JudikaturJustiz6Ob19/24y

6Ob19/24y – OGH Entscheidung

Entscheidung
21. Februar 2024

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hofer Zeni Rennhofer, Dr. Faber, Mag. Pertmayr und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei L*, vertreten durch Aigner Rechtsanwalts GmbH in Linz, gegen die beklagte Partei V* AG, *, Deutschland vertreten durch Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen 211.442 EUR sA, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 14. November 2023, GZ 6 R 141/23g 31, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz vom 21. Juni 2023, GZ 29 Cg 4/20i 26, aufgehoben wurde, zu Recht erkannt und beschlossen:

Spruch

Dem Rekurs wird teilweise Folge gegeben.

I. Der Beschluss des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung als Teilurteil wie folgt zu lauten hat:

„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 168.344,25 EUR samt Zinsen von 9,2 Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz seit 13. 8. 2018 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

2. Das Mehrbegehren des Inhalts, die beklagte Partei sei weiters schuldig, 14.142, 24 EUR samt Zinsen von 9,2 Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz seit 13. 8. 2018 binnen 14 Tagen zu bezahlen, wird abgewiesen.

3. Betreffend diese s Teilbegehren wird die Kostenentscheidung der Endentscheidung vorbehalten.“

II. Im übrigen Umfang (28.955,51 EUR) wird der Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts bestätigt.

Insoweit sind die Kosten des Rekursverfahrens weitere Verfahrenskosten.

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Das klagende Bundesland (in der Folge: Klägerin) erwarb mehr als 100 Fahrzeuge der Marken Volkswagen und Skoda, in welchen der von der Beklagten hergestellte Motor mit der Bezeichnung EA189 verbaut ist. Die Fahrzeuge stehen überwiegend noch im Eigentum der Klägerin, einige wurden jedoch bereits verkauft:

[2] Bei den eingebauten Motoren erfolgte die Abgasrückführung aufgrund einer im Motorsteuerungsgerät enthaltenen Software nach zwei Betriebsmodi („Umschaltlogik“). Im ersten Modus, der nur im Emissionsprüfungsverfahren unter Laborbedingungen zum Einsatz kam, war die Abgasrückführungsrate höher als im zweiten Modus, der unter normalen Fahrbedingungen zur Anwendung gelangte.

[3] Nach Aufkommen des „Dieselskandals“ ließ die Klägerin bei sämtlichen Fahrzeugen auf Kosten der Beklagten ein Software-Update durchführen. Dieses Software-Update führte dazu, dass im Bereich einer Außentemperatur von rund + 10 °C bis rund + 45 °C keine Veränderung der Abgasrückführrate (AGR-Rate) stattfindet. Ab einer Außentemperatur von weniger als rund + 10 °C findet eine graduelle Reduzierung der AGR-Rate statt. Bei einer Umgebungslufttemperatur unterhalb von rund - 12 °C und oberhalb von rund + 55 °C wird das AGR-Ventil vollständig abgeriegelt, sodass keine Abgasrückführung stattfindet („Thermofenster“).

[4] Die für die Beschaffung zuständigen Mitarbeiter der Klägerin hatten im Zeitpunkt des Erwerbs des jeweiligen Fahrzeugs keine Kenntnis von der Funktionsweise der Motorsteuerungssoftware. Wären die Funktionsweise der Motorsteuerungssoftware sowie des Thermofensters bekannt gewesen, hätte die Klägerin die Fahrzeuge nicht angeschafft.

[5] Ein durchschnittlicher Autokäufer hätte die von der Klägerin angeschafften Fahrzeuge im Wissen, dass das jeweilige Fahrzeug mit einer Motorsteuerungssoftware ausgestattet ist, die als unzulässige Abschalteinrichtung zu qualifizieren ist, wodurch dem Fahrzeug ein Entzug der Typgenehmigung droht, nicht gekauft. Ein risikogeneigter Autokäufer hätte die Fahrzeuge jedenfalls nur dann gekauft, wenn er einen Abschlag von über 10 % des Kaufpreises erhalten hätte, den er bei denselben Fahrzeugen ohne unzulässige Abschalteinrichtung bezahlen hätte müssen.

[6] Die Klägerin begehrt von der Beklagten als Herstellerin den Minderwert der mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeuge in Höhe von 211.442 EUR sA, gestützt auf Arglist, sittenwidrige Schädigung sowie Verletzung der VO 715/2007/EG als Schutzgesetz. Sie habe darauf vertraut, den gesetzlichen Bestimmungen entsprechende Fahrzeuge zu erwerben. Durch das Software-Update sei der gesetzeskonforme Zustand nicht hergestellt worden, weil auch das „Thermofenster“ eine unzulässige Abschalteinrichtung sei.

[7] Die Beklagte beantragte Klageabweisung. Sie sei Herstellerin der Fahrzeuge der Marke V*, nicht jedoch der Marke Skoda. Mit dem durchgeführten Software Update sei ein allfälliger bei Kauf der Fahrzeuge noch vorhandener Mangel jedenfalls beseitigt worden. Weder könne ihr sittenwidrige Schädigungsabsicht noch Arglist vorgeworfen werden noch treffe sie hinsichtlich des Thermofensters ein Verschulden, weil dieses von den zuständigen Behörden als zulässig eingestuft worden sei. Ein Wertverlust liege im Übrigen auch nicht vor. Hinsichtlich der von der Klägerin bereits weiterveräußerten Fahrzeuge werde diese zu behaupten und zu beweisen haben, aufgrund welchen von der Beklagten zu vertretenden und schuldhaften Verhaltens sie einen verminderten Weiterverkaufspreis erzielt habe.

[8] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Sowohl die Umschaltlogik als auch das Thermofenster seien unzulässige Abschalteinrichtungen. Da die von der Beklagten dargelegte Rechtsansicht zur Zulässigkeit des Thermofensters zu keinem Zeitpunkt vertretbar gewesen sei, habe sie jedenfalls fahrlässig gehandelt. Vor dem Hintergrund der zum Motortyp EA189 ergangenen Entscheidungen und der allgemeinen Lebenserfahrung könne die Wertminderung nach § 273 ZPO festgesetzt werden. Der von der Klägerin geltend gemachte Minderwert von 10 % sei jedenfalls angemessen, sodass der Klage zur Gänze stattzugeben sei.

[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten im Sinn des Aufhebungsantrags Folge. Dem Erstgericht sei zuzustimmen, dass in den von der Klägerin erworbenen Fahrzeugen unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut seien. Es würden allerdings Feststellungen fehlen, um beurteilen zu können, ob die Beklagte bezüglich der in den Fahrzeugen verbauten Thermofenster einem Verbotsirrtum unterlegen sei und ob sie betreffend jener Fahrzeuge, für welche sie nur die Motoren hergestellt habe (Marke Skoda), arglistig getäuscht oder sittenwidrig geschädigt habe, weil bei diesen die geltend gemachte Schutzgesetzverletzung als Haftungsgrund ausscheide. Für den Fall, dass eine Haftung der Beklagten dem Grunde nach zu bejahen sei, bestünden keine Bedenken gegen die Bemessung der Schadenshöhe gemäß § 273 ZPO. Bei Fahrzeugen, die weiterverkauft worden seien, sei der Ersatzbetrag im unteren Bereich der vom Obersten Gerichtshof judizierten Bandbreite von 5 % bis 15 % festzusetzen.

[10] Den Rekurs an den Obersten Gerichtshof ließ das Berufungsgericht zu. Es fehle Rechtsprechung zur Frage der Zulässigkeit des konkreten Thermofensters und zur Haftung des Motorenherstellers. Außerdem liege zur Frage des Schadenersatzes bei zwischenzeitig bereits verkauften Fahrzeugen keine einhellige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vor.

[11] Der Rekurs der Klägerin ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; er ist auch teilweise berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[12] 1.1. Die Klägerin stützt ihren Anspruch auf Wertminderung in Höhe von 10 % des Kaufpreises der jeweiligen Fahrzeuge (unter anderem) auf die Verletzung der Verordnung (EG) Nr 715/2007 vom 20. 6. 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (VO 715/2007/EG) als Schutzgesetz.

[13] 1.2. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann ein Fahrzeugkäufer nur die Person oder Stelle für einen deliktischen Schadenersatzanspruch aus der (bloß schuldhaften) Verletzung des als Schutzgesetz zu qualifizierenden Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG in Anspruch nehmen, die im Typgenehmigungsverfahren als Herstellerin des Fahrzeugs auftrat und die Übereinstimmungsbescheinigung ausstellte ( RS0031143 [T46]; vgl auch EuGH C-100/21, Mercedes-Benz Group AG ).

[14] 1.3. Das Berufungsgericht hat daher zutreffend erkannt, dass die Schutzgesetzverletzung (Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG) als Anspruchsgrundlage für jene Fahrzeuge, die nicht von der Beklagten hergestellt wurden und deren Übereinstimmungsbescheinigung sie nicht ausgestellt hat (Fahrzeuge der Marke Skoda), untauglich ist, und dass das Erstgericht zu den von der Klägerin weiters geltend gemachten Anspruchsgrundlagen keine Feststellungen getroffen hat.

[15] 1.4. Das erstmals in der Revision erstattete Vorbringen, der Motorliefervertrag zwischen der Beklagten und anderen Kraftfahrzeugherstellern sei als Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten der Endabnehmer zu qualifizieren, verstößt gegen das Neuerungsverbot und ist schon deshalb unbeachtlich.

[16] 1.5. Für den Fall, dass der Anspruch bezüglich der Fahrzeuge der Marke Skoda dem Grunde nach zu Recht bestehen sollte, weist der Oberste Gerichtshof schon an dieser Stelle darauf hin, dass die von der Rechtsprechung für die Haftung bei Schutzgesetzverletzungen entwickelte, aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben von der innerstaatlichen Systematik abweichende Methodik der Schadensberechnung (vgl RS0134498 ) bei Heranziehung der § 874 und § 1295 Abs 2 ABGB als Anspruchsgrundlagen nicht zur Anwendung kommt. Diesfalls ist der Schaden nach der relativen Berechnungsmethode zu ermitteln (2 Ob 139/23i; 4 Ob 204/23p ).

[17] 2.1. Im Rekursverfahren ist nicht strittig, dass die in den Fahrzeugen verbauten Abschalteinrichtungen unzulässig sind, und zwar sowohl in der Form der Softwaresteuerung über die sogenannte Umschaltlogik als auch über jene in Form des sogenannten Thermofensters.

[18] 2.2. Das Berufungsgericht war jedoch unter Bezugnahme auf die Entscheidung 10 Ob 27/23b der Ansicht, es müsse geprüft werden, ob die Beklagte bezüglich der in den Fahrzeugen verbauten Thermofenster einem Verbotsirrtum unterlegen sei. Die vom Berufungsgericht zitierte Entscheidung ist allerdings nicht einschlägig, betrifft sie doch einen Motor des Typs EA897, bei dem keine Softwaresteuerung in Form einer Umschaltlogik programmiert war. Für den vorliegenden Fall sind vielmehr die in der Entscheidung 6 Ob 84/23f (Rz 32) getroffenen Erwägungen relevant: Der Verstoß gegen die VO 715/2007/EG wurde von der Beklagten bei Inverkehrbringen der Fahrzeuge mit der Umschaltlogik bewusst in Kauf genommen. Dass sie daran Verschulden trifft, bezweifelt die Beklagte zutreffend selbst nicht. Ob sie – folgte man ihrem Vorbringen ohne weitere Prüfung – am Fehlschlagen des Versuchs, die mangelhafte (unzulässige) Abschalteinrichtung durch das Update zu beseitigen, ein Verschulden trifft (oder nicht), ist aber unbeachtlich. Schlägt – wie hier – der Versuch einer Schadensbeseitigung (verschuldet oder unverschuldet) fehl, hat es nämlich bei ihrer Haftung zu bleiben.

[19] 2.3. Die vom Berufungsgericht aufgetragene Verfahrensergänzung ist somit nicht notwendig, weil sie auf einer unrichtigen Rechtsansicht beruht.

[20] 3.1. Der Kläger, der das Kraftfahrzeug bei Kenntnis des Vorliegens einer unzulässigen Abschalteinrichtung nach Art 5 VO 715/2007/EG nicht erworben hätte, hat Anspruch auf Zug-um-Zug-Abwicklung. Es ist aber auch die Geltendmachung eines Minderwerts des mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Kraftfahrzeugs möglich. Dieser primär nach unionsrechtlichen Anforderungen zu bestimmende Ersatz des Minderwerts ist im Sinn des § 273 Abs 1 ZPO nach freier Überzeugung innerhalb einer Bandbreite von 5 % und 15 % des vom Kläger gezahlten und dem Wert des Fahrzeugs angemessenen Kaufpreises festzusetzen. Dabei kann ein von der Partei angebotener Beweis (Sachverständigengutachten) übergangen werden ( RS0134498 ). Dies schließt allerdings nicht aus, dass die Wertminderung exakt festgestellt wird und der Käufer Ersatz derselben verlangen kann (vgl RS0134498 [T6]).

[21] 3.2. Richtig ist, wie vom Berufungsgericht ausgeführt, dass in der Entscheidung 9 Ob 33/22a ein Schadenersatzanspruch mit der Begründung verneint wurde, dass das vom Abgasskandal betroffene Fahrzeug zu einem marktkonformen Preis ohne Verlust bereits verkauft worden sei. In der Entscheidung 5 Ob 100/22z wurde offengelassen, ob eine sachliche Kongruenz des Erlöses aus einem Weiterverkauf eines mangelhaften Fahrzeugs bejaht werden könne, zur Beweislast für einen anrechenbaren Vorteil aber festgehalten, dass diese jedenfalls den Schädiger treffe.

[22] Beide Entscheidungen sind allerdings vor dem oben zitierten Erkenntnis des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH C-100/21, Mercedes-Benz Group AG ) ergangen. Die daraus ableitbare Vorgabe des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH), die die Unsicherheit über die Nutzungsmöglichkeit als europarechtlich relevanten Schaden ansieht, gebietet eine Neubewertung der sich daraus ergebenden Ansprüche.

[23] Daher steht auch in Fällen, in denen das Fahrzeug verkauft wurde, ein Schadenersatzanspruch im zuvor dargelegten, der neueren höchstgerichtlichen Judikatur entsprechenden Ausmaß zu. Steht dabei fest, dass das Fahrzeug bereits verkauft wurde, ohne dass ein daraus resultierender Schaden behauptet wird, ist dies im Rahmen der Bandbreite des zu bemessenden Betrags zu berücksichtigen (9 Ob 2/23v).

[24] 3.3. Die Klägerin hat daher für die von ihr erworbenen Fahrzeuge der Marke Volkswagen einen Anspruch auf Ersatz des Minderwerts. Dazu steht fest, dass ein risikogeneigter Autokäufer die Fahrzeuge jedenfalls nur dann gekauft hätte, wenn er einen Abschlag von über 10 % des Kaufpreises erhalten hätte, den er bei denselben Fahrzeugen ohne unzulässige Abschalteinrichtung bezahlen hätte müssen. Schon angesichts dieser Feststellung ist der von der Klägerin geltend gemachte Minderwert in Höhe von 10 % des Kaufpreises für jene VW-Fahrzeuge, die noch in ihrem Eigentum stehen, angemessen. Für jene VW-Fahrzeuge, die bereits verkauft wurden, ist hingegen ein Abschlag im Sinn der dargestellten Judikatur vorzunehmen. Diesbezüglich erachtet der Senat einen Zuspruch von 7 % des Kaufpreises für angemessen. Insgesamt ergibt sich daher ein Zuspruch von 168.344,25 EUR sA, die Abweisung beträgt 14.142,24 EUR sA.

[25] 4. Dem Rekurs war somit teilweise Folge zu geben und wie aus dem Spruch ersichtlich mit Teilurteil in der Sache zu entscheiden . Im Übrigen bleibt es bei der vom Berufungsgericht erkannten Aufhebung und Zurückverweisung an die erste Instanz.

[26] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 und 4 ZPO.

Rechtssätze
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