JudikaturJustiz3Ob171/05a

3Ob171/05a – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. Oktober 2005

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Pimmer, Dr. Zechner, Dr. Sailer und Dr. Jensik als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Josef H*****, vertreten durch Dr. Peter Zauner, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Franz ***** M*****, vertreten durch Dr. Georg Santer, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 11.635,03 EUR sA und Feststellung (Streitwert 2.500 EUR), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 17. Mai 2005, GZ 4 R 238/04p-43, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 3. Juni 2005, GZ 4 R 238/04p-44, womit infolge Berufung beider Parteien das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 30. August 2004, GZ 6 Cg 182/03f-30, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 21. September 2004, GZ 6 Cg 182/03f-38, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die in Ansehung eines Zuspruchs von 11.635,03 EUR sA, der Feststellung der Haftung der beklagten Partei zu 50 % und der Abweisung eines Mehrbegehrens von 4.115,99 EUR sA als unbekämpft unberührt bleiben, werden im Übrigen aufgehoben und die Rechtssache in diesem Umfang (Abweisung von 11.635,02 EUR sA sowie der Haftungsfeststellung zu 50 % und im Kostenpunkt) an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Beide Streitteile befuhren am 10. April 2003 im Schigebiet von Ischgl eine übersichtliche, annähernd gleichmäßig mit etwa 40 % geneigte, präparierte Schipiste. Der Kläger und seine Lebensgefährtin fuhren am linken Rand der Piste talwärts, wobei der Kläger knapp hinter seiner Lebensgefährtin fuhr. Beide machten damals kurze Schwünge und hielten sich im Bereich der dort vorhandenen Ratrac-Spur. Der Kläger konzentrierte sich auf die vor ihm fahrende Lebensgefährtin. Der Beklagte fuhr mit mittlerer Geschwindigkeit (etwa 25 bis 35 km/h). Eingangs der letzten etwa 1,27 Sekunden vor der Kollision befand sich der Kläger etwa 7,18 m oberhalb des späteren Unfallorts und etwa 4,38 m oberhalb des talseitig rechts vor ihm fahrenden Beklagten. Allerdings hatte der Beklagte im Verlaufe der etwa 3 Sekunden zuvor den Kläger überholt. Es kam zu einem (schneidenden) Überholvorgang des Beklagten iSd FIS-Regel Nr 4. Dabei hätte der Beklagte den Kläger während seines Überholvorgangs seitlich vor ihm, später mit einer Blickwendung bergwärts frühzeitig und unfallvermeidend in seinem Gesichtsfeld erfassen können. Der Kläger selbst hätte zwar den sich annähernden Beklagten ohne Blickwendung bei vorausschauender Beobachtung früher sehen können, eine erfolgversprechende Ausweichbewegung wäre aber nur möglich gewesen, wenn der Kläger den Raum seitlich rechts von ihm schon zuvor mitbeobachtet hätte, so zB rund 2,27 Sekunden vor dem Unfall. Von links kommend hatte der Kläger also gerade zu einem Rechtsschwung angesetzt, als sich von rechts der Beklagte näherte und über den linken Schi des Klägers im Bereich vorne vor der Bindung fuhr und am linken Knie des Klägers anstieß. Der Kläger ließ sich nach rechts wegfallen; der Beklagte kam nicht zu Sturz.

Der Kläger erlitt einen Schienbeinkopfbruch, der operativ versorgt werden musste. Der dadurch verursachte Gesamtschaden des Klägers einschließlich Schmerzengeld beträgt 23.270,05 EUR. Der Kläger begehrte vom Beklagten die Zahlung von 27.386,05 EUR sA als Schadenersatz sowie die Feststellung der Haftung für zukünftige Schäden mit dem Vorbringen, der Beklagte trage das Alleinverschulden am Schiunfall. Er habe den Kläger rechts überholt und anschließend unmittelbar vor ihm einen Linksschwung hangaufwärts in die Fahrlinie des Klägers durchgeführt, sodass die Kollision für diesen nicht mehr vermeidbar gewesen sei.

Der Beklagte wendete ein, das Alleinverschulden treffe den Kläger selbst, der plötzlich von oben mit relativ hoher Geschwindigkeit gekommen sei und den unterhalb von ihm stehenden Beklagten übersehen und niedergefahren habe.

Das Erstgericht gab der Klage dem Grunde nach zur Gänze statt und wies lediglich ein Mehrbegehren von 6.116 EUR sA ab. Der Beklagte hätte den Kläger während seines Überholvorgangs seitlich vor ihm, später mit einer Blickwendung bergwärts frühzeitig und unfallvermeidend in seinem Gesichtsfeld erfassen können. Er habe durch seinen Überholvorgang gegen die FIS-Regel Nr 4 verstoßen. Der Kläger habe hingegen kein, ein Mitverschulden begründendes Fahrverhalten gesetzt.

Das Berufungsgericht änderte über Berufung beider Streitteile das erstgerichtliche Urteil dahin ab, dass es dem Kläger Schadenersatz lediglich im Ausmaß von 11.635,03 EUR sA sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für zukünftige Unfallfolgen zu 50 % zuerkannte, hingegen das weitere Schadenersatzbegehren abwies. Da der Beklagte den gegen ihn gerichteten Verschuldensvorwurf nicht bekämpfte, setzte sich das Berufungsgericht lediglich mit dem behaupteten Mitverschulden des Klägers auseinander und gelangte ausgehend vom Gebot des Fahrens auf Sicht und der vorausschauenden Beobachtung, wonach jeder Schifahrer kontrolliert zu fahren, das vor ihm liegende Gelände genau zu beobachten und seine Geschwindigkeit seinem Können, dem Gelände und der Schneebeschaffenheit anzupassen habe, zu einem gleichteiligen Mitverschulden des Klägers im Sinn unterlassener Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten. Eine vorausschauende Beobachtung hätte es dem Kläger erlaubt, sein Fahrverhalten jenem des Beklagten anzupassen und rechtzeitig eine Ausweichbewegung auszuführen, ohne sich zu gefährden. Der Kläger hätte bei vorausschauender Beobachtung den Beklagten seitlich rechts von ihm etwa 2,27 Sekunden vor dem Unfall sehen, also bereit so rechtzeitig wahrnehmen können, dass er kollisionsverhindernd hätte reagieren können. Wenn der Kläger und der Beklagte erst unmittelbar vor der Kollision aufeinander aufmerksam geworden seien, obwohl sie bei entsprechender Aufmerksamkeit kollisionsverhindernd hätten reagieren können, seien sie eben nicht mit der erforderlichen Aufmerksamkeit gefahren. Diese Unaufmerksamkeit sei beiden Streitteilen vorzuwerfen. Bei einer Gegenüberstellung und Gewichtung des beiderseitigen Fehlverhaltens erscheine eine Verschuldensaufteilung 1 : 1 gerechtfertigt. Da Fragen der Verschuldensteilung und der Schmerzengeldbemessung keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme, sei die ordentliche Revision nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er den Ersatz seines Gesamtschadens sowie die Feststellung der gänzlichen Haftung des Beklagten für zukünftige Schäden anstrebt, ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulassungsausspruch des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) zulässig und iS des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass das Verschulden des Beklagten am Zustandekommen des Schiunfalls infolge Verletzung der gebotenen Sorgfalt (Übersehen des bereits geraume Zeit im Sichtbereich befindlichen Klägers) feststeht. Strittig ist nur mehr die Frage, ob auch dem Kläger ein Sorgfaltsverstoß (in eigenen Angelegenheiten) anzulasten ist und bejahendenfalls wie beide Sorgfaltsverstöße gegeneinander abzuwägen sind.

Der Kläger bemängelt in seiner Revision zu Recht, dass die getroffenen Feststellungen eine abschließende Beurteilung seines allfälligen Mitverschuldens nicht zulassen, bleibt der Unfallhergang doch weitgehend ungeklärt und fehlt insbesondere eine Feststellung, ob dem Kläger eine unfallvermeidende Reaktion tatsächlich möglich gewesen wäre, als er den Beklagten als Gefahr wahrnehmen hätte können und müssen. Die Annahme eines Mitverschuldens des Klägers iS eines ihm anzulastenden Aufmerksamkeitsmangels (sowie die Verschuldensteilung 1 : 1) beruht offenbar auf der abschließenden Äußerung des schitechnischen Sachverständigen in seinem Gutachten ON 17, 25 (= AS 127). Die vom Erstgericht getroffene und vom Berufungsgericht übernommene Feststellung „der Kläger selbst hätte zwar den annähernden Beklagten ohne Blickwendung bei vorausschauender Beobachtung früher sehen können, eine erfolgversprechende Ausweichbewegung wäre aber nur möglich gewesen, wenn der Kläger den Raum seitlich rechts von ihm schon zuvor mitbeobachtet hätte, so zB rund 2,27 Sekunden vor dem Unfall", lässt nicht mit hinreichender Deutlichkeit erkennen, ab welchem Zeitpunkt vor dem Unfall der Kläger unter Anwendung welcher konkreten Sorgfalt (Beobachtung des Bereichs vor ihm und seitlich mit oder ohne Blickwendung) tatsächlich ausreichend früh eine zweckmäßige und nicht ihn selbst gefährdende Ausweichbewegung vornehmen hätte können. Es fehlen auch Feststellungen zum Seitenabstand zwischen Kläger und Beklagten in Annäherung an die spätere Unfallstelle, zur Dauer der Schwünge des Klägers und des Beklagten nach rechts und links sowie zu ihrer relativen Geschwindigkeit (Annäherung). Dies alles wird nachzutragen sein, um abschließend beurteilen zu können, ob dem Kläger ein Sorgfaltsverstoß anzulasten ist und bejahendenfalls, in welchem Verhältnis er zum bereits dem Grunde nach feststehenden Sorgfaltsverstoß des Beklagten steht.

Dass die von verschiedenen Institutionen und Autoren ausgearbeiteten Verhaltensvorschriften für Schifahrer wie die Bestimmungen des vom österreichischen Kuratorium für Sicherheit vor Berggefahren erarbeiteten Pistenordnungsentwurfs (sogenannte POE-Regeln) oder die FIS-Regeln keine gültigen Rechtsnormen, insbesondere auch nicht Gewohnheitsrecht sind, ihnen aber als Zusammenfassung der Sorgfaltspflichten, die bei der Ausübung des alpinen Schisports im Interesse aller Beteiligten zu beachten sind und bei der Anwendung des allgemeinen Grundsatzes, dass sich jeder so verhalten muss, dass er keinen anderen gefährdet, erhebliche Bedeutung zukommt, entspricht der stRsp (RIS-Justiz RS0023793). Ebenso seit langem ist in der Rsp anerkannt, dass jeder Schifahrer kontrolliert fahren, das vor ihm liegende Gelände genau beobachten und seine Geschwindigkeit auf die Geländeverhältnisse einrichten muss (RIS-Justiz RS0023429). Ebenso ist der Vorrang des vorderen, langsameren Fahrers eine klar erkennbare, der Natur des Schilaufs entsprechende und allgemein anerkannte Verhaltensregel (RIS-Justiz RS0023404) und gilt das Gebot des Fahrens auf Sicht auch für Schifahrer (RIS-Justiz RS0023345). Sollte der Sachverhalt nicht so weit aufklärbar sein, dass ein unfall(mit-)auslösender Sorgfaltsverstoß des Klägers daraus abgeleitet werden kann, müsste es auf Grund der den Beklagten für den Mitverschuldenseinwand treffenden Beweislast (stRsp; RIS-Justiz RS0022560) bei der vom Erstgericht seinem Urteil zugrundegelegten Annahme des Alleinverschuldens des Beklagten am Zustandekommen des Schiunfalls bleiben.

Sollte sich hingegen herausstellen, dass (auch) dem Kläger bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt eine unfallvermeidende Reaktion zumutbar gewesen wäre, wird die Verschuldensaufteilung unter Beachtung der von in stRsp angewendeten Grundsätze vorzunehmen sein. Bei der Verschuldensteilung kommt es vor allem auf die Größe und Wahrscheinlichkeit der durch das schuldhafte Verhalten bewirkten Gefahren, auf die Wichtigkeit der verletzten Vorschrift für die Sicherheit des Verkehrs und auf den Grad der Fahrlässigkeit des einzelnen Verkehrsteilnehmers an. Es ist auch zu berücksichtigen, wer das primär unfallauslösende Verhalten setzte (2 Ob 41/88 = ZVR 1988/172 uva; RIS-Justiz RS0027466; Harrer in Schwimann2, § 1304 ABGB Rz 40 mwN; Karner in KBB § 1304 ABGB Rz 4 mwN). Sollte sich herausstellen, dass dem infolge Unterlassung einer Bekämpfung des Berufungsurteils durch den Beklagten inzwischen feststehenden Verschulden des Beklagten (Überholen des von hinten kommenden schnelleren Schifahrers ohne Rücksicht auf den vorausfahrenden, seine Fahrweise [kurze Schwünge entlang des linken Pistenrands innerhalb der Ratrac-Spur] beibehaltenden Kläger) ein Aufmerksamkeitsfehler des Klägers, dem bloß die Unterlassung der Mitbeobachtung des seitlich zunächst in größerem Abstand Überholenden und eines (allenfalls gerade noch möglichen) Ausweichmanövers gegenübersteht, erschiene eine gleichteilige Verschuldensaufteilung nicht angemessen, müsste doch der Aufmerksamkeitsfehler desjenigen, der bereits geraume Zeit den an sich langsamer vorausfahrenden Schifahrer wahrnehmen und in der Wahl seiner eigenen Fahrlinie berücksichtigen hätte können, wesentlich schwerer wiegen, als der Aufmerksamkeitsfehler jenes Schifahrers, der erst unmittelbar vor der Kollision den anderen Schifahrer wahrnehmen hätte können.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Rechtssätze
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