JudikaturJustiz2Ob194/11k

2Ob194/11k – OGH Entscheidung

Entscheidung
08. März 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der Klägerin E***** L*****, vertreten durch Mag. Bernd Moser, Rechtsanwalt in Saalfelden, gegen die Beklagten 1. H***** P*****, vertreten durch Dr. Harald Schwendinger und Dr. Brigitte Piber, Rechtsanwälte in Salzburg, 2. H***** T*****, und 3. H***** T*****, vertreten durch die Rechtsanwalt Dr. Manfred Buchmüller GmbH in Altenmarkt im Pongau, wegen 10.000 EUR sA, über die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 31. Mai 2011, GZ 22 R 134/11a-16, womit das Zwischenurteil des Bezirksgerichts Saalfelden vom 19. Dezember 2010, GZ 2 C 1468/10t-9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Zwischenurteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Erstbeklagte war Eigentümer einer an eine stark ansteigende und keinen Gehsteig aufweisenden Straße grenzenden Liegenschaft, die Zweit- und Drittbeklagten sind Eigentümer der ebenfalls an diese Straße grenzenden gegenüber liegenden Liegenschaft. Die Gemeinde hat keine Winterdienstpflichten von den Grundanrainern übernommen, sie erledigt jedoch seit Jahrzehnten den Winterdienst auf der dem öffentlichen Fahrzeugverkehr dienenden Straße.

Die Klägerin kam am 30. 1. 2009 als Fußgängerin auf der zwischen den Liegenschaften der Beklagten gelegenen Straße zu Sturz und verletzte sich. Sie begehrt von den Beklagten ein Teilschmerzengeld in Höhe von 10.000 EUR wegen der Verletzung der Räumungs- und Streupflicht.

Die Klägerin brachte vor, an beiden Wegrändern sei nicht geräumt und gestreut gewesen. Sie sei zunächst auf der linken Seite bergab gegangen und habe dann, um einer Eisplatte auszuweichen, die Straße überqueren wollen. Dabei sei sie zu Sturz gekommen, da auch die Straße vereist gewesen sei.

Die Beklagten wendeten ein, die Gemeinde habe die Straße ordnungsgemäß geräumt und gestreut. Dies ergebe sich schon aus den von der Klägerin vorgelegten Lichtbildern. Darauf sei auch ersichtlich, dass die Fahrbahnoberfläche an den Straßenrändern wesentlich griffiger gewesen sei als in der Mitte der Straße, wo die Klägerin letztendlich zu Sturz gekommen sei. Die Sturzstelle liege im alpinen Bereich. Dies gebiete ein besonders vorsichtiges und aufmerksames Gehen. Daran habe sich die Klägerin offenbar nicht gehalten, weshalb sie das Alleinverschulden am Zustandekommen des Sturzes treffe.

Das Erstgericht erkannte mit Zwischenurteil das Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend. Es stellte fest, vor dem Unfalltag sei Schnee gefallen, den der Gemeindeschneepflug an die Straßenränder geschoben habe, sodass sich dort teilweise Schneeanhäufungen gebildet hätten, die aber deutlich unter einer Breite von 1 m gelegen seien. Nach der Räumung gefallener Schnee sei in einer Höhe von mehreren Zentimetern beidseits der der Fahrbahn zugewandten Seite der Grundstücksgrenzen bzw pflugbedingten Schneeanhäufungen liegen geblieben, während er auf der restlichen Fahrbahn durch den Fahrzeugverkehr niedergefahren worden sei. Die Klägerin sei zunächst auf der linken Straßenseite gegangen, als ihr Mann gemeint habe, man möge auf die andere Straßenseite wechseln, dort sei der diesseits der Pflugschneeanhäufung befindliche Schnee etwas niedriger. Die Klägerin sei deshalb vorsichtig schräg über die Fahrbahn nach rechts gegangen, sei aber bereits 1,5 bis 2 m vom linken Straßenrand entfernt auf einer eisigen Fläche ausgerutscht, sei gestürzt und habe sich verletzt. Die Straßenränder entlang der Beklagtengrundstücke seien nicht geräumt und nicht gestreut gewesen. Innerhalb eines Meters ab der Grundgrenze sei der nicht von der pflugbedingten Schneeanhäufung beanspruchte Teil von Reifen- und Fußspuren durchsetzt gewesen. Rechtlich hielt das Erstgericht fest, die Beklagten hätten durch die Unterlassung der Räumung und Streuung des 1 m breiten Streifens am Straßenrand die Schutznorm des § 93 Abs 1 Satz 2 StVO verletzt, weil die Straßenränder (und zwar auch im nicht von der pflugbedingten Schneeanhäufung betroffenen Teil) nicht geräumt und gestreut gewesen seien. Wer seiner Streupflicht nicht nachkomme, habe auch für die Gefahren einzustehen, die sich dadurch ergäben, dass Fußgänger dorthin auszuweichen versuchen, wo ihrer Meinung nach die Gefahr von Schnee- und Eisglätte am geringsten sei. Der Erstbeklagte könne auch nicht damit argumentieren, die Klägerin habe ursprünglich die Seite der Zweit- und Drittbeklagten gewählt.

Das Berufungsgericht wies die Klage ab. Es verwarf – erkennbar – die Verfahrens-, Tatsachen- und Beweisrüge der Beklagten, gelangte aber zur rechtlichen Beurteilung, dass die Gemeinde die Anrainerpflichten des § 93 StVO konkludent übernommen habe, weil sie seit Jahrzehnten im Unfallbereich streue. Die Beklagten hätten sich daher zu Recht auf ihre fehlende Verantwortlichkeit für den Sturz der Klägerin berufen. Die Klägerin sei fast in der Straßenmitte zu Sturz gekommen. Eine Anrainerhaftung käme daher selbst im Falle ihrer grundsätzlichen Bejahung wegen der (großen) Entfernung der Sturzstelle zur (jeweiligen) Grundgrenze der Beklagten nicht in Betracht.

Das Berufungsgericht ließ die Revision nachträglich zur Frage zu, ob die Außerstreitstellung der fehlenden Übernahme der Streuverpflichtung eine abweichende rechtliche Beurteilung ermögliche.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Klägerin ist zulässig, weil das Berufungsgericht seine Kognitionsbefugnis überschritten hat; sie ist auch berechtigt.

Die Klägerin macht geltend, dass die Parteien in erster Instanz das Fehlen einer Übernahme von Winterdienstpflichten durch die Gemeinde ausdrücklich außer Streit gestellt hätten. Diese Außerstreitstellung habe auch die Frage der schlüssigen Übernahme der Pflicht zum Inhalt gehabt, zumal es im Verfahren um nichts anderes gegangen sei. Das Aufgreifen dieses Themas durch das Berufungsgericht ohne vorherige Erörterung mit den Parteien mache sein Urteil zur (unzulässigen) Überraschungsentscheidung. Die Frage der schlüssigen Übernahme sei auch in der Sache grob fehlbeurteilt worden, weil dem dabei gebotenen strengen Maßstab nicht Rechnung getragen worden sei. Irrelevant sei, dass der Sturz fast in der Straßenmitte erfolgte, weil es nicht darauf ankomme, ob der Verletzte gerade auf dem 1 m breiten Streifen am Straßenrand oder unmittelbar daneben zu Sturz kam.

Dazu ist wie folgt auszuführen:

1.1. Die Parteien haben in der Verhandlung vor dem Prozessgericht ausdrücklich außer Streit gestellt, dass die Gemeinde keine Verpflichtung zum Winterdienst übernommen hat. Das Erstgericht hat die entsprechende Feststellung getroffen.

1.2. Im Rechtsmittelverfahren wurde das Thema „Pflichtenübernahme durch die Gemeinde“ nicht mehr aufgegriffen. Vom Berufungsgericht wäre daher auf dieses Thema nicht mehr einzugehen gewesen (vgl RIS-Justiz RS0043352 [T26, 30, 31]).

2.1. Soweit es sich bei der Frage der konkludenten Pflichtenübernahme (auch) um eine Rechtsfrage handelt, wurde diese vom Berufungsgericht unrichtig gelöst. Denn nach ständiger Rechtsprechung ist bei der Frage der schlüssigen Übernahme einer derartigen Verpflichtung ein strenger Maßstab anzulegen. Nach den von der Lehre und Rechtsprechung geforderten Kriterien muss die Handlung oder Unterlassung nach den im redlichen Verkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuchen eindeutig in einer Richtung zu verstehen sein, also den zwingenden Schluss zulassen, dass die Parteien einen Vertrag schließen, ändern oder aufheben wollten. Es darf kein vernünftiger Grund bestehen, daran zu zweifeln, dass ein ganz bestimmter Rechtsfolgewille vorliegt, wobei stets die gesamten Umstände des Einzelfalls zur Beurteilung heranzuziehen sind (2 Ob 119/98h; 2 Ob 286/05f). Allein aus der Tatsache, dass ein Wegehalter die gesamte Straße räumt und streut, muss daher noch nicht zwingend darauf zu schließen sein, dass er die Anrainerpflichten vertraglich übernommen hat, kann er doch auch (nur) in Wahrnehmung seiner eigenen Pflichten nach § 1319a ABGB tätig sein (2 Ob 46/11w).

2.2. Im vorliegenden Fall erledigt die Gemeinde zwar seit Jahrzehnten den Winterdienst auf der gegenständlichen Straße, sie wies aber per Kundmachung die Bürger auf deren Pflicht hin, zwischen 6:00 und 22:00 Uhr den Straßenrand dort, wo kein Gehsteig vorhanden ist, in einer Breite von 1 m zu säubern und zu bestreuen. Insgesamt kann aus diesem Verhalten kein zweifelsfreier Rechtsfolgewille abgeleitet werden, die Gemeinde habe die den Anrainern obliegende Räum- und Streuverpflichtung übernehmen wollen.

3.1. Wer seiner Streupflicht überhaupt nicht nachkommt, hat für die Gefahren einzustehen, die sich dadurch ergeben, dass Passanten dorthin auszuweichen versuchen, wo ihrer Meinung nach die Gefahr von Schneeglätte und Eisglätte am geringsten ist (RIS-Justiz RS0075594). Es kommt nicht darauf an, dass der Geschädigte gerade auf dem 1 m breiten Straßenstück entlang der Grundstücksgrenze, sondern unmittelbar daneben zu Sturz kam, weil erfahrungsgemäß der Geschädigte im Falle der Streuung gewiss den bestreuten Streifen benützt hätte (RIS Justiz RS0023266, zuletzt 2 Ob 86/06w).

3.2. Ist weder der linke, noch der rechte Anrainer der Straße seiner Streupflicht nachgekommen und erfolgte der Sturz des Geschädigten im Zuge der Straßenquerung in der Mitte der Straße, so haften ihm beide Anrainer aufgrund der Verletzung der Streupflicht auf dem jeweiligen Straßenrand, unabhängig davon, in welche Richtung der Geschädigte die Straße querte.

4. Auf Basis der vom Berufungsgericht gebilligten Feststellungen des Erstgerichts waren die Straßenränder entlang der Grundstücke der Beklagten nicht geräumt und nicht gestreut. Dass dies wegen der „Pflugschneeanhäufung“ unzumutbar gewesen wäre, wurde in erster Instanz nicht vorgebracht. Die Beklagten haben daher dem Grunde nach für die Verletzung ihrer gemäß § 93 Abs 1 StVO gegebenen Verpflichtung, den Straßenrand in der Breite von 1 m zu säubern und zu bestreuen, einzustehen.

Der Revision der Klägerin war daher Folge zu geben und das Urteil des Berufungsgerichts dahin abzuändern, dass das Zwischenurteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die Kostenentscheidung gründet auf § 52 ZPO.

Rechtssätze
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