JudikaturJustiz3Ob202/08i

3Ob202/08i – OGH Entscheidung

Entscheidung
19. November 2008

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Prückner, Hon. Prof. Dr. Sailer und Dr. Jensik sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Roland S*****, vertreten durch Mag. Peter Freiberger, Rechtsanwalt in Mürzzuschlag, wider die beklagte Partei Dagmar K*****, vertreten durch Muhri Werschitz Partnerschaft von Rechtsanwälten GmbH in Graz, wegen Räumung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Leoben als Berufungsgericht vom 2. Juni 2008, GZ 1 R 138/08y 11, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Mürzzuschlag vom 4. Februar 2008, GZ 3 C 137/07k 7, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass dem Klagebegehren stattgegeben wird. Die beklagte Partei ist schuldig, die Wohnung der klagenden Partei Top Nr 1 im Haus *****, bestehend aus Küche, Essplatz, Abstellraum, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kabinett, Vorraum, Bad, WC, Loggia im Gesamtausmaß von 73,50 m² sowie die dazugehörige Garage Nr 5 zu räumen und dem Kläger geräumt von eigenen Fahrnissen binnen 14 Tagen zu übergeben.

Die beklagte Partei hat der klagenden Partei die mit 1.252,10 EUR (darin 200,01 EUR USt und 52 EUR Barauslagen) bestimmten Verfahrenskosten erster Instanz, die mit 291,12 EUR (darin 29,02 EUR USt und 117 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 509,65 EUR (darin 55,77 EUR USt und 175 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Parteien waren Lebensgefährten und bewohnten mit dem im Jahr 2005 geborenen gemeinsamen Kind eine vom Kläger gemietete Wohnung. Mit einstweiliger Verfügung (EV) vom 18. Juni 2007 wurde dem Kläger gemäß § 382b EO für die Dauer von drei Monaten das Betreten der Wohnung und die Rückkehr in ihre unmittelbare Umgebung verboten. Er brachte am 13. August 2007 eine gegen die Beklagte gerichtete, auf titellose Benützung der Wohnung gestützte Räumungsklage ein. Die EV wurde bis zur rechtskräftigen Erledigung dieses Räumungsverfahrens verlängert. Im Räumungsstreit brachte der Kläger vor, dass er die Kosten der Wohnung allein trage und bei seiner Mutter nur über eine nicht adäquate Wohnmöglichkeit verfüge. Zwischen den Parteien sei kein obligatorisches Wohnrecht der Beklagten vereinbart worden. Mit der vom Erstgericht zugelassenen Klageänderung stützte der Kläger sein Räumungsbegehren weiters noch darauf, dass die Beklagte kein Benutzungsentgelt bezahle.

Die Beklagte wendete ein, ihr sei ein obligatorisches Wohnrecht eingeräumt worden. Sie habe ein „familienrechtliches Wohnrecht", weil sie für das gemeinsame Kind sorgen müsse. Die Wohnung diene der Erfüllung dieser Pflicht. Eine andere Wohnmöglichkeit bestünde nicht. Dies sei im Provisorialverfahren auch festgestellt worden.

Das Erstgericht wies das Räumungsbegehren ab. Von seinen Feststellungen ist für das Revisionsverfahren wesentlich nur Folgendes hervorzuheben:

Zwischen den Parteien sei weder vor noch während der Lebensgemeinschaft darüber gesprochen worden, wer für den Fall der Auflösung der Lebensgemeinschaft in der Wohnung verbleiben solle. Der Kläger wohne im Einfamilienhaus seiner Mutter und müsse das Bad, die Toilette und die Küche mitbenutzen. Seit 8. Juni 2007 bezahle der Kläger 235 EUR monatlich an Unterhalt für die Tochter. Die Beklagte beziehe eine Notstandshilfe von 30,70 EUR täglich. Eine andere Wohnversorgung sei „ihr derzeit nicht möglich".

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht im Wesentlichen aus, dass ein Lebensgefährte nach Aufhebung der Gemeinschaft die Räumung der Wohnung verlangen könne. Eine Ausnahme bestehe nur dann, wenn der andere einen von der Lebensgemeinschaft unabhängigen Rechtstitel besitze. Dies sei hier nicht der Fall. Die Beklagte könne ihr Wohnrecht aber von der gemeinsamen Tochter ableiten. Das Kind habe grundsätzlich Anspruch auf Naturalunterhalt, der sich erst bei getrenntem Haushalt oder wegen Verletzung der Unterhaltsverpflichtung in einen Anspruch auf Geldunterhalt verwandle. Der Oberste Gerichtshof habe in seiner Entscheidung 2 Ob 158/02b ausgeführt, dass sich der Naturalunterhaltsanspruch des Kindes nicht schon in einen Geldunterhalt umwandle, wenn der Unterhaltspflichtige aus der gemeinsamen Wohnung ausziehe. Wenn der Mutter die Obsorge alleine zustehe, müssten ihr zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen die korrespondierenden Rechte zustehen, denen absoluter Schutz zukomme. Daraus folge, dass die beklagte Mutter, solange ihr die Obsorge zustehe, in Hinblick auf das Recht des Kindes, in der Wohnung zu verbleiben, ein Recht darauf habe, ebenfalls in dieser Wohnung die Pflege und die Erziehung auszuüben und in der Wohnung zu verbleiben. Anders sehe dies der 1. Senat des Obersten Gerichtshofs in seiner Entscheidung 1 Ob 122/07h. Nach dieser Entscheidung kenne die österreichische Rechtsordnung keine Bestimmung, der einem Minderjährigen ein Wohnrecht im Sinne eines Anspruchs auf die Nutzung einer bestimmten Wohnung gegenüber dem Unterhaltspflichtigen einräume. Demgemäß könne auch kein abgeleiteter Anspruch der Mutter im Rahmen ihrer Obsorgeverpflichtung entstehen. Das Erstgericht schließe sich der Ansicht des 2. Senats an. Auch wenn in der österreichischen Rechtsordnung keine Bestimmung existiere, die dem unterhaltsberechtigten Kind ein Wohnrecht einräume, so sehe doch § 82 Abs 2 EheG vor, dass die Ehewohnung dann in die Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens und der ehelichen Ersparnisse einzubeziehen sei, wenn ein gemeinsames Kind an der Weiterbenützung einen berücksichtigungswürdigen Bedarf habe. Dies sei dann der Fall, wenn das Kind durch einen Wohnungswechsel aus seinem bisherigen sozialen Umfeld herausgerissen werde. Der 1. Senat habe bei seiner Entscheidung das Kindeswohl überhaupt nicht berücksichtigt. Im vorliegenden Fall könne sich die Beklagte nur in der Wohnung des Klägers „wohnversorgen". Bei Verlassen der Wohnung sei eine Gefährdung des Kindeswohls zu befürchten. Hier komme noch hinzu, dass der Kläger von der Beklagten Benutzungsentgelt fordere. Es müsse also von einem konkludenten Vertrag zwischen den Streitteilen ausgegangen werden. Die Nutzung erfolge nicht mehr titellos.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts und schloss sich ebenfalls der Begründung und dem Ergebnis der Entscheidung 2 Ob 158/02b an. Auch das Berufungsgericht ging von einer Gefährdung des Kindeswohls aus.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 4.000 EUR, nicht aber 20.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision in Ansehung der uneinheitlichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist aus dem vom Berufungsgericht angeführten Grund zulässig. Sie ist auch berechtigt.

A) Der Revisionswerber bekämpft zunächst die Feststellung der Vorinstanzen, der Beklagten sei eine andere Wohnversorgung nicht möglich, mit im Revisionsverfahren unzulässigen Beweiswürdigungsargumenten. Nur wenn sich das Berufungsgericht mit der Beweisfrage überhaupt nicht befasst hätte, wäre der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens gegeben (RIS Justiz RS0043371). Wie die bekämpfte Feststellung rechtlich zu werten ist, wird bei der folgenden Behandlung der Rechtsrüge zu erörtern sein.

B) Entscheidungswesentlich ist die Richtigkeit der dem Standpunkt der Beklagten folgenden Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass das gemeinsame Kind der früheren Lebensgefährten im Sinne der Entscheidung 2 Ob 158/02b aus Gründen des Kindeswohls Anspruch auf Weiterbenützung der Wohnung habe und daraus das Wohnrecht auch der obsorgeberechtigten Mutter abzuleiten sei. Dazu ist Folgendes auszuführen:

I.1. Unstrittig ist: Der bloße Umstand, dass ein Elternteil aus der gemeinsamen Wohnung auszieht, wandelt noch nicht den bis dahin bestehenden Naturalunterhaltsanspruch des Kindes auf Wohnversorgung in einen Geldunterhaltsanspruch um. Das Kind hat vielmehr das Recht auf Weiterbenützung der Wohnung (RIS Justiz RS0047463). Dies hat auch der 1. Senat des Obersten Gerichtshofs bereits ausgesprochen (1 Ob 541/92 = EvBl 1992/108). Zu untersuchen ist, ob dieser Naturalunterhaltsanspruch des Kindes auch dann weiter besteht, wenn das gemeinsame Wohnen der Elternteile endgültig beendet ist, sei es nach Scheidung der Ehe oder nach Auflösung der Lebensgemeinschaft:

2. Nach Aufhebung der Lebensgemeinschaft kann der Lebensgefährte, der Eigentümer eines Hauses (oder Mieter einer Wohnung) ist, vom anderen die Räumung verlangen (RIS Justiz RS0011874) und ist zur Räumungsklage berechtigt (RIS Justiz RS0010337). Grenzen setzt nur das Schikaneverbot (RIS Justiz RS0010345).

II. Zu den divergierenden oberstgerichtlichen Entscheidungen:

1. Nach dem der Entscheidung 2 Ob 158/02b = WoBl 2004/10 (mit kritischer Glosse von Deixler Hübner ) zu Grunde liegenden Sachverhalt war die Ehe der Eltern geschieden worden. Die Frau verblieb mit den beiden Töchtern im Haus des Mannes. Ein Aufteilungsverfahren nach den §§ 81 ff EheG fand nicht statt. Der 2. Senat bejahte ein Recht der Kinder auf Weiterbenützung der vormals ehelichen Wohnung und das Recht auf Geldunterhalt in Ansehung der übrigen Bedürfnisse. Das Recht an der Wohnung wurde nur mit dem schon erwähnten Rechtssatz begründet, dass eine Umwandlung in einen Geldunterhaltsanspruch nicht schon deshalb erfolge, weil der Unterhaltspflichtige aus der Wohnung ausgezogen sei (RIS Justiz RS0047463). Von seinen Kindern könne der Vater die Räumung nicht verlangen. Daraus folge, „dass die beklagte Mutter, solange ihr die Obsorge über die beiden Töchter zusteht, in Hinblick auf das Recht der Töchter, in der Wohnung zu verbleiben, ein Recht darauf hat, ebenfalls in dieser Wohnung Pflege und Erziehung auszuüben". Eine Räumungsverpflichtung der Mutter widerspräche dem Kindeswohl, weil dann im Ergebnis auch die Kinder ihr Wohnrecht verlieren müssten.

2. Die Entscheidung 1 Ob 122/07h (= EF Z 2008/39 mit zustimmender Glosse Gitschthalers ) gelangte zum gegenteiligen Ergebnis (dort klagte der Mann als Hauptmieter nach Auflösung der Lebensgemeinschaft die Frau auf Räumung) und begründete dies im Wesentlichen wie folgt:

Der Unterhaltsanspruch von Kindern, die im Haushalt des Unterhaltspflichtigen leben, sei grundsätzlich auf Naturalunterhalt gerichtet und verwandle sich erst bei getrenntem Haushalt in einen Anspruch auf Geldunterhalt. Die österreichische Rechtsordnung kenne keine Bestimmung, die einem Minderjährigen ein Wohnrecht im Sinne eines Anspruchs auf Benutzung einer bestimmten Wohnung gegenüber dem Unterhaltspflichtigen einräumt. Es könne lediglich ein Anspruch auf Wohnversorgung im Rahmen des Naturalunterhaltsanspruchs bestehen. Habe sich ein Lebensgefährte von seiner Lebensgefährtin getrennt, bedürfe das Kind zwar der Betreuung im Haushalt der Mutter. Dies bedeute aber nicht, dass ein - nicht aus § 97 ABGB abgeleiteter - Anspruch des Kindes auf Weiterbenützung der bisher gemeinsam von Kind und Mutter prekaristisch genutzten Wohnung des Vaters bestünde. In einem solchen Fall bestehe weder eine Verpflichtung des außerehelichen Vaters noch ein Recht des außerehelichen Kindes zur bzw auf Gewährung der zuvor bestandenen Wohnmöglichkeit. Werde nach Auflösung der außerehelichen Lebensgemeinschaft und der häuslichen Gemeinschaft der Unterhaltsbedarf des Kindes gedeckt, stehe dem Kind nicht zusätzlich das Recht zu, die Wohnung des Vaters zu benutzen. Mangels eines solchen Anspruchs bestehe daher auch kein daraus abgeleiteter Anspruch der Mutter auf Benützung der Wohnung, um dort der Pflege und Erziehung im Rahmen der Obsorgeverpflichtung nachkommen zu können.

III. Der erkennende Senat schließt sich der Rechtsauffassung des 1. Senats aus folgenden Gründen an:

1. Weder im Gesetz noch in der unterhaltsrechtlichen Judikatur des Obersten Gerichtshofs lässt sich eine Grundlage für einen Naturalunterhaltsanspruch von Kindern auf eine bestimmte Wohnung gegenüber dem nicht bzw nicht mehr im gemeinsamen Haushalt wohnenden unterhaltspflichtigen Elternteil finden. Auch Deixler Hübner verweist in ihrer Glosse (aaO) zutreffend darauf, dass sich aus dem Gesetz kein allgemeiner familienrechtlicher Anspruch der Kinder ableiten lasse, bis zur Selbsterhaltungsfähigkeit in der Wohnung des ausgezogenen Elternteils verbleiben zu dürfen, andernfalls wären beispielsweise bei ehelichen Kindern die Ergebnisse eines Aufteilungsverfahrens nach Scheidung der Ehe der Eltern obsolet (es könnte die Mutter für die dem Mann überlassene Ehewohnung eine Ausgleichszahlung lukrieren, aber dennoch wegen des Wohnrechts der Kinder weiter in der Wohnung bleiben). Dieser Argumentation ist ebenso zu folgen wie der weiteren Aussage, dass aus § 140 Abs 2 ABGB nur abzuleiten ist, dass der nicht obsorgeberechtigte Elternteil zu Geldunterhalt verpflichtet ist.

2. Die Bejahung eines Naturalunterhaltsanspruchs auf die bisherige Wohnmöglichkeit bedeutete in vielen Fällen eine „Enteignung" des Unterhaltspflichtigen, wenn die Wohnversorgung in einem Haus, einer Eigentumswohnung oder einer höherwertigen Mietwohnung stattfindet und wertmäßig wesentlich mehr ausmacht, als bei der Anrechnung auf den Geldunterhalt zur Deckung der übrigen Bedürfnisse des Kindes als Abzugspost berücksichtigt werden könnte, weil die Kinder neben ihrer „Luxuswohnversorgung" jedenfalls auch den Geldunterhalt zur Deckung der übrigen Bedürfnisse benötigen.

3. Mit dem im Pflegschaftsverfahren maßgeblichen Kindeswohl kann nicht in das der Privatautonomie unterliegende Rechtsverhältnis zwischen den Eltern eingegriffen werden: Nicht nur das gesetzliche Aufteilungsverfahren nach Scheidung der Ehe der Eltern würde durch die Bejahung eines Naturalunterhaltsanspruchs auf Weiterverbleib der Kinder in der ehelichen Wohnung ausgehöhlt. Der Naturalunterhaltsanspruch verhinderte auch jede vertraglich übernommene Räumungsverpflichtung für den Fall der Auflösung der Lebensgemeinschaft. Für einen derart weitgehenden Eingriff in die Privatautonomie müssten aus dem Gesetz zureichende Gründe ableitbar sein, die weder aus der Entscheidung des 2. Senats ersichtlich sind, noch von den Vorinstanzen oder der Revisionsgegnerin aufgezeigt werden.

Nur illustrativ ist noch auf die Behauptung der Beklagten in ihrer Revisionsbeantwortung hinzuweisen, dass sie Anfang Juli 2008 mit der gemeinsamen Tochter die verfahrensgegenständliche Wohnung ohnehin bereits verlassen und eine andere Wohnung bezogen habe.

Der Revision des Klägers ist aus den dargelegten Gründen stattzugeben.

Die Entscheidung über die Verfahrenskosten erster Instanz beruht auf § 41 ZPO, diejenige über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens auch auf § 50 Abs 1 ZPO.

Rechtssätze
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