JudikaturJustizBsw54012/10

Bsw54012/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
08. Juli 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Mihalache gg. Rumänien, Urteil vom 8.7.2019, Bsw. 54012/10.

Spruch

Art. 4 7. Prot. EMRK - Strafrechtliche Verurteilung nach Aufhebung einer mit Geldstrafe verbundenen Verfahrenseinstellung.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden, € 470,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Der Bf. wurde in der Nacht vom 2. zum 3.5.2008 bei einer Autofahrt von der Polizei aufgehalten. Nachdem ein Alkoholtest anhand der Atemluft positiv zu sein schien, forderten ihn die Beamten auf, sie zum Zweck der Abnahme einer Blutprobe in ein Krankenhaus zu begleiten. Dies wurde vom Bf. jedoch verweigert.

Daraufhin wurde ein Strafverfahren wegen der Verweigerung der Abgabe einer Blutprobe eingeleitet. Der zuständige Staatsanwalt des Amtsgerichts Focsani entschied am 7.8.2008, das Strafverfahren gemäß Art. 10 und 11 der rumänischen StPO iVm. Art. 91 des rumänischen StGB einzustellen. Begründend führte er aus, die Tat hätte die vom Gesetz geschützten Rechtsgüter nur geringfügig beeinträchtigt und nicht den einer Straftat eigenen Grad der Gefährdung der Gesellschaft erreicht. Zugleich wurde über den Bf. eine Geldbuße in der Höhe von umgerechnet ca. € 250,– verhängt, die er umgehend beglich.

Am 7.1.2009 wurde von der Staatsanwaltschaft des Landgerichts Vrancea als übergeordneter Behörde die Entscheidung vom 7.8.2008 von Amts wegen aufgehoben und die Rechtssache zur Durchführung eines Strafverfahrens an die Staatsanwaltschaft des Amtsgerichts Focsani zurückverwiesen. Nach Ansicht der übergeordneten Staatsanwaltschaft waren die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Einstellung des Strafverfahrens angesichts der Schwere der mit der Tat verbundenen Gefährdung nicht gegeben gewesen.

Mit Urteil vom 18.11.2009 wurde der Bf. wegen der Verweigerung der Abgabe einer Blutprobe zu einer einjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die bedingt nachgesehen wurde. Die dagegen erhobene Berufung wies das Landgericht Vrancea am 10.2.2010 ab. Seine Nichtigkeitsbeschwerde wurde am 14.6.2010 vom Berufungsgericht Galati abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK (Doppelbestrafungsverbot), weil er wegen derselben Straftat zweimal strafrechtlich verfolgt und bestraft worden sei.

Zulässigkeit

(46) Die Beschwerde wirft [...] komplexe Sach- und Rechtsfragen auf und kann daher nicht als offensichtlich unbegründet [...] zurückgewiesen werden. Da sie [...] auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK

(48) [...] Art. 4 7. Prot. EMRK [...] garantiert, dass niemand in einem Strafverfahren wegen einer Straftat verfolgt oder bestraft wird, wegen der er bereits rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen wurde. Der Aspekt der Wiederholung des Verfahrens oder der Bestrafung ist zentral für das von Art. 4 7. Prot. EMRK angesprochene rechtliche Problem.

(49) [...] Der Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 7. Prot. EMRK nennt die drei Komponenten des Grundsatzes des ne bis in idem: die beiden Verfahren müssen einen strafrechtlichen Charakter aufweisen (1), sie müssen dieselben Tatsachen betreffen (2) und es muss eine Verdopplung des Verfahrens vorliegen (3). [...]

Hatte das zur Entscheidung vom 7.8.2008 führende Verfahren einen strafrechtlichen Charakter?

(50) [...] Mit der Anordnung vom 7.8.2008 stellte die Staatsanwaltschaft das gegen den Bf. wegen der Verweigerung der Abgabe einer Blutprobe zur Bestimmung seiner Alkoholisierung eingeleitete Strafverfahren mit der Feststellung ein, die Handlungen würden keine Straftat darstellen. Allerdings wurde mit derselben Anordnung [...] eine Geldbuße verhängt, die von der StPO als »administrativ« bezeichnet wird. Um zu bestimmen, ob der Bf. »bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen« wurde, muss als Erstes entschieden werden, ob dieses Verfahren iSv. Art. 4 7. Prot. EMRK eine »strafrechtliche« Angelegenheit betraf.

(54) Der GH erinnert daran, dass der Begriff der »strafrechtlichen Anklage« iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK ein autonomer ist. Seine ständige Rechtsprechung legt drei Kriterien für die Entscheidung dar, ob eine »strafrechtliche Anklage« vorlag, die allgemein als Engel-Kriterien bekannt sind. Das erste Kriterium ist die rechtliche Klassifikation der Straftat im innerstaatlichen Recht, das zweite der Charakter der Straftat und das dritte der Schweregrad der Strafe, die der betroffenen Person droht. Das zweite und das dritte Kriterium sind alternativ und nicht unbedingt kumulativ anzuwenden. Dies schließt jedoch einen kumulativen Zugang nicht aus, wenn eine gesonderte Analyse jedes einzelnen Kriteriums keine klare Schlussfolgerung über das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage zulässt.

Rechtliche Klassifikation der Straftat im innerstaatlichen Recht

(58) [...] Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren gegen den Bf. mit Anordnung vom 7.8.2008 mit der Begründung ein, dass seine Handlungen, obwohl sie unter das Strafrecht fielen, keine Straftat begründen würden. Sie verhängte eine Verwaltungsstrafe gegen ihn. Die Klassifikation im innerstaatlichen Recht ist allerdings nur ein Ausgangspunkt und die von ihr gebotenen Hinweise haben nur einen formalen und relativen Wert. Der GH wird daher den tatsächlichen Charakter der innerstaatlichen Bestimmung, auf der die über den Bf. verhängte Sanktion beruhte, und deren Schwere genauer analysieren.

Tatsächlicher Charakter der anwendbaren Bestimmung

(59) Seinem Charakter nach verfolgte [...] der Tatbestand der Verweigerung der Abgabe einer Blutprobe zur Bestimmung der Alkoholisierung [...] Ziele [...] wie den Schutz des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, Gesundheit und legitimen Rechte und Interessen von Verkehrsteilnehmern, den Schutz öffentlichen und privaten Eigentums und der Umwelt – Werte, die in den Bereich des Schutzes durch das Strafrecht fallen. Die Vorschriften [...] waren [...] auf alle Verkehrsteilnehmer anwendbar und nicht nur auf eine Gruppe mit einem speziellen Status. Die für die Begehung der Straftat [...] festgelegte Strafe war schwer – zwischen zwei und sieben Jahren Freiheitsstrafe – und sie zielte auf die Bestrafung und Prävention eines Verhaltens ab, das geeignet war, die gesetzlich geschützten gesellschaftlichen Werte zu untergraben.

(60) Der GH erachtet es auch als wichtig festzustellen, dass die dem Bf. vorgeworfenen Handlungen, obwohl sie in der Anordnung vom 7.8.2008 nicht als Straftat angesehen wurden, dennoch in den Anwendungsbereich einer strafrechtlichen Bestimmung fielen. Die Tatsache, dass die strafbaren Handlungen, derer der Bf. angeklagt wurde, anfänglich angesichts der mit ihnen einhergehenden geringfügigen Beeinträchtigung eines der strafrechtlich geschützten Werte [...] als offensichtlich unerheblich angesehen wurden, schließt für sich alleine ihre Klassifikation als »strafrechtlich« im autonomen Sinne [...] nicht aus. Denn nichts in der EMRK deutet darauf hin, dass der strafrechtliche Charakter einer Straftat iSd. Engel-Kriterien unbedingt einen bestimmten Schweregrad verlangt. Zudem wurden dieselben Taten im zweiten Verfahren als strafbare Handlungen qualifiziert. Der GH akzeptiert, dass die rechtliche Bestimmung, auf deren Grundlage die Staatsanwaltschaft den Bf. mit der Anordnung vom 7.8.2008 verfolgte und bestrafte, ihrem Charakter nach strafrechtlich war.

Schweregrad der Sanktion

(61) Der Schweregrad der Sanktion ist im Bezug auf die Höchststrafe zu bestimmen, die das einschlägige Gesetz vorsieht. [...]

(62) [...] Art. 87 Abs. 5 der Verordnung Nr. 195/2002 sah vor, dass Handlungen, die den Tatbestand der Verweigerung der Abgabe einer Blutprobe zur Bestimmung der Alkoholisierung erfüllten, mit zwei bis sieben Jahren Freiheitsstrafe zu ahnden waren. Obwohl die Staatsanwaltschaft nicht der Ansicht war, dass die fraglichen Handlungen ein Delikt iSd. Strafrechts darstellten, musste sie nach dem Gesetz eine Strafe verhängen, wenn sie das Verfahren nach Art. 18 StGB einstellte. Dem Bf. wurde eine Geldbuße von [...] ca. € 250,– auferlegt. Dies entsprach dem Höchstbetrag, der [...] verhängt werden konnte. Auch wenn das StGB diese Sanktion als »administrativ« bezeichnete, bestand der Zweck der Geldbuße nicht darin, den vom Bf. verursachten Schaden wiedergutzumachen, sondern ihn zu bestrafen und von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten. Obwohl das innerstaatliche Recht die verhängte Sanktion als »administrativ« bezeichnet, hat sie folglich einen punitiven und abschreckenden Zweck und kommt daher einer strafrechtlichen Sanktion gleich.

Schlussfolgerung betreffend den Charakter des mit Anordnung vom 7.8.2008 abgeschlossenen Verfahrens

(63) Der GH gelangt [...] zu dem Schluss, dass der Charakter der Straftat, wegen der der Bf. verfolgt wurde, und die über ihn verhängte Strafe das zur Anordnung vom 7.8.2008 führende Verfahren mit dem Begriff des »Strafverfahrens« iSv. Art. 4 7. Prot. EMRK verbinden.

(64) Zudem steht außer Zweifel, dass die Verurteilung des Bf. durch das Urteil des Berufungsgerichts Galati [...] zu einem Jahr Haft, die bedingt nachgesehen wurde, eine strafrechtliche Sanktion war. Da die vom Bf. beschriebenen Verfahren ihrem Charakter nach strafrechtlich waren, ist das erste Kriterium für die Anwendbarkeit von Art. 4 7. Prot. EMRK erfüllt.

Wurde der Bf. zweimal wegen derselben Straftat verfolgt (idem)?

(67) In Sergey Zolotukhin/RUS stellte der GH fest, dass Art. 4 7. Prot. EMRK die Verfolgung oder Anklage einer zweiten »strafbaren Handlung« verbietet, wenn diese auf identischen Tatsachen oder auf Tatsachen beruht, die im Wesentlichen dieselben sind. Dieser auf den Sachverhalt abstellende Zugang wurde vom GH in späteren Fällen ausdrücklich bekräftigt.

(68) Im vorliegenden Fall [...] wurde der Bf. aufgrund der Anordnung vom 7.8.2008 und dem rechtskräftigen Urteil des Berufungsgerichts Galati vom 14.6.2010 für schuldig befunden, in der Nacht vom 2. zum 3.5.2008 nach einer polizeilichen Verkehrskontrolle einen Bluttest zur Bestimmung der Alkoholisierung verweigert zu haben, und er wurde für dieses Delikt bestraft. Insofern als die beiden oben genannten Entscheidungen dieselben Handlungen und dieselben Vorwürfe betrafen, wurde der Bf. tatsächlich zwei Mal wegen derselben strafbaren Handlung verfolgt und bestraft.

Gab es eine Verdopplung der Verfahren (bis)?

(81) [...] Das Ziel von Art. 4 7. Prot. EMRK besteht darin, die Wiederholung eines Strafverfahrens zu verbieten, das durch eine endgültige Entscheidung abgeschlossen wurde.

Vorbemerkungen zur Komplementarität der beiden Verfahren

(82) Der GH erachtet es als sinnvoll, zunächst zu prüfen, ob der vorliegende Sachverhalt auf ein »doppeltes« Verfahren mit einer ausreichend engen Verknüpfung hinweist, da sich die Frage, ob eine Entscheidung »endgültig« ist oder nicht, erübrigt, wenn es keine wirkliche Verdopplung des Verfahrens gibt, sondern eher eine Kombination von Verfahren, die als integriertes Ganzes anzusehen sind.

(83) [...] Im Fall A. und B./N wurde vom GH der Grundsatz eines »ausreichend engen inhaltlichen und zeitlichen Zusammenhangs« zwischen Verfahren bekräftigt und weiterentwickelt: Wenn es dieser Zusammenhang erlaubt, die beiden Verfahren nach dem fraglichen innerstaatlichen Recht als Teil eines integrierten Schemas von Sanktionen anzusehen, liegt keine Verdopplung des Verfahrens vor, sondern eher eine mit Art. 4 7. Prot. EMRK vereinbare Kombination von Verfahren.

(84) Im vorliegenden Fall wurde der Bf. in »beiden« Verfahren wegen einer einzigen Straftat verfolgt, die nach einer einzigen rechtlichen Bestimmung strafbar war [...]. Die Verfahren und die zwei über den Bf. verhängten Sanktionen verfolgten denselben generellen Zweck der Verhinderung von Verhaltensweisen, die die Verkehrssicherheit gefährden. Das gesamte »erste« Verfahren und der erste Teil des »zweiten« Verfahrens wurden von derselben Behörde durchgeführt, nämlich der Staatsanwaltschaft des Amtsgerichts Focsani, und in beiden Verfahren wurden dieselben Beweise verwendet. Die beiden verhängten Sanktionen wurden im vorliegenden Fall nicht kombiniert: jede der beiden Sanktionen war abhängig davon zu verhängen, ob die Strafverfolgungsbehörden die Tatsachen als den strafrechtlichen Tatbestand erfüllend qualifizierten. Die »beiden« Verfahren fanden nacheinander statt und wurden nie parallel geführt.

(85) Angesichts dieser Faktoren findet der GH [...], dass die beiden Verfahren nicht [...] »inhaltlich und zeitlich ausreichend eng« miteinander verbunden [waren], um nach Art. 4 7. Prot. EMRK mit dem Kriterium des »bis« vereinbar zu sein.

(86) Um zu entscheiden, ob es im vorliegenden Fall zu einer Verdopplung des Verfahrens (»bis«) iSv. Art. 4 7. Prot. EMRK gekommen ist, wird der GH weiters prüfen, ob die Anordnung des Staatsanwalts vom 7.8.2008 eine »endgültige« Entscheidung darstellt, mit der der Bf. »verurteilt oder freigesprochen« wurde. Gegebenenfalls muss der GH feststellen, ob die Entscheidung des übergeordneten Staatsanwalts vom 7.1.2009 von der in Art. 4 Abs. 2 7. Prot. EMRK vorgesehenen Ausnahme gedeckt war und somit eine mit Art. 4 7. Prot. EMRK vereinbare Wiederaufnahme darstellte.

Stellte die Anordnung vom 7.8.2008 einen endgültigen Freispruch oder eine endgültige Verurteilung dar?

(89) Der GH muss im vorliegenden Fall in erster Linie entscheiden, ob die Anordnung vom 7.8.2008 tatsächlich einen Freispruch oder eine Verurteilung darstellte. Wenn dies der Fall ist, muss er sich vergewissern, ob die Anordnung eine »endgültige« Entscheidung [...] war. Um diese Fragen zu beantworten, muss er eine breitere Analyse von Art. 4 7. Prot. EMRK im Lichte seiner Rechtsprechung vornehmen.

Zu den Begriffen des »Freispruchs« und der »Verurteilung«

(93) Bevor er den Inhalt dieser Begriffe im Detail darlegt, erachtet es der GH als sinnvoll zu überlegen, ob ein gerichtliches Einschreiten im Verfahren notwendig ist, damit eine Entscheidung als »Freispruch« oder als »Verurteilung« angesehen werden kann.

(94) Der GH [...] bemerkt einen Unterschied im Wortlaut des englischen und des französischen Texts von Art. 4 7. Prot. EMRK: Die französische Fassung sieht vor, dass die betroffene Person »acquitté ou condamné par un jugement« worden sein muss, während die englische Fassung [...] besagt, dass die Person »finally acquitted or convicted« worden sein muss. Die französische Version deutet somit darauf hin, dass sich der Freispruch oder die Verurteilung aus einem »jugement« ergeben muss, während die englische Version nicht näher ausführt, welche Form der Freispruch oder die Verurteilung annehmen soll. Der GH, der somit mit zwei Versionen eines rechtssetzenden Vertrags konfrontiert ist, die beide gleichermaßen authentisch sind aber nicht exakt übereinstimmen, muss diese in einer Art und Weise interpretieren, die sie so weit wie möglich miteinander in Einklang bringt und am angemessensten ist, um das Ziel des Vertrags zu verwirklichen.

(95) Angesichts der zentralen Rolle, die Art. 4 7. Prot. EMRK im Konventionssystem spielt, und des Ziels des von ihm garantierten Rechts kann die Verwendung des Worts »jugement« in der französischen Fassung dieses Artikels einen restriktiven Zugang zum Begriff einer Person, die »freigesprochen oder verurteilt« wurde, nicht rechtfertigen. Es kommt vielmehr in jedem konkreten Fall darauf an, ob die fragliche Entscheidung von einer Behörde erlassen wurde, die im jeweiligen innerstaatlichen Rechtssystem an der Rechtspflege teilhat und ob diese Behörde nach dem innerstaatlichen Recht dafür zuständig ist, das der betroffenen Person vorgeworfene unrechtmäßige Verhalten festzustellen und gegebenenfalls zu bestrafen. Die Tatsache, dass die Entscheidung nicht in Form eines Urteils ergeht, kann den Freispruch oder die Verurteilung der Person nicht in Frage stellen, da ein solcher prozessualer und formaler Aspekt keinen Einfluss auf die Wirkung der Entscheidung haben kann. Die englische Fassung von Art. 4 7. Prot. EMRK unterstützt diese breite Auslegung des Begriffs. [...]

Dementsprechend erachtet der GH ein gerichtliches Einschreiten nicht als notwendig für das Vorliegen einer Entscheidung.

(96) Der GH hat in seiner Rechtsprechung bis heute nie den Anwendungsbereich des Ausdrucks »verurteilt oder freigesprochen« definiert oder diesbezüglich irgendwelche generellen Kriterien dargelegt. Allerdings hat er bei vielen Gelegenheiten festgestellt, dass die Einstellung eines Strafverfahrens durch einen Staatsanwalt weder eine Verurteilung noch einen Freispruch darstellt und dass Art. 4 7. Prot. EMRK daher in einer solchen Situation nicht anwendbar ist. [...]

(97) Um zu bestimmen, ob eine bestimmte Entscheidung einen »Freispruch« oder eine »Verurteilung« darstellt, hat der GH daher den tatsächlichen Inhalt der fraglichen Entscheidung berücksichtigt und ihre Auswirkungen auf die Situation des Bf. eingeschätzt. [...] Die bewusste Wahl der Worte »verurteilt oder freigesprochen« deutet darauf hin, dass die »strafrechtliche« Verantwortlichkeit des Angeklagten nach einer Beurteilung der Umstände des Falls festgestellt wurde, dass mit anderen Worten eine Entscheidung in der Sache ergangen ist. Damit eine solche Einschätzung stattgefunden hat, ist es von zentraler Bedeutung, dass die entscheidende Behörde vom innerstaatlichen Recht mit der Kompetenz ausgestattet ist, die ihr eine Prüfung in der Sache gestattet. Die Behörde muss dann die Beweise im Akt [...] beurteilen und die Beteiligung des Bf. an den Ereignissen einschätzen, die zum Einschreiten der Ermittlungsbehörden geführt haben, um zu bestimmen, ob eine »strafrechtliche« Verantwortlichkeit begründet wurde.

(98) Die Feststellung, dass es eine Beurteilung der Umstände des Falls und der Schuld oder Unschuld des Angeklagten gegeben hat, kann daher vom Fortschritt des Verfahrens in einem konkreten Fall unterstützt werden. Wenn eine strafrechtliche Ermittlung eingeleitet wurde, nachdem eine Beschuldigung gegen die fragliche Person erhoben wurde, das Opfer befragt wurde, die Beweise von der zuständigen Behörde gesammelt und geprüft wurden und eine begründete Entscheidung auf der Grundlage dieser Beweise ergangen ist, führen solche Faktoren wahrscheinlich zur Feststellung, dass eine Entscheidung in der Sache erfolgt ist. Wenn von der zuständigen Behörde eine Sanktion aufgrund des der betroffenen Person zugeschriebenen Verhaltens angeordnet wurde, kann vernünftigerweise davon ausgegangen werden, dass die zuständige Behörde zuvor eine Einschätzung der Umstände des Falls und darüber vorgenommen hat, ob das Verhalten der betroffenen Person rechtmäßig war.

(99) Was die Umstände des vorliegenden Falls betrifft, bemerkt der GH zunächst, dass die Staatsanwaltschaft des Amtsgerichts Focsani in ihrer Anordnung vom 7.8.2008 das Strafverfahren gegen den Bf. einstellte, während sie zugleich eine Verwaltungsstrafe wegen der von ihm begangenen Taten verhängte. Dies war daher keine einfache Einstellungsverfügung, auf die Art. 4 7. Prot. EMRK ohne Zweifel nicht anwendbar gewesen wäre.

(100) Im vorliegenden Fall war die Staatsanwaltschaft nach innerstaatlichem Recht aufgerufen, an der Rechtspflege mitzuwirken. Der Staatsanwalt war dafür zuständig, die dem Bf. vorgeworfenen Handlungen zu untersuchen und Zeugen sowie den Verdächtigen zu diesem Zweck zu befragen. In weiterer Folge wandte er die einschlägigen materiellen Regeln des innerstaatlichen Rechts an. Er musste einschätzen, ob die Voraussetzungen dafür erfüllt waren, die dem Bf. vorgeworfenen Handlungen als Straftaten anzusehen. Auf der Grundlage der gewonnenen Beweise nahm der Staatsanwalt seine eigene Beurteilung aller Umstände des Falls vor [...]. Nach der Vornahme dieser Einschätzung entschied der Staatsanwalt, wiederum seinen ihm nach innerstaatlichem Recht eingeräumten Befugnissen entsprechend, die Strafverfolgung einzustellen und zugleich eine Sanktion zu verhängen, die einen punitiven und abschreckenden Zweck verfolgte. Die verhängte Sanktion wurde mit Ablauf der Frist für eine Berufung des Bf. [...] vollstreckbar.

(101) Unter Berücksichtigung der vom Staatsanwalt durchgeführten Ermittlung und der ihm vom innerstaatlichen Recht eingeräumten Befugnisse, den ihm vorliegenden Fall zu entscheiden, betraf die Einschätzung des Staatsanwalts im vorliegenden Fall nach Ansicht des GH sowohl die Umstände als auch die Feststellung der »strafrechtlichen« Verantwortlichkeit des Bf. Unter weiterer Berücksichtigung der Tatsache, dass über den Bf. eine abschreckende und punitive Sanktion verhängt wurde, brachte die Anordnung vom 7.8.2008 seine »Verurteilung« im materiellen Sinn des Begriffs mit sich. Angesichts der Wirkungen der Verurteilung auf die Situation des Bf. kann die Tatsache, dass in seinem Fall kein Gericht eingeschritten ist, nichts an dieser Schlussfolgerung ändern.

Zur Endgültigkeit der Anordnung vom 7.8.2008

(102) [...] Art. 4 7. Prot. EMRK [...] enthält einen ausdrücklichen Verweis auf das Recht des Staates, der die fragliche Entscheidung erlassen hat.

(103) [...] Bei der Entscheidung, was in ihm vorliegenden Fällen die »endgültige« Entscheidung war, hat sich der GH [...] stets auf das im Erläuternden Bericht zum 7. Protokoll dargelegte Kriterium bezogen und festgestellt, dass eine Entscheidung ungeachtet ihrer Charakterisierung nach innerstaatlichem Recht nach der Ausschöpfung der »ordentlichen« Rechtsmittel oder dem Ablauf der im innerstaatlichen Recht für deren Erhebung vorgesehenen Frist »endgültig« war. Rechtsmittel, die vom GH als »außerordentlich« bezeichnet wurden, werden bei der Bestimmung der »endgültigen« Entscheidung im Hinblick auf Art. 4 7. Prot. EMRK nicht berücksichtigt. Mit anderen Worten hat der GH bei der Durchführung seiner Prüfung nicht automatisch die im innerstaatlichen Recht verwendete Einordnung berücksichtigt, wenn er entschied, ob eine Entscheidung »endgültig« ist oder nicht. Er hat vielmehr seine eigene Einschätzung der »endgültigen« Natur einer Entscheidung unter Verweis auf die den Parteien zur Verfügung stehenden »ordentlichen« Rechtsmittel vorgenommen.

(110) Wo das innerstaatliche Recht die Verwendung eines bestimmten Rechtsmittels verlangt, bevor eine Entscheidung als endgültig angesehen werden kann, hat der GH eine Unterscheidung zwischen »ordentlichen« und »außerordentlichen« Rechtsmitteln getroffen. Dabei hat er unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände des Einzelfalls Faktoren wie die Zugänglichkeit eines Rechtsmittels für die Parteien oder das den befugten Beamten vom innerstaatlichen Recht eingeräumte Ermessen hinsichtlich der Verwendung des Rechtsmittels berücksichtigt. [...] Bei der Bestimmung der »endgültigen Natur« einer Entscheidung für die Zwecke des Art. 4 7. Prot. EMRK hat der GH nur »ordentliche Rechtsmittel« berücksichtigt.

(111) Der GH möchte die Bedeutung hervorheben, die er kürzlich im Fall A. und B./N dem Kriterium der Vorhersehbarkeit der Anwendung des Rechts insgesamt als Voraussetzung dafür beigemessen hat anzuerkennen, dass »duale« Verfahren nach dem innerstaatlichen Recht Teil eines integrierten Schemas darstellen, ohne iSv. Art. 4 7. Prot. EMRK zu einer Verdopplung des Verfahrens (»bis«) zu führen. Dieses Kriterium gilt gleichermaßen für den »endgültigen« Charakter einer Entscheidung als Voraussetzung für die Anwendung der in diesem Artikel vorgesehenen Garantie.

(112) In diesem Kontext muss der GH feststellen, dass die Anforderung der Rechtmäßigkeit [...] nicht nur das Bestehen einer rechtlichen Grundlage im innerstaatlichen Recht betrifft, sondern auch eine dem autonomen Konzept der Rechtmäßigkeit innewohnende Qualitätsanforderung [...].

(114) [...] Der GH muss bis zu einem gewissen Grad den Ausdruck »endgültig« autonom auslegen, wo dies durch vernünftige Gründe gerechtfertigt ist, so wie er dies bei der Feststellung tut, ob die rechtliche Einordnung der Straftat vom Begriff des »Strafverfahrens« erfasst ist (siehe oben Rn. 54).

(115) Um zu entscheiden, ob eine Entscheidung iSv. Art. 4 7. Prot. EMRK »endgültig« ist, muss festgestellt werden, ob sie einem »ordentlichen Rechtsmittel« unterliegt. Bei der Feststellung der »ordentlichen« Rechtsmittel in einem bestimmten Fall wird der GH das innerstaatliche Recht und Verfahren als Ausgangspunkt heranziehen. Das innerstaatliche Recht [...] muss dem Grundsatz der Rechtssicherheit genügen [...]. Ein Rechtsmittel [...] muss auf eine Art und Weise funktionieren, die Klarheit darüber bringt, zu welchem Zeitpunkt eine Entscheidung endgültig wird. Der GH bemerkt in diesem Kontext insbesondere, dass die Anforderung einer Frist, damit ein Rechtsmittel als ordentlich angesehen werden kann, dem Wortlaut des Erläuternden Berichts selbst zu entnehmen ist [...]. Ein Gesetz, das einer der Parteien ein unbegrenztes Ermessen einräumt, von einem bestimmten Rechtsmittel Gebrauch zu machen, oder das ein solches Rechtsmittel Voraussetzungen unterwirft, die ein wesentliches Ungleichgewicht zwischen den Parteien in ihrer Fähigkeit, davon Gebrauch zu machen, offenbart, würde dem Prinzip der Rechtssicherheit widersprechen.

(116) Die EMRK erlaubt es den Staaten ohne Zweifel [...] zu definieren, was nach ihrem innerstaatlichen Recht eine Entscheidung darstellt, mit der ein Strafverfahren mit endgültiger Wirkung beendet wird. Wenn die Vertragsstaaten allerdings nach Belieben und ohne einer Kontrolle durch den GH unterworfen zu sein bestimmen könnten, ob eine Entscheidung iSv. Art. 4 7. Prot. EMRK endgültig ist, wäre die Anwendung dieses Artikels in ihr Ermessen gestellt. Ein so großer Spielraum könnte zu Ergebnissen führen, die mit dem Zweck und Ziel der Konvention [...] unvereinbar sind. Wäre dieses Recht nicht von einer Garantie begleitet, die eine Bestimmung der »endgültigen Entscheidung« in einem konkreten Fall anhand objektiver Kriterien erlaubt, hätte es einen sehr eingeschränkten Anwendungsbereich. Die Bestimmungen des Art. 4 7. Prot. EMRK müssen jedoch in einer Art und Weise ausgelegt und angewendet werden, die ihre Rechte praktisch und effektiv machen und nicht theoretisch und illusorisch.

(117) Was den Sachverhalt des vorliegenden Falls betrifft, stellt der GH zunächst fest, dass die Anordnung der Staatsanwaltschaft vom 7.8.2008 [...] nach rumänischem Recht keine res iudicata begründen konnte, weil dieses Konzept nur für gerichtliche Entscheidungen gilt. Da die Anordnung der Überprüfung durch die übergeordnete Staatsanwaltschaft unterlag, war sie nach innerstaatlichem Recht auch nicht endgültig.

(118) Erstens sah Art. 249 StPO vor, dass eine [solche] Anordnung [...] binnen 20 Tagen ab der Zustellung an die betroffene Person angefochten werden konnte. [...]

(119) [...] Das in Art. 249 StPO vorgesehene Rechtsmittel war für den Bf. direkt zugänglich [...]. Dieses Mittel zur Anfechtung der Anordnung des Staatsanwalts kommt daher einem »ordentlichen« Rechtsmittel iSd. Rechtsprechung des GH gleich und muss bei der Bestimmung der endgültigen Entscheidung im vorliegenden Fall berücksichtigt werden.

(120) Zweitens hatte die übergeordnete Staatsanwaltschaft [...] die Option, gemäß Art. 270 und 273 StPO [...] die Wiederaufnahme des Verfahrens anzuordnen. [...]

(121) Es bleibt zu prüfen, ob dieser Rechtsbehelf, mit dem die übergeordnete Staatsanwaltschaft die verhängte Strafe aufheben und die Wiederaufnahme des Verfahrens anordnen konnte, als »ordentliches« Rechtsmittel angesehen werden kann, das den Anforderungen der Rechtssicherheit genügt.

(122) In diesem Zusammenhang kann der GH den spezifischen Kontext des vorliegenden Falls nicht übersehen, der sich auf eine Phase des Strafverfahrens vor der Vorlage an ein Gericht bezieht. Angesichts der für die Arbeit von Staatsanwaltschaften bestimmenden Grundsätze und deren Rolle in der Anfangsphase eines Strafverfahrens ist es nicht unvernünftig, wenn eine höherrangige Staatsanwaltschaft im Kontext der hierarchischen Kontrolle von Amts wegen Entscheidungen der untergeordneten Staatsanwaltschaften prüft.

(123) Die der übergeordneten Staatsanwaltschaft zur Verfügung stehende Option umfasste die neuerliche Prüfung eines konkreten Falls auf der Grundlage derselben Tatsachen und Beweise, die der ursprünglichen Entscheidung der Staatsanwaltschaft [...], das Verfahren einzustellen, zu Grunde lagen.

(124) Im vorliegenden Fall verfolgten das der betroffenen Partei zur Verfügung stehende Rechtsmittel und jenes, das von der übergeordneten Staatsanwaltschaft ergriffen werden konnte [...], dasselbe Ziel der Anfechtung der Gültigkeit der über den Bf. mit der Anordnung [...] vom 7.8.2008 verhängten Sanktion. [...] Das Gesetz sah [...] unterschiedliche Bedingungen [...] vor: Während der Bf. dieses Rechtsmittel binnen 20 Tagen einbringen musste, galt für die übergeordnete Staatsanwaltschaft keine Frist für die Überprüfung einer Entscheidung. Der GH anerkennt, dass die Staatsanwaltschaft angesichts ihrer Befugnisse und ihrer Rolle in der Strafrechtspflege zu anderen Bedingungen bei der Durchführung ihrer Überprüfung berechtigt gewesen sein kann. Es bleibt aber die Tatsache bestehen, dass das rumänische Recht nicht mit ausreichender Klarheit regelte, wie dieses Rechtsmittel zu verwenden war, womit es eine wirkliche Unsicherheit hinsichtlich der rechtlichen Situation des Bf. schuf. Diese Diskrepanz führte zu einer wesentlichen Ungleichheit zwischen den Parteien in ihrer Fähigkeit, sich der fraglichen Rechtsmittel zu bedienen. Diese war von einer Art, die den Bf. in eine Situation der rechtlichen Unsicherheit versetzte.

(125) Die nach Art. 270 und 273 StPO [...] zur Verfügung stehende Option stellte daher kein »ordentliches« Rechtsmittel dar, das bei der Bestimmung der »endgültigen« Entscheidung zu berücksichtigen wäre. Im vorliegenden Fall unterlag die Anordnung vom 7.8.2008 [...] einem Rechtsmittel, das binnen 20 Tagen ab Zustellung an den Bf. zu erheben war. Der Bf. sah sich allerdings nicht dazu in der Lage, sich des in Art. 249 StPO vorgesehenen Rechtsmittels zu bedienen. [...] Er nahm [die Anordnung] zur Kenntnis, ließ die [...] Frist verstreichen und bezahlte die verhängte Geldbuße. Dem Bf. stand kein anderes ordentliches Rechtsmittel zur Verfügung. Folglich war die Anordnung vom 7.8.2008, mit der eine Geldbuße über den Bf. verhängt wurde, mit Ablauf der [...] Frist von 20 Tagen im autonomen Sinn des Begriffs »endgültig« geworden, als die übergeordnete Staatsanwaltschaft ihr Ermessen ausübte, das Strafverfahren wiederaufzunehmen.

Widersprach die Verdopplung des Verfahrens Art. 4 7. Prot. EMRK?

(127) [...] Auch wenn der Bf. nicht wegen derselben Tatsachen zweimal bestraft wurde – da die ursprünglich über ihn verhängte Sanktion aufgehoben wurde und er eine Rückerstattung der Geldbuße erlangen konnte –, betrifft der Fall doch zwei aufeinanderfolgende Strafverfahren, die sich auf dieselben Tatsachen bezogen und damit dem ersten Anschein nach mit Art. 4 Abs. 1 7. Prot. EMRK unvereinbar waren. Trotzdem kann eine solche Verdopplung von Verfahren mit Art. 4 7. Prot. EMRK vereinbar sein, wenn das zweite Verfahren die Wiederaufnahme eines Falls bedeutet und die mit der in Art. 4 Abs. 2 7. Prot. EMRK vorgesehenen Ausnahme verknüpften Voraussetzungen erfüllt sind.

(128) [...] Art. 4 Abs. 2 7. Prot. EMRK sieht ausdrücklich die Möglichkeit vor, dass eine Person die Strafverfolgung wegen derselben Vorwürfe akzeptieren muss [...], wenn ein Fall nach dem Hervorkommen neuer Beweise oder dem Entdecken eines schweren Mangels des vorangegangenen Verfahrens wiederaufgenommen wird. [...]

Voraussetzungen, die eine Wiederaufnahme erlauben

(133) [...] Wie die [ständige] Rechtsprechung des GH zeigt, beurteilt der GH anhand des Einzelfalls, ob die Umstände, auf die sich eine übergeordnete Instanz zur Wiederaufnahme des Verfahrens beruft, neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen oder einen schweren Mangel des vorangegangenen Verfahrens darstellen. Der Begriff des »schweren Mangels« iSv. Art. 4 Abs. 2 7. Prot. EMRK deutet darauf hin, dass nur eine ernste Verletzung einer prozessualen Vorschrift, die die Integrität des vorangegangenen Verfahrens untergräbt, als Grundlage für die Wiederaufnahme zum Nachteil des Angeklagten dienen kann, nachdem dieser freigesprochen oder wegen einer weniger schwerwiegenden als der vom anwendbaren Recht vorgesehenen Straftat verurteilt worden ist. In solchen Fällen würde folglich eine bloße Neubeurteilung der im Akt enthaltenen Beweise durch die Staatsanwaltschaft oder das übergeordnete Gericht dieses Kriterium nicht erfüllen. [...]

Spezifische Überlegungen zum vorliegenden Fall

(134) [...] Der vorliegende Fall betrifft ein die Wiederaufnahme von Verfahren erlaubendes System, das als spezielle Form der Wiederaufnahme iSv. Art. 4 Abs. 2 7. Prot. EMRK angesehen werden kann.

(135) [...] Die Wiederaufnahme betraf dieselben Tatsachen, die auch den Gegenstand der Anordnung vom 7.8.2008 bildeten. Der übergeordnete Staatsanwalt traf seine Entscheidung auf der Grundlage desselben Akts wie der erste Staatsanwalt, da keine neuen Beweise vorgelegt und geprüft wurden. Die Wiederaufnahme des Verfahrens war somit nicht durch neue oder neu bekannt gewordene Beweise gerechtfertigt [...].

(136) Die Regierung brachte [...] vor, die Wiederaufnahme des Strafverfahrens wäre durch einen schweren Mangel des vorangegangenen Verfahrens gerechtfertigt und notwendig gewesen, um die Einheitlichkeit der Praxis betreffend die Beurteilung der Schwere bestimmter Straftaten zu gewährleisten. [...] Dieser [...] Grund wird von den Ausnahmetatbeständen, auf die sich Art. 4 Abs. 2 7. Prot. EMRK bezieht [...], nicht umfasst.

(137) Gemäß der Anordnung vom 9.1.2009 war die Wiederaufnahme des Verfahrens im vorliegenden Fall dennoch durch die abweichende Beurteilung der Umstände durch den übergeordneten Staatsanwalt gerechtfertigt [...]. Es wurde eine neue Einschätzung der Schwere der gegen den Bf. erhobenen Vorwürfe und der verhängten Sanktion vorgenommen. Eine Notwendigkeit, einen Verstoß gegen eine Verfahrensvorschrift oder ein ernsthaftes Versäumnis im [...] Verfahren oder in den Ermittlungen zu beheben, wurde nicht erwähnt. Die bloße Neubewertung der Tatsachen im Lichte des anwendbaren Rechts weist jedoch nicht auf einen »schweren Mangel« im vorangegangenen Verfahren hin.

(138) Angesichts dieser Ausführungen ist der GH der Ansicht, dass die von der übergeordneten Staatsanwaltschaft zur Rechtfertigung der Wiederaufnahme des Verfahrens angeführten Gründe [...] nicht den von Art. 4 Abs. 2 7. Prot. EMRK verhängten strengen Voraussetzungen entsprachen. Die Wiederaufnahme des Verfahrens war somit im vorliegenden Fall nicht durch die in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahmen gerechtfertigt.

Allgemeine Schlussfolgerung

(139) [...] Der Bf. war aufgrund der Anordnung vom 7.8.2008 verurteilt, die bereits rechtskräftig geworden war, als durch die Anordnung vom 9.1.2009 eine weitere Verfolgung ausgelöst wurde. Da im vorliegenden Fall keine der Situationen beobachtet wurde, die eine Kombination oder Wiederaufnahme von Verfahren gestattet hätten, kommt der GH zu dem Ergebnis, dass der Bf. in Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem zweimal wegen derselben Straftat verfolgt wurde.

Folglich hat eine Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK stattgefunden (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum der Richterinnen und Richter Raimondi, Nussberger, Sicilianos, Spano, Yudkivska, Motoc und Ravarini; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten der Richter Pinto de Aluquerque, Serghides sowie Bošnjak, gefolgt von Richter Seghides).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 5.000,– für immateriellen Schaden; € 470,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Engel u.a./NL v. 8.6.1976 = EuGRZ 1976, 221

Escoubet/B v. 28.10.1999 (GK) = NL 1999, 188 = ÖJZ 2000, 693

Nikitin/RUS v. 20.7.2004 = NL 2004, 190

Sergey Zolotukhin/RUS v. 10.2.2009 (GK) = NL 2009, 37

A. und B./N v. 15.11.2016 (GK) = NLMR 2016, 556

Ramos Nunes de Carvalho e Sá/P v. 6.11.2018 (GK) = NLMR 2018, 505

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.7.2019, Bsw. 54012/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 330) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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