JudikaturJustizBsw33060/10

Bsw33060/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
05. April 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Helmut Blum gg. Österreich, Urteil vom 5.4.2016, Bsw. 33060/10.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Keine mündliche Verhandlung über vorübergehende Entziehung der Vertretungsbefugnis eines Rechtsanwalts.

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK im Hinblick auf das Fehlen einer mündlichen Verhandlung im Verfahren betreffend die einstweilige Maßnahme (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Hinblick auf das Fehlen einer mündlichen Verhandlung im Verfahren betreffend die einstweilige Maßnahme (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK betreffend die Dauer des Disziplinarverfahrens und die Aufrechterhaltung der einstweiligen Maßnahme (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist seit 1986 als Anwalt tätig. Im Jahr 2006 waren vor dem LG Linz Strafverfahren gegen Dritte wegen Menschenhandel anhängig. Der vorsitzende Richter informierte die oberösterreichische Rechtsanwaltskammer am 31.10.2006 und am 4.12.2006 über seinen Verdacht, dass der Bf. im Verfahren eine Doppelvertretung (Anm: Nach § 10 Abs. 1 RAO ist der Rechtsanwalt verpflichtet, »die Vertretung oder auch nur die Ertheilung eines Rathes abzulehnen, wenn er die Gegenpartei in derselben oder in einer damit zusammenhängenden Sache vertreten hat oder in solchen Angelegenheiten früher als Richter oder als Staatsanwalt tätig war. Ebenso darf er nicht beiden Theilen in dem nämlichen Rechtsstreite dienen oder Rath ertheilen.«) vorgenommen habe.

Am 11.7.2007 leitete das LG Linz eine Voruntersuchung gegen den Bf. wegen des Verdachts der versuchten Begünstigung, falschen Beweisaussage und Fälschung eines Beweismittels ein und informierte die Rechtsanwaltskammer davon. Nach mehreren Verhandlungen und zwischenzeitlicher Aussetzung des Verfahrens wurde der Bf. am 17.6.2011 freigesprochen. Dieses Urteil wurde am 8.11.2011 vom OLG Linz bestätigt.

Der Disziplinarrat der Oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer (im Folgenden: »der Disziplinarrat«) leitete ein Disziplinarverfahren gegen den Bf. wegen Doppelvertretung und Beweismittelfälschung ein. Am 24.9.2007 hielt er eine mündliche Verhandlung ab und unterbrach das Disziplinarverfahren, bis das Strafverfahren vor dem LG Linz rechtskräftig abgeschlossen war.

Der Disziplinaranwalt beantragte am 25.9.2007 als einstweilige Maßnahme die Entziehung des Vertretungsrechts des Bf. vor den Linzer Gerichten. Dazu gab der Bf. am 4.10.2007 und am 30.10.2007 schriftliche Stellungnahmen ab. Der Disziplinarrat entzog dem Bf. in der Folge am 17.12.2007 ohne Abhaltung einer Verhandlung gemäß § 19 des Disziplinarstatuts für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (DSt) (Anm: BGBl. 1990/474.) das Vertretungsrecht vor dem BG Linz, dem LG Linz und dem OLG Linz in Strafsachen.

Am 28.8.2008 wies die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission die Beschwerde des Bf. ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung ab. Der VfGH wies die Beschwerde dagegen am 1.12.2009 (B 1822/08) ebenfalls ab und stellte fest, dass die Begründung der Behörden ausreichend und die verhängte Maßnahme daher nicht willkürlich gewesen wäre. Da es sich bei der einstweiligen Maßnahme gegen den Bf. nicht um eine »strafrechtliche Anklage« iSv. Art. 6 EMRK gehandelt hätte, wäre eine Verhandlung nicht zwingend gewesen.

Die Rechtsanwaltskammer hob die einstweilige Maßnahme am 14.11.2011 auf, nachdem der Bf. im Strafverfahren freigesprochen worden war.

Am 11.3.2013 stellte der Disziplinarrat fest, dass der Bf. eine Doppelvertretung iSd. § 10 RAO getätigt habe, und verhängte eine Geldstrafe von € 1.000,–. Der OGH wies die Berufung des Bf. nach einer Verhandlung am 20.5.2014 zwar ab, verringerte die Geldstrafe aber auf € 500,–. Er erwähnte dabei insbesondere die Länge des Disziplinarverfahrens, die eine Verletzung der Rechte des Bf. nach Art. 6 EMRK bewirkt hätte, und berücksichtigte, dass dem Bf. das Vertretungsrecht vor den Linzer Gerichten in Strafsachen für vier Jahre entzogen worden war.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer und Recht auf eine mündliche Verhandlung) aufgrund der Länge des Disziplinarverfahrens sowie der Aufrechterhaltung der einstweiligen Maßnahme und durch das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung vor dem Disziplinarrat, bevor er über die einstweilige Maßnahme entschied.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Hinblick auf das Fehlen einer mündlichen Verhandlung im Verfahren betreffend die einstweilige Maßnahme

Zulässigkeit

(59) Der GH hat die Frage, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK unter seinem strafrechtlichen Aspekt auf Disziplinarverfahren anwendbar ist, in einem früheren Fall betreffend ein Disziplinarverfahren gegen einen praktizierenden Anwalt nach denselben Bestimmungen wie im vorliegenden Fall untersucht (Müller-Hartburg/A). In diesem Urteil kam er zum Schluss, dass ein solches Disziplinarverfahren keine »strafrechtliche Anklage« iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK mit sich brachte. Da alle vom Bf. in seiner aktuellen Beschwerde zur Sprache gebrachten Argumente vom GH in seinem oben genannten Urteil bereits geprüft wurden, wird er den Fall nicht unter dem strafrechtlichen Zweig von Art. 6 Abs. 1 EMRK untersuchen.

(60) Der GH hat aber ständig festgehalten, dass Disziplinarverfahren, in denen das Recht, einen Beruf weiterhin auszuüben, auf dem Spiel steht, »Streitigkeiten« über zivilrechtliche Ansprüche iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK begründen. Da im Disziplinarverfahren gegen den Bf. sein Recht, weiterhin als Anwalt praktizieren zu können, auf dem Spiel stand, erwägt der GH, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Aspekt anwendbar ist.

(61) Was die Frage der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Zweig auf Verfahren zum Erlass einstweiliger Verfügungen betrifft, hat der GH den Ansatz aufgegeben, solche Verfahren automatisch dahingehend zu charakterisieren, dass sie keine Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen darstellen. Seither hängt die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Verfahren zum Erlass einstweiliger Verfügungen, die über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen entscheiden, davon ab, ob bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss das auf dem Spiel stehende Recht sowohl im Haupt- als auch im Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Verfügung »zivil« iSd. Art. 6 EMRK sein. Zweitens müssen die Natur der einstweiligen Maßnahme, ihr Ziel und Zweck sowie ihre Wirkungen auf das fragliche Recht genau geprüft werden. Wann immer eine einstweilige Maßnahme als wirksam angesehen werden kann, über den betreffenden zivilrechtlichen Anspruch oder die betreffende zivilrechtliche Verpflichtung zu entscheiden, ist Art. 6 EMRK unabhängig von der Zeitdauer, für die sie in Kraft steht, anwendbar. Der GH akzeptiert allerdings, dass es in außergewöhnlichen Fällen, wo etwa die Wirksamkeit der angestrebten Maßnahme von einem raschen Entscheidungsfindungsprozess abhängt, nicht sofort möglich sein kann, alle Erfordernisse von Art. 6 EMRK zu erfüllen. Daher können [...] verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen nur in dem Ausmaß zur Anwendung kommen, das mit Natur und Zweck des einstweiligen Verfahrens zu vereinbaren ist. Es liegt bei der Regierung zu zeigen, dass angesichts des Zwecks des in einem Fall in Frage stehenden Verfahrens eine oder mehrere verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen nicht angewendet werden konnten, ohne die Erreichung der von den durch die einstweilige Maßnahme angestrebten Ziele ungebührlich zu beeinträchtigen.

(62) Was das Vorbringen des Bf. anbelangt, wiederholt der GH, dass die Zeit, für welche die einstweilige Maßnahme in Kraft ist oder war, bei der Prüfung der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf den konkreten Fall nicht entscheidend ist.

(63) Im vorliegenden Fall sahen die Bestimmungen über einstweilige Maßnahmen nach dem Disziplinarstatut unter anderem die Entziehung des Vertretungsrechts vor bestimmten oder allen Gerichten oder Verwaltungsbehörden sowie die vorläufige Untersagung der Ausübung der Rechtsanwaltschaft vor (Anm: Siehe § 19 Abs. 3 Z. 1 DSt.). Im Hauptverfahren können die Disziplinarbehörden Maßnahmen setzen, die von einem schriftlichen Verweis bis zur Streichung von der Liste reichen (was eine Untersagung der Ausübung der Rechtsanwaltschaft für mindestens drei Jahre bedeutet) (Anm: Siehe §§ 16 und 18 DSt.). Der GH erwägt, dass sowohl im Haupt- als auch im Verfahren zum Erlass der einstweiligen Verfügung zivilrechtliche Ansprüche iSd. Art. 6 EMRK auf dem Spiel standen. Das erste Kriterium ist daher erfüllt.

(64) Was die Natur der einstweiligen Maßnahme sowie ihr Ziel und ihren Zweck angeht, bemerkt der GH, dass die Rechtsanwaltskammer diesbezüglich mit Vollstreckungsaufgaben betraut war. Der GH akzeptiert zudem das Argument der Regierung, wonach die Maßnahme darauf abzielte, öffentliche Interessen und das Ansehen des Anwaltsstands und daher die Rechtspflege selbst zu schützen. Diesbezüglich ist es unter Berücksichtigung der Schlüsselrolle von Anwälten in diesem Bereich berechtigt, von diesen zu erwarten, zur ordentlichen Rechtspflege beizutragen und so das öffentliche Vertrauen darin aufrechtzuerhalten. Damit die Öffentlichkeit jedoch Vertrauen in die Rechtspflege hat, muss sie Vertrauen in die Eignung des Anwaltsstands zur Gewährung wirksamer Vertretung haben. Daher anerkennt der GH, dass Situationen auftreten können, in denen es gerechtfertigt sein kann, einstweilige Maßnahmen zu setzen, um öffentliche Interessen und den guten Ruf des Anwaltsstands zu schützen. Wenn z.B. ein praktizierender Rechtsanwalt im Strafverfahren beschuldigt wird, kann ein Bedarf für eine einstweilige Maßnahme bestehen um sicherzustellen, dass dieser Anwalt nicht Mandanten vor Gerichten oder Behörden vertritt oder zumindest vor denselben Gerichten oder Behörden, welche mit dem strafrechtlichen Fall des Anwalts selbst befasst sind.

(65) Dennoch bemerkt der GH, dass die Entziehung des Vertretungsrechts vor bestimmten oder allen Gerichten oder Behörden bedeutende Auswirkungen auf das Ansehen und Geschäft des Anwalts hat, da seine Praxis von langdauernden Bindungen zu den Mandanten abhängt.

(66) Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass die einstweilige Maßnahme zur Entziehung des Vertretungsrechts vor gewissen Behörden und Gerichten das auf dem Spiel stehende zivile Recht wirksam entscheidet.

(67) Daraus folgt, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das vorliegende Verfahren betreffend die einstweilige Maßnahme anwendbar ist [...]. Der GH stellt auch fest, dass die Rüge des Bf. im Hinblick auf das Fehlen einer mündlichen Verhandlung im Verfahren betreffend die einstweilige Maßnahme nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (einstimmig).

In der Sache

(70) Es ist ständige Rechtsprechung des GH, dass eine mündliche und öffentliche Verhandlung ein grundlegendes, in Art. 6 Abs. 1 EMRK verbürgtes Recht darstellt, doch ist die Verpflichtung zur Abhaltung einer Verhandlung nicht absolut. Es gibt Verfahren, in denen eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich sein kann: wenn es etwa keine Fragen zur Glaubwürdigkeit oder bestrittene Tatsachen gibt, die eine Verhandlung nötig machen, und die Gerichte den Fall korrekt und angemessen auf Basis des Vorbringens der Parteien und anderen schriftlichen Materials entscheiden können. Der GH hat zudem akzeptiert, dass eine Verhandlung unter außergewöhnlichen Umständen nicht abgehalten werden muss, wie in Fällen, wo das Verfahren ausschließlich rechtliche oder hochtechnische Fragen betrifft. Weiters ist der Umstand, dass ein Verfahren von beträchtlicher persönlicher Bedeutung für einen Bf. ist, für die Notwendigkeit einer Verhandlung nicht entscheidend. Dennoch kann die Verweigerung der Abhaltung einer mündlichen Verhandlung nur in seltenen Fällen gerechtfertigt sein. Der GH kommt zum Schluss, dass diese Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK, die in Fällen im Zusammenhang mit Hauptverfahren begründet wurde, grundsätzlich auch auf Verfahren betreffend einstweilige Maßnahmen angewendet werden muss.

(71) Der GH bemerkt zudem, dass es in der Natur der Verfahren zum Erlass einstweiliger Maßnahmen liegt, dass Entscheidungen im Allgemeinen sofort getroffen werden müssen. In einem dringenden Fall könnte eine mündliche Verhandlung, wenn öffentliche oder private Interessen auf dem Spiel stehen, zu Verzögerungen führen und dadurch das Streben nach Schutz vereiteln [...].

(72) [...] Der Disziplinarrat hatte, um die Entscheidung über die einstweilige Maßnahme zu treffen, nicht nur die Natur und Schwere der disziplinarrechtlichen Vorwürfe zu prüfen, sondern auch, ob es die Gefahr ernsthaften Schadens für insbesondere die Interessen der Öffentlichkeit oder für den Berufsstand gab, die es nötig machte, eine einstweilige Maßnahme zu erlassen. Zudem hatte der Disziplinarrat zu entscheiden, welche von den in § 19 Abs. 3 DSt genannten einstweiligen Maßnahmen einen gerechten Ausgleich für die beteiligten Interessen darstellen würde. Bei der Wahl einstweiliger Maßnahmen aus dem in § 19 Abs. 3 DSt angeführten Katalog und insbesondere bei der Prüfung der Frage, ob und vor welchen Behörden die Vertretungsbefugnis beschränkt werden sollte, war dem Disziplinarrat ein Ermessen gewährt. Deshalb erwägt der GH, dass bei der Entscheidung über die einstweilige Maßnahme nicht nur rechtliche oder hochtechnische Fragen zu berücksichtigen waren.

(73) Der GH bemerkt, dass das LG Linz gegen den Bf. am 11.7.2007 bereits eine strafrechtliche Voruntersuchung eingeleitet hatte. Der Disziplinarrat beraumte für 24.9.2007 eine Verhandlung an. Dort sagte der Bf. aus, doch waren einstweilige Maßnahmen sowie ihre Notwendigkeit kein Thema. Erst am 25.9.2007 meldete der Disziplinaranwalt die einstweilige Maßnahme an. Der Bf. wurde eingeladen, eine Stellungnahme abzugeben, was er am 4. und 30.10.2007 auch tat. Der Disziplinarrat traf die Entscheidung am 17.12.2007. Aus diesem Verhalten der Behörden kann keine Dringlichkeit festgestellt werden. Die Regierung hat weder Gründe aufgezeigt, warum keine Notwendigkeit für einstweilige Maßnahmen vor dem 25.9.2007 bestand, noch dass die Umstände sich danach änderten und eine einstweilige Maßnahme so dringlich machten, dass der Disziplinarrat von der Abhaltung einer mündlichen Verhandlung Abstand nehmen musste. Folglich wurde nicht gezeigt, dass die Wirksamkeit der gegenüber dem Bf. verhängten einstweiligen Maßnahme von einem raschen Entscheidungsfindungsprozess abhing.

(74) Im Ergebnis wurde das Recht des Bf. auf eine mündliche Verhandlung verletzt, als der Disziplinarrat eine einstweilige Maßnahme bewilligte und seinen Antrag auf eine mündliche Verhandlung nicht beachtete.

(75) Deshalb erfolgte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK betreffend das Fehlen einer mündlichen Verhandlung (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK betreffend die Dauer des Disziplinarverfahrens und die Aufrechterhaltung der einstweiligen Maßnahme

(81) Der GH beobachtet, dass die zu berücksichtigende Periode am 13.12.2006 begann, als der Disziplinaranwalt um die Einleitung eines Disziplinarverfahrens ersuchte und am 11.8.2014 endete, als dem Bf. das Urteil des OGH zugestellt wurde. Es dauerte daher über drei Instanzen sieben Jahre und sieben Monate.

(82) Der GH befindet, dass die Umstände des vorliegenden Falls eine Prüfung der Frage verdienen, ob der Bf. immer noch als Opfer der gerügten Konventionsverletzung angesehen werden kann. Der GH wiederholt, dass es zunächst den nationalen Behörden zukommt, eine Konventionsverletzung wiedergutzumachen. Eine für den Bf. günstige Entscheidung oder Maßnahme ist jedoch grundsätzlich nicht ausreichend, um ihn seines Opferstatus zu berauben, wenn die nationalen Behörden die Konventionsverletzung nicht auf ausreichend klare Weise anerkannt und in der Folge Wiedergutmachung dafür geleistet haben. Ob eine solche Wiedergutmachung angemessen und ausreichend ist, um im Hinblick auf den Verstoß gegen ein Konventionsrecht auf nationaler Ebene Abhilfe zu schaffen, hängt – unter besonderer Berücksichtigung der Natur der unter der Konvention in Rede stehenden Frage – von allen Umständen des Falles ab. Was zudem die Dauer von Strafverfahren betrifft, kann die ausdrückliche und messbare Reduktion einer Strafe eine mögliche Form von Wiedergutmachung darstellen.

(83) Was das erste Erfordernis anbelangt – nämlich die Anerkennung einer Konventionsverletzung durch die innerstaatlichen Behörden – beobachtet der GH, dass der OGH die übermäßige Dauer des Verfahrens als mildernden Umstand ansah, als er die vom Bf. zu zahlende Geldstrafe festsetzte. Der GH bemerkt auch, dass der OGH die unangemessen lange Dauer der Aufrechterhaltung der einstweiligen Maßnahme ausdrücklich anerkannte. Mit Blick auf das zweite Erfordernis bemerkt der GH, dass der OGH die [...] Geldstrafe des Bf. von € 1.000,– auf € 500,– reduzierte – also um die Hälfte. Als weiteren zu berücksichtigenden Faktor hält der GH fest, dass die einstweilige Maßnahme von der Rechtsanwaltskammer sofort aufgehoben wurde, als die Berufung des Staatsanwalts im Strafverfahren gegen den Bf. vom OLG Linz im November 2011 abgewiesen worden war.

(84) Im Ergebnis gibt sich der GH damit zufrieden, dass die innerstaatlichen Behörden die unangemessene Dauer des gegen den Bf. geführten Verfahrens ausreichend anerkannten und ihm auf angemessen ausdrückliche und messbare Weise Wiedergutmachung gewährten. Der Bf. kann daher nicht länger behaupten, iSd. Art. 34 EMRK Opfer der gerügten Verletzung zu sein.

(86) Die Rüge unter Art. 6 Abs. 1 EMRK betreffend die Länge des Disziplinarverfahrens muss für unzulässig erklärt werden (einstimmig).

Weitere Beschwerden

(89) Der GH beobachtet, dass der Bf. sich über die unangemessene Dauer des Strafverfahrens zum ersten Mal in seinem Brief vom 3.10.2013 beschwerte. Dieses Verfahren hatte am 30.11.2011 geendet, als dem Bf. das Urteil des OLG Linz vom 8.11.2011 zugestellt wurde. [...] Diese Beschwerde wurde daher verspätet eingebracht.

(90) Hinsichtlich der weiteren Rügen des Bf. betreffend das Disziplinarverfahren, die zum ersten Mal im Brief vom 10.6.2014 vorgebracht wurden [(Verletzung der Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte)], bemerkt der GH, dass diese Fragen behandeln, die im Verfahren vor dem VfGH aufgeworfen werden hätten können. Da der Bf. es verabsäumt hat, dies zu tun, hat er nicht alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft.

(91) Daraus folgt, dass beide Rügen im Einklang mit den Art. 35 Abs. 1 und Abs. 4 EMRK [als unzulässig] zurückgewiesen werden müssen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Schuler-Zgraggen/CH v. 24.6.1993 = NL 1993/4, 30 = EuGRZ 1996, 604 = ÖJZ 1994, 138

Scordino/I (Nr. 1) v. 29.3.2006 (GK) = NL 2006, 83 = ÖJZ 2007, 382

Jurisic und Collegium Mehrerau/A v. 27.7.2006 = NL 2006, 201

Karg/A v. 6.5.2008 (ZE) = NL 2008, 131 = ÖJZ 2008, 648

Mitterbauer/A v. 12.2.2009 (ZE)

Micallef/M v. 15.10.2009 (GK) = NL 2009, 294

Müller-Hartburg/A v. 19.2.2013 = NLMR 2013, 43

Morice/F v. 23.4.2015 (GK) = NLMR 2015, 153

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 05.4.2016, Bsw. 33060/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 129) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_2/Helmut Blum.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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