichen Behörden zeigten totale Missachtung für seine Rechte.

Ergebnis

(323) Zusammengefasst wurde nicht gezeigt, dass der Eingriff im Hinblick auf irgendeinen der Bf. in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

(324) Es kam dementsprechend zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK im Hinblick auf alle Bf. (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 5.000,– für immateriellen Schaden an jeden der Bf., € 1.5oo,– an den ErstBf. bzw. je € 300,– an den Zweit- bis FünftBf. für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Sidabras und Džiautas/LT v. 27.7.2004 = NL 2004, 193

Ždanoka/LV v. 16.3.2006 (GK) = NL 2006, 78

Matyjek/PL v. 24.4.2007

Adamsons/LV v. 24.6.2008 = NL 2008, 161

Naidin/RO v. 21.10.2014

Anchev/BG v. 5.12.2017 (ZE) = NLMR 2017, 235

Denisov/UA v. 25.9.2018 (GK) = NLMR 2018, 446

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.10.2019, Bsw. 58812/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 410) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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