JudikaturJustiz2Ob1/12d

2Ob1/12d – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. Juni 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei I***** GmbH, *****, vertreten durch Mag. Andreas Fehringer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei T***** K*****, vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, wegen Räumung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 8. November 2011, GZ 40 R 64/11z 20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Josefstadt vom 15. Oktober 2010, GZ 3 C 47/10g 14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 371,52 EUR (darin 61,92 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die klagende Partei (eine GmbH) ist Vermieterin, die Beklagte ist Mieterin der Wohnung top 5 im Haus ***** in Wien 8. Die Beklagte lebt seit ihrer Kindheit in dieser Wohnung und ist am 1. 6. 2000 in den Mietvertrag ihrer Mutter eingetreten.

Am 21. 2. 2009 kündigte die klagende Partei eine Wohnungs- und Hausbegehung zur Aufnahme von Mieterdaten an, die am 9. 3. 2009 stattfand. Bei dieser Gelegenheit wurde die Beklagte vom Geschäftsführer der klagenden Partei und vom Hausverwalter in ihrer Wohnung aufgesucht, befragt, ob sie die Wohnung überhaupt benötige, und nach längeren Verhandlungen, intensivem Drängen und der Drohung, ansonsten wegen Vernachlässigung des Mietgegenstands „hinausgeklagt“ zu werden, dazu veranlasst, eine vorbereitete Auflösungsvereinbarung zu unterschreiben. In dieser wurde der Beklagten eine Investitionsablöse von 5.000 EUR und entgeltfreies Wohnen bis zu ihrem für den 30. 3. 2010 vorgesehenen Auszug aus der Wohnung zugesagt. Eine Information über ein Rücktrittsrecht wurde der Beklagten nicht ausgefolgt. Diese hatte nie den Wunsch, den Mietvertrag aufzulösen.

Mit Schreiben vom 19. 3. 2009 erklärte die Beklagte den Rücktritt von dieser Vereinbarung, deren Empfang am 20. 3. 2009 die klagende Partei mit Schreiben vom 23. 3. 2009 bestätigte. Sie zahlte weiterhin den Mietzins und die Betriebskosten an die klagende Partei, wobei nicht festgestellt werden konnte, dass diese die Zahlungen an die Beklagte retourniert oder bei Gericht hinterlegt hätte. Mit weiterem Schreiben vom 14. 12. 2009 erklärte die klagende Partei, dass dies an der Auflösung des Mietverhältnisses nichts ändere.

Die klagende Partei brachte am 2. 4. 2010 beim Erstgericht die Räumungsklage ein. Die Beklagte benutze infolge einvernehmlicher Beendigung des Bestandverhältnisses per 30. 3. 2010 das Bestandobjekt nunmehr titellos.

Die Beklagte wandte ein, sie sei nach § 3 KSchG von der Auflösungsvereinbarung zurückgetreten. Der Mietvertrag sei weiterhin aufrecht.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es stützte sich auf den eingangs zusammengefasst wiedergegebenen Sachverhalt und erörterte rechtlich, der Tatbestand der Vereinbarung einer Vertragsauflösung sei von § 3 KSchG nicht direkt erfasst. Diese Bestimmung verfolge allgemein den Zweck, den Verbraucher vor einer Überrumpelung, also vor einer unüberlegten Abgabe zivilrechtlicher Erklärungen in Situationen, in denen er typischerweise nicht darauf vorbereitet sei, zu schützen. Dieses Schutzbedürfnis bestehe nicht nur bei der Abgabe von Willenserklärungen zum Vertragsabschluss, sondern in der gleichen Weise auch bei der übereilten Abgabe von Willenserklärungen, die zu einer Vertragsauflösung führen. Eine analoge Anwendung des § 3 KSchG auf den vorliegenden Fall sei daher zu bejahen. Demnach sei die Beklagte rechtzeitig und wirksam von der einvernehmlichen Auflösung zurückgetreten.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision (wegen des „völlig eindeutigen Gesetzeswortlauts“) nicht zulässig sei.

Es führte aus, der vorliegende Fall zeige, dass auch ein Mieter bei aufrechtem Mietverhältnis in eine dem sog „Haustürgeschäft“ vergleichbare Situation geraten könne. Vom „bewusst weiten Wortlaut“ des § 3 Abs 1 KSchG werde jede Vertragserklärung des Verbrauchers erfasst. Schon jeder Verzicht, umso mehr eine einvernehmliche Beendigung eines Vertragsverhältnisses (hier mit der Vereinbarung neuer Rechte) sei ein Vertrag, die Erklärung des Verbrauchers hierzu sei eine Vertragserklärung iSd § 3 Abs 1 KSchG. Es entspreche auch der Lehre und Rechtsprechung, dass diese Bestimmung bei auf die Änderung eines Mietvertrags gerichteten Vereinbarungen anwendbar sei.

Gegen dieses Berufungsurteil richtet sich die außerordentliche Revision der klagenden Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil zur Frage der Anwendbarkeit des § 3 KSchG auf Auflösungsvereinbarungen noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs existiert. Sie ist jedoch nicht berechtigt.

Die klagende Partei steht auf dem Standpunkt, dass der hier zu beurteilende Sachverhalt mit einem übereilten Vertragsabschluss anlässlich eines Haustürgeschäfts nicht vergleichbar sei. Die bloße Anfrage des Vermieters, ob der Mieter an einer Vertragsauflösung gegen eine Abschlagszahlung interessiert sei, sei überdies nicht als Vertragsanbahnung zu qualifizieren.

Hierzu wurde erwogen:

1. Das KSchG findet auch auf Bestandverträge Anwendung, sofern einander ein Unternehmer und ein Verbraucher gegenüberstehen. Dass dies hier zutrifft, ist in dritter Instanz nicht strittig.

Höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Anwendbarkeit des § 3 Abs 1 KSchG auch auf Änderungs- oder Auflösungsvereinbarungen liegt bisher nicht vor. In der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung 5 Ob 52/94 findet sich zu dieser Frage keine Äußerung des Obersten Gerichtshofs. Der in MietSlg 46.280 veröffentlichte Rechtssatz stammt vom damaligen Rekursgericht und blieb in dritter Instanz ungeprüft (insoweit ist auch das Zitat bei Mayerhofer/Tangl in Fenyves/Kerschner/Vonkilch , Klang³ § 3 KSchG Rz 62 FN 168 missverständlich). Auch in den sonstigen gängigen Kommentaren zum KSchG wird diese spezielle Frage nicht behandelt.

2. Nach § 3 Abs 1 KSchG kann der Verbraucher von seinem Vertragsantrag oder vom Vertrag zurücktreten, wenn er seine Vertragserklärung weder in den vom Unternehmer für seine geschäftlichen Zwecke dauernd benützten Räumen noch bei einem von diesem dafür auf einer Messe oder einem Markt benützten Stand abgegeben hat. Der Rücktritt muss binnen einer Woche ab Zustandekommen des Vertrags erklärt werden, es sei denn, dem Verbraucher wäre anlässlich der Entgegennahme seiner Vertragserklärung keine schriftliche Belehrung über dieses Rücktrittsrecht ausgefolgt worden.

Dieses nach dem Vorbild des früheren § 4 RatG (vgl 3 Ob 669/82 = SZ 55/183) geschaffene Rücktrittsrecht bezweckt den Schutz des Verbrauchers vor Überrumpelung beim Vertragsabschluss durch fragwürdig agierende Unternehmer und ihre Vertreter (vgl 4 Ob 521/84 = SZ 57/152; 7 Ob 594/94; RIS-Justiz RS0078387; Krejci in Rummel , ABGB³ II/4 § 3 KSchG Rz 1; Apathy in Schwimann , ABGB³ V § 3 KSchG Rz 1). Der Verbraucher soll vor Rechtsnachteilen bewahrt werden, die ihm durch die Ausnützung seiner typischerweise schwächeren Position drohen (5 Ob 509/92).

Die auf alle Verbrauchergeschäfte anzuwendende Regelung des Rücktrittsrechts geht nicht nur über den seinerzeitigen § 4 RatG, sondern auch über die Richtlinie 85/577/EWG („Haustürgeschäfte-RL“; abgedruckt zB bei Kosesnik-Wehrle , KSchG³, 601) hinaus, die durch die KSchG-Novelle 1993, BGBl 1993/247, in Österreich umgesetzt worden ist (vgl dazu Riedler , Die Anpassung des KSchG an das EWR-Abkommen, ecolex 1994, 87; Mayerhofer/Tangl aaO § 3 KSchG Rz 8). So ist etwa anerkannt, dass die Grundregel des § 3 Abs 1 KSchG von der Sonderbestimmung für Versicherungsverträge abgesehen - auch Dauerschuldverhältnisse erfasst (vgl 6 Ob 110/07f; Mayerhofer/Tangl aaO § 3 KSchG Rz 13 f; Krejci aaO § 3 KSchG Rz 36; Apathy aaO § 3 KSchG Rz 25).

3. Mit dem Maklergesetz, BGBl 1996/262, wurde ua § 30a KSchG eingeführt, der einem Verbraucher im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Bestandrechts ein zusätzliches Rücktrittsrecht gewährt. Voraussetzung ist die Abgabe einer Vertragserklärung am selben Tag, an dem der Verbraucher das Vertragsobjekt das erste Mal besichtigt hat, sofern der Erwerb der Deckung des dringenden Wohnbedürfnisses des Verbrauchers oder eines nahen Angehörigen dienen soll.

Auch diese Bestimmung bezweckt den Schutz des Verbrauchers vor einer unüberlegten Vertragsentscheidung, die bei der erstmaligen Besichtigung einer Wohnung typischerweise zu besorgen und mit der Situation bei Haustürgeschäften zu vergleichen ist (vgl 3 Ob 22/02k; 4 Ob 45/09k; Krejci aaO § 30a KSchG Rz 1). Das Rücktrittsrecht steht dem Verbraucher im Gegensatz zu jenem nach § 3 KSchG unabhängig davon zu, ob er den geschäftlichen Kontakt selbst angebahnt hat oder ob ihm ein Unternehmer oder ein anderer Verbraucher als (potentieller) Vertragspartner gegenübersteht ( Apathy aaO § 30a KSchG Rz 2 und 4; Eccher in Fenyves/Kerschner/Vonkilch , Klang ³ § 30a KSchG Rz 1). Für die Schaffung dieses Rücktrittsrechts war neben der Vermeidung einer Überrumpelung auch maßgeblich, dass schon die Miete einer Wohnung für einen Verbraucher üblicherweise eine Entscheidung von einschneidender wirtschaftlicher Tragweite ist und deshalb nicht überhastet getroffen werden soll ( Krejci aaO § 30a KSchG Rz 3; Kolba in Kosesnik-Wehrle , KSchG³ § 30a Rz 3 mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass dem Gesetzgeber gerade der Schutz von Wohnungsmietern vor Überrumpelungen ein besonderes Anliegen ist.

4. Auslegungsprobleme, die sich bei der Subsumtion konkreter Tatumstände eines Geschäftsabschlusses unter die Tatbestandsmerkmale des § 3 KSchG ergeben, sind im Lichte des Gesetzeszwecks zu lösen, dem Verbraucher eine ausreichende Überlegungsfrist zu geben und ihn keiner Zwangssituation auszusetzen (5 Ob 509/92; RIS-Justiz RS0065410; Krejci aaO § 3 KSchG Rz 1). Zwar verbietet die formale Konzeption des § 3 KSchG eine Analogie oder eine teleologische Reduktion der normierten Rücktrittsvoraussetzungen nach Maßgabe der konkreten Überrumpelungsgefahr (vgl RIS-Justiz RS0065288; Mayrhofer/Tangl aaO § 3 KSchG Rz 6). Das schließt aber nicht aus, dass die Tatbestandsmerkmale ihrerseits der Auslegung bedürfen und dabei der Aspekt der Überrumpelung zum Tragen kommen kann (vgl Krejci aaO § 3 KSchG Rz 5). Eines dieser Tatbestandsmerkmale ist die „Vertragserklärung“ des Verbrauchers.

5. Der laut Krejci (aaO § 3 KSchG Rz 11) ungewohnte Begriff „Vertragserklärung“ war im MinE noch nicht enthalten. Darin waren statt dessen die Formulierungen „Vertragsantrag“ und „Annahme des Vertragsantrags des Unternehmers“ vorgesehen (vgl Doralt/Koziol , Stellungnahme zum Ministerialentwurf des Konsumentenschutzgesetzes [1979] 11). Entstehungsgeschichte und Gesetzeswortlaut des § 3 Abs 1 KSchG sprechen dafür, dass der Gesetzgeber (zumindest primär) den Vertragsabschluss bei „Haustürgeschäften“ vor Augen hatte, demnach Willenserklärungen des Verbrauchers, die typischerweise auf die Begründung, nicht aber auf die Änderung oder Aufhebung eines Vertragsverhältnisses gerichtet sind.

Sinn und Zweck der Bestimmung geben aber Anlass zur Prüfung, ob die Regelung über das Rücktrittsrecht nicht dennoch auch auf solche Fälle angewendet werden kann. Dabei ist zunächst zu beachten, dass das Schutzbedürfnis des Verbrauchers bei einem bestehenden Vertragsverhältnis in der Regel geringer als bei einem Vertragsabschluss ist. Im Falle von Vertragsänderungen ist daher nur in Ausnahmefällen ein Rücktrittsrecht nach § 3 KSchG in Betracht zu ziehen (weitergehend offenbar Mayerhofer/Tangl aaO § 3 KSchG Rz 62 [die in FN 167 zitierte Entscheidung SZ 55/132 betraf den Rücktritt von einem Neuerungsvertrag]). Es muss sich um solche Erklärungen handeln, die für den Verbraucher von vergleichbarer wirtschaftlicher Tragweite sind wie der Vertragsabschluss selbst. Das wird auf die Vereinbarung über die Auflösung eines Wohnungsmietvertrags regelmäßig zutreffen, wird doch der Mieter dadurch in die Lage versetzt, sich zur Befriedigung seines Wohnbedürfnisses ein Ersatzobjekt beschaffen zu müssen.

6. Ausgehend von den dargelegten Wertungen des Gesetzgebers zu den §§ 3 und 30a KSchG erscheint es daher gerechtfertigt, einem Verbraucher den Schutz des § 3 KSchG auch dann zu gewähren, wenn seine „Vertragserklärung“ auf die Auflösung eines Mietvertrags über eine Wohnung gerichtet ist und alle sonstigen Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. Dies ist hier der Fall. Wie schon die Vorinstanzen richtig erkannten, war die Beklagte unter den konkreten Umständen nicht weniger schutzwürdig, als sie es bei einem voreiligen Vertragsabschluss gewesen wäre, drohte ihr doch der Verlust des von ihr seit ihrer Kindheit bewohnten Bestandobjekts. Sie war daher, wie das Berufungsgericht richtig erkannte, gemäß § 3 KSchG berechtigt, von der getroffenen Auflösungsvereinbarung zurückzutreten.

Eine Belehrung über das Rücktrittsrecht wurde der Beklagten nicht ausgefolgt, weshalb der Rücktritt unbefristet möglich war. Von einer Anbahnung durch die Beklagte (§ 3 Abs 3 Z 1 KSchG) kann nach den Feststellungen der Vorinstanzen keine Rede sein.

7. Zusammenfassend kommt der erkennende Senat zu folgendem Ergebnis:

Das Rücktrittsrecht nach § 3 Abs 1 KSchG kommt auch bei einem aufrechten Vertragsverhältnis in Betracht, wenn die „Vertragserklärung“ des Verbrauchers in ihrer wirtschaftlichen Tragweite dem Vertragsabschluss entspricht. Dies trifft etwa dann zu, wenn ein Wohnungsmieter unter den weiteren Voraussetzungen des § 3 KSchG zu einer Vereinbarung über die Auflösung des Mietvertrags veranlasst worden ist.

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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