JudikaturJustiz15Os118/11h

15Os118/11h – OGH Entscheidung

Entscheidung
29. Februar 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. Februar 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Danek als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé und Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Dr. Michel-Kwapinski als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin MMag. Linzner als Schriftführerin in der Strafsache gegen Francisca S*****-M*****, Tran Q***** P***** und Hans-Jörg St***** wegen des Vergehens des schweren Betruges nach §§ 15, 146, 147 Abs 1 Z 1 erster Fall und Abs 2 StGB, AZ 81 Hv 26/10a des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Anträge der Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO in Bezug auf das Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 15. Februar 2011, AZ 20 Bs 355/10t (ON 64 im Hv-Akt) sowie den Antrag des Hans-Jörg St***** auf Hemmung des Strafvollzugs, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Anträge auf Erneuerung des Verfahrens werden zurückgewiesen.

Der Antrag des Hans-Jörg St***** auf Hemmung des Strafvollzugs wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 2. Juni 2010, GZ 81 Hv 26/10a-50, wurden Francisca S*****-M*****, Tran Q***** P***** und Hans-Jörg St***** des Vergehens des schweren Betruges nach §§ 15, 146, 147 Abs 1 Z 1 erster Fall und Abs 2 StGB, Tran Q***** P***** und Hans-Jörg St***** jeweils als Beteiligte nach § 12 dritter Fall StGB schuldig erkannt.

Danach haben in Wien

1./ Francisca S*****-M***** am 13. Juni 2008 mit dem Vorsatz, durch das Verhalten der Getäuschten sich und Dritte unrechtmäßig zu bereichern, Verfügungsberechtigte der Bank A***** AG durch Vorlage und Verweis auf vorgelegte falsche Gehaltsabrechnungen, verfälschte Kontoauszüge, eine falsche Umsatzliste und einen falschen Kostenvoranschlag in Verbindung mit der Behauptung, in einem aufrechten Dienstverhältnis zu stehen sowie durch die Vorgabe, rückzahlungsfähige und rückzahlungswillige Kreditnehmerin zu sein, mithin durch Täuschung über Tatsachen, indem sie falsche und verfälschte Urkunden benützte, zur Gewährung und Auszahlung eines Kredits von 30.000 Euro, sohin zu einer Handlung, die das genannte Kreditinstitut in einem 3.000 Euro übersteigenden Betrag am Vermögen schädigen sollte, zu verleiten versucht;

2./ Tran Q***** P***** und Hans-Jörg St***** im Juni 2008 zur Ausführung der unter 1./ angeführten Tat beigetragen, indem Hans-Jörg St***** die Herstellung der unter 1./ genannten falschen und verfälschten Urkunden veranlasste und Francisca S*****-M***** anleitete, was sie bei der Bank sagen solle, und Tran Q***** P***** den für die Kredit-Antragstellung erforderlichen Kontakt zum abgesondert verfolgten Rainer A***** herstellte, die Anfertigung der unter Punkt 1./ genannten Urkunden in die Wege leitete und eine Scheinanstellung für Francisca S***** M***** organisierte.

Hiefür wurden Francisca S*****-M***** zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten, Tran Q***** P***** zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf Monaten und Hans-Jörg St***** zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von achtzehn Monaten verurteilt, wobei die Freiheitsstrafen jeweils unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bei Francisca S*****-M***** und Tran Q***** P***** gemäß § 43 Abs 1 StGB zur Gänze, bei Hans-Jörg St***** gemäß § 43a Abs 3 StGB zu einem Teil in der Dauer von zwölf Monaten bedingt nachgesehen wurden.

Mit gleichzeitig gefasstem Beschluss wurde vom Widerruf der über Hans-Jörg St***** mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 19. September 2008, AZ 81 Hv 38/08p, gewährten bedingten Strafnachsicht unter Verlängerung der Probezeit auf fünf Jahre abgesehen.

Den gegen dieses Urteil erhobenen Berufungen der Francisca S*****-M*****, des Tran Q***** P***** und des Hans-Jörg St***** wegen Nichtigkeit sowie des Ausspruchs über die Schuld und die Strafe gab das Oberlandesgericht Wien mit Urteil vom 15. Februar 2011, AZ 20 Bs 355/10t, nicht Folge. Der Beschwerde des Hans Jörg St***** gab es mit Beschluss vom selben Tag durch ersatzlose Aufhebung des angefochtenen Beschlusses statt.

In ihren gemeinsam ausgeführten nicht auf ein Erkenntnis des EGMR gestützten (RIS-Justiz RS0122228), rechtzeitigen (11 Os 139/08p) Anträgen auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO per analogiam reklamieren Francisca S*****-M*****, Tran Q***** P***** und Hans-Jörg St***** eine Verletzung des Art 6 Abs 1 MRK zufolge überlanger Verfahrensdauer, eine Verletzung der durch Art 6 Abs 2 MRK garantierten Unschuldsvermutung sowie einen Verstoß gegen Art 14 MRK durch diskriminierende Ungleichbehandlung im Vergleich zu weiteren abgesondert verfolgten Tatbeteiligten. Hans-Jörg St***** behauptet darüber hinaus eine Verletzung seines aus Art 6 Abs 3 lit c MRK garantierten Rechts auf freie Wahl seines Verteidigers.

Die Anträge sind zulässig, aber offenbar unbegründet.

Rechtliche Beurteilung

Für den subsidiären Rechtsbehelf eines nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrags gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und Abs 2 MRK sinngemäß (RIS-Justiz RS0122737). Der Oberste Gerichtshof kann unter anderem erst nach Ausschöpfung des Rechtswegs angerufen werden. Diesem wird entsprochen, wenn von allen effektiven Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und die geltend gemachte Konventionsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (horizontale Erschöpfung; vgl Grabenwarter/Pabel , Europäische Menschenrechtskonvention 5 § 13 Rz 26 und 34). Demnach hat weil die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur dann anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem Konventionsrecht verletzt zu sein auch ein Erneuerungsantrag nach § 363a StPO per analogiam deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine (vom angerufenen Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung iSd § 363a StPO zu erblicken sei (RIS Justiz RS0112737 [T17]). Dabei hat er sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS-Justiz RS0124359).

In diesem Sinn nicht begründet ist der Vorwurf der Verletzung des in Art 6 Abs 1 MRK statuierten Fairnessgebots durch unangemessen lange Verfahrensdauer von etwa zwei Jahren und acht Monaten. Als konkrete Verfahrensverzögerung wird der Umstand bezeichnet, dass erst über achtzehn Monate nach Anzeigenerstattung eine Anklageerhebung erfolgte.

Auch bei Reklamation unangemessener Verfahrensdauer mittels Erneuerungsantrags bedarf es zur Erfüllung der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art 35 Abs 1 MRK der vorherigen Einbringung jener Anträge, die wirksam Abhilfe gegen die Verzögerung versprechen. Gegen eine vermeintliche Verletzung des Beschleunigungsgebots (§ 9 Abs 1 StPO) während des Ermittlungsverfahrens im Bereich der Staatsanwaltschaft kann gerichtlicher Rechtsschutz erlangt werden, indem ein auf Verletzung des Beschleunigungsgebots gestützter Antrag nach § 106 Abs 1 Z 1 StPO gestellt wird (vgl RIS-Justiz RS0124006 [T2]). Auf diesem Weg kann ein konkreter Auftrag des Gerichts erster oder (im Beschwerdefall) zweiter Instanz an die Staatsanwaltschaft erwirkt werden, dem Beschleunigungsgebot durch Maßnahmen, wie etwa einer gehörigen Fortführung, einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder einer Anklageerhebung Rechnung zu tragen. Diese Bindung der Staatsanwaltschaft an Aufträge des Gerichts lässt sich aus § 107 Abs 4 StPO ableiten. Gibt das Gericht dem Einspruch statt, hat die Staatsanwaltschaft, sofern sie diesem nicht schon entsprochen hat (§ 106 Abs 4 StPO), den entsprechenden Rechtsschutz herzustellen. Demzufolge steht den Erneuerungsanträgen zufolge Unterlassung einer derartigen Antragstellung das Fehlen der Rechtswegausschöpfung (Art 35 Abs 1 MRK) entgegen (11 Os 53/11w mwN; RIS-Justiz RS0122737 [T28]).

Im Übrigen ist im konkreten Fall die Verfahrensdauer von der Anzeigenerstattung im Juni 2008 (ON 4), der Anklageerhebung im Februar 2010 (ON 16), der Urteilsfällung in erster Instanz nach vertagter Hauptverhandlung am 2. Juni 2010 (ON 50) bis zur Entscheidung des Rechtsmittelgerichts nach Berücksichtigung einer Vertagungsbitte (vgl ON 64 US 13) im Februar 2011 (ON 64) wie das Oberlandesgericht Wien zutreffend ausführte (ON 64 US 12 und 18) nicht auf ein die Angeklagten in ihrem Recht auf Durchführung ihrer Strafsachen in angemessener Zeit beeinträchtigendes Fehlverhalten einer Behörde zurückzuführen. Denn das Verfahren gegen die Antragsteller fiel im Zuge von komplexen und umfangreichen, bereits seit September 2005 geführten Ermittlungen gegen einen Kreditbetrügerring an (vgl ON 1; ON 12 S 13 ff), in welchen Anzeigen gegen eine Vielzahl von teils in Haft befindlichen Personen und Tätergruppen, darunter auch jene gegen die Antragsteller vom 14. Juni 2008 (ON 4) zu sichten und durch Ausscheidung aus dem Stammakt mit sämtlichen für die weiteren Verfahren notwendigen Unterlagen (etwa ON 1 S 3j 11 und VJ-Register zum Stammakt AZ 607 St 21/07b der Staatsanwaltschaft Wien) abzuarbeiten waren. Nach Anklageerhebung gegen die abgesondert auch wegen weiterer Fakten verfolgten, in Haft befindlichen Rainer A***** und Alexander R***** am 25. November 2008 (vgl ON 1 S 3k 11 , ON 2 und ON 11) wurden von (wechselnden) Organen der Staatsanwaltschaft laufend Verfahren gegen einzelne Beschuldigte und Personengruppen (vgl etwa ON 1 S 3n 11 ff und das VJ Register zum Stammakt AZ 607 St 21/07b der Staatsanwaltschaft Wien) unter Einhaltung umfangreicher Verständigungspflichten durch Einstellung erledigt bzw zur Anklageerhebung aus dem Stammakt ausgeschieden, so letztlich auch jenes gegen die als Beschuldigte 70, 72 und 73 erfassten Beschwerdeführer mit Verfügung vom 2. Dezember 2009 (ON 1 S 3c 13 f). Nach Beischaffung eines für die Anklageerhebung benötigten, nicht beim ausgeschiedenen Akt befindlichen Vernehmungsprotokolls durch den neuen Sachbearbeiter (ON 13, 14 und 15), welches am 11. Februar 2010 einlangte, brachte die Staatsanwaltschaft umgehend am 12. Februar 2010 den der Verurteilung der Antragsteller zu Grunde liegenden Strafantrag ein (ON 1 S 3f 13 und ON 16). Eine Inaktivität der Staatsanwaltschaft über längere Zeit bei Erledigung des umfangreichen nicht bloß die Antragsteller sondern eine Vielzahl von Personen betreffenden und im November 2008 zumindest 22 Bände und mehr als 700 Aktenstücke (vgl ON 1 S 3j 10 ) umfassenden Ermittlungsakts kann darin dem Vorbringen der Antragsteller zuwider nicht erblickt werden.

In einer konkret bezeichneten angeblichen Äußerung der in erster Instanz erkennenden Einzelrichterin bei der mündlichen Begründung des unmittelbar davor verkündeten (zu diesem Zeitpunkt naturgemäß noch nicht rechtskräftigen) Strafurteils erblicken die Antragsteller eine Verletzung der in Art 6 Abs 2 MRK garantierten Unschuldsvermutung, wobei die Richterin aus Sicht der Antragsteller bereits während des gesamten Hauptverfahrens erkennbar gegen Hans-Jörg St***** voreingenommen gewesen sein soll. Dieser erst im Erneuerungsantrag unbelegt behauptete Umstand wurde im ordentlichen Rechtsmittelweg von keinem der Antragsteller thematisiert, obwohl zur Geltendmachung angeblicher Voreingenommenheit demnach Ausgeschlossenheit iSd § 43 Abs 1 Z 3 StPO der Erstrichterin (vgl auch Art 6 Abs 1 MRK und Grabenwarter/Pabel , Europäische Menschenrechtskonvention 5 § 13 Rz 126 und 129), das effektive Rechtsmittel der Berufung offen gestanden wäre (§ 489 Abs 1 StPO iVm § 468 Abs 1 Z 1 StPO und § 489 Abs 1 StPO iVm § 281 Abs 1 Z 1 StPO; vgl Ratz , WK-StPO § 281 Rz 132; Hager/Meller/Hetlinger , Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung 3 , 21). Damit scheitern die Anträge aber gleichfalls an der Zulässigkeitsvoraussetzung der (horizontalen) Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs, im Wege dessen primär Abhilfe gegen eine in der Voreingenommenheit des in erster Instanz erkennenden Gerichts gelegene Verletzung der Unschuldsvermutung bei Verhandlungsführung oder Fällung und Verkündung des Urteils erlangt werden kann.

Im Übrigen wurde die erstrichterliche Beweiswürdigung bei Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Schuldberufungen der Antragsteller überprüft und für unbedenklich befunden. Eine Verletzung der Unschuldsvermutung durch voreingenommene Organe des Rechtsmittelgerichts wiederum wird von den Antragstellern nicht einmal behauptet.

Gleichfalls nicht im Recht ist das unsachliche Diskriminierung (Art 14 MRK) betreffende Vorbringen.

Anders als Hans-Jörg St***** (ON 58 S 6 und 10) haben Francisca S*****-M***** und Tran Q***** P***** in ihren gegen das Ersturteil gerichteten Berufungen (ON 57 S 19 f) die Verurteilung des abgesondert verfolgten, in die Kreditvermittlung an Francisca S*****-M***** verwickelten Rainer A***** wegen des Vergehens der Urkundenfälschung nach § 223 Abs 2 StGB sowie des abgesondert verfolgten Alexander R***** nach § 223 Abs 1 StGB und nicht wie die Antragsteller wegen des Vergehens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 erster Fall und Abs 2 StGB überhaupt nicht zur Sprache gebracht, weshalb die Geltendmachung einer Verletzung des Art 14 MRK durch diskriminierende Beurteilung desselben Lebenssachverhalts bei diesen Antragstellern schon an der (horizontalen) Nichterschöpfung des Instanzenzugs scheitert.

Im Übrigen legen die Antragsteller nicht schlüssig dar, weshalb das Diskriminierungsverbot nach Art 14 MRK einer differenzierten Betrachtung der subjektiven Tatseite mehrerer an ein und derselben Tat Beteiligter (vgl § 13 StGB) sowie deren Verurteilung entsprechend ihrer Schuld - wegen verschiedener Delikte entgegenstehen soll.

Art 14 MRK verbietet nämlich nicht jegliche, sondern nur die diskriminierend unterschiedliche Behandlung. Eine Diskriminierung liegt vor, wenn Rechtssubjekte, die sich in ähnlicher Situation befinden, ohne objektiv vernünftige Rechtfertigung ungleich behandelt werden (RIS-Justiz RS0124747). In der unterschiedlichen Beurteilung des mit der Vorlage falscher bzw gefälschter Urkunden verbundenen Vorsatzes einzelner Beteiligter (nämlich des für die Erlangung eines Kredits für S*****-M***** beigezogenen Kreditvermittlers Rainer A***** und des von diesem mit der Urkundenfälschung betrauten Alexander R***** einerseits sowie von S*****-M*****, ihrem Ehemann St***** und dem mit dem Ehepaar seit Jahren befreundeten und mit deren Einkommens- und Vermögensverhältnissen vertrauten P***** andererseits) in verschiedenen Urteilen desselben Gerichts (vgl ON 4 S 199 ff; ON 12 S 31 ff; ON 50 US 8 ff und US 20 f) ist demnach eine unsachliche Ungleichbehandlung nicht zu erblicken.

Das Vorbringen Hans-Jörg St*****s zur Verletzung des eine effektive Verteidigung gewährleistenden Art 6 Abs 3 lit c MRK zufolge zeugenschaftlicher Vernehmung seiner gewählten Verteidigerin in der Verhandlung vom 2. Juni 2010 (ON 49 S 23 ff) beschränkt sich auf die bloße Behauptung, dem Beschwerdeführer sei es dadurch „unmöglich gemacht worden, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl zu verteidigen“, ohne sich substantiell mit den Begründungserwägungen des Oberlandesgerichts (US 6) auseinanderzusetzen, wonach für die Hauptverhandlung vor dem Einzelrichter des Landesgerichts keine notwendige Verteidigung (§ 61 Abs 1 Z 5 StPO) bestand (ON 16), eine durch diese Vernehmung ausgelöste Beeinträchtigung der Verteidigung des (volljährigen) und auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten für das Gericht per se nicht erkennbar war und eine begründete Antragstellung (vgl § 489 Abs 1 StPO iVm § 281 Abs 1 Z 4 StPO) auf Vertagung der Hauptverhandlung (etwa zur besseren Vorbereitung des Angeklagten auf die unvermittelt angeordnete Vernehmung seiner Verteidigerin als Zeugin oder zur Beiziehung eines weiteren Wahlverteidigers) unterblieben war. Die Unterlassung der Ausschöpfung aller effektiven Rechtsbehelfe zieht somit auch in diesem Punkt den Verlust der Beschwerdemöglichkeit nach sich.

Soweit die Äußerungen der Verurteilten Francisca S*****-M***** und Hans Jörg St***** zur Stellungnahme der Generalprokuratur ergänzend die Unzulässigkeit eines Einspruchs wegen Rechtsverletzung behaupten, ist zu erwidern, dass sich § 107 Abs 1 erster Satz StPO lediglich auf (iSd §§ 190 ff StPO) beendete Ermittlungsverfahren bezieht, während das Vorliegen eines Abschlussberichts der Kriminalpolizei (§ 100 Abs 2 Z 4 StPO) die Zulässigkeit eines Einspruchs nicht tangiert.

Aus dem Argument, das Oberlandesgericht wäre „verhalten gewesen, die aufgezeigte Gesetzesverletzung von Amts wegen ... aufzugreifen“, ist nichts zu gewinnen, weil selbst unter Zugrundelegung einer entsprechenden (im Übrigen nur für materiellrechtliche Nichtigkeit nach § 281 Abs 1 Z 9 bis 11 StPO, nicht jedoch eine nach § 281 Abs 1 Z 1 StPO geltend zu machende Behauptung der Ausgeschlossenheit eines Richters iSd § 43 StPO gegebenen) Verpflichtung des Rechtsmittelgerichts in diesem Fall der begehrten Verfahrenserneuerung dennoch das Fehlen der Erschöpfung des Rechtswegs entgegenstünde (vgl Grabenwarter/Pabel EMRK 5 § 13 Rz 34).

In Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur waren daher die Erneuerungsanträge der Francisca S*****-M*****, des Tran Q***** P***** und des Hans Jörg St***** bereits bei nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 1 und 2 Z 3 StPO).

Der auf § 363a Abs 1 iVm § 362 Abs 5 StPO gestützte Antrag des Hans-Jörg St***** auf Hemmung des Strafvollzugs war ebenfalls zurückzuweisen. Zwar kann aus dem Gesetz die Befugnis des Obersten Gerichtshofs zur Entscheidung über die Hemmung des Strafvollzugs auch im Fall eines auf § 363a StPO gestützten Antrags abgeleitet werden, nicht aber ein darauf gerichtetes Antragsrecht des Erneuerungswerbers (vgl § 357 Abs 3 StPO; RIS-Justiz RS0125705).

Rechtssätze
6
  • RS0122737OGH Rechtssatz

    18. März 2024·3 Entscheidungen

    Bei einem nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag handelt es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf. Demgemäß gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß auch für derartige Anträge. So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung angerufen werden. Hieraus folgt für die Fälle, in denen die verfassungskonforme Auslegung von Tatbeständen des materiellen Strafrechts in Rede steht, dass diese Problematik vor einem Erneuerungsantrag mit Rechts- oder Subsumtionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 9 oder Z 10, § 468 Abs 1 Z 4, § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO) geltend gemacht worden sein muss. Steht die Verfassungskonformität einer Norm als solche in Frage, hat der Angeklagte unter dem Aspekt der Rechtswegausschöpfung anlässlich der Urteilsanfechtung auf die Verfassungswidrigkeit des angewendeten Strafgesetzes hinzuweisen, um so das Rechtsmittelgericht zu einem Vorgehen nach Art 89 Abs 2 B-VG zu veranlassen. Wird der Rechtsweg im Sinn der dargelegten Kriterien ausgeschöpft, hat dies zur Folge, dass in Strafsachen, in denen der Oberste Gerichtshof in zweiter Instanz entschieden hat, dessen unmittelbarer (nicht auf eine Entscheidung des EGMR gegründeter) Anrufung mittels Erneuerungsantrags die Zulässigkeitsbeschränkung des Art 35 Abs 2 lit b erster Fall MRK entgegensteht, weil der Antrag solcherart „im wesentlichen" mit einer schon vorher vom Obersten Gerichtshof geprüften „Beschwerde" übereinstimmt.