JudikaturJustiz15Os111/17p

15Os111/17p – OGH Entscheidung

Entscheidung
14. März 2018

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. März 2018 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Ettel als Schriftführerin in der Strafsache gegen Ingeborg S***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB, AZ 6 U 2/15y des Bezirksgerichts Braunau am Inn, über den Antrag der Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Am 1. Oktober 2014 stellte die Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis das gegen Ingeborg S***** wegen § 88 Abs 1 StGB geführte Ermittlungsverfahren AZ 31 BAZ 858/14h gemäß § 190 Z 1 StPO (aus dem Grund des § 88 Abs 2 Z 3 StGB idF BGBl I 2010/111) ein (ON 1 S 1).

Mit in Rechtskraft erwachsener Strafverfügung vom 20. Oktober 2014, AZ VerkR96 7318 2014 Vku, verhängte die Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn über Ingeborg S***** wegen der Verwaltungsübertretung nach § 99 Abs 2c Z 5 (§ 19 Abs 7 iVm Abs 4) StVO eine Geldstrafe, weil die Genannte am 23. Juli 2014 in St. ***** als wartepflichtige Lenkerin durch Einbiegen in eine Kreuzung, vor der sich das Vorschriftszeichen „Halt“ befindet, einem bevorrangten Fahrzeug den Vorrang nicht gegeben und dieses zu unvermitteltem Bremsen genötigt hat, wodurch es zu einer Gefährdung der Verkehrssicherheit gekommen ist (Blg I./ zu ON 14).

Am 5. November 2014 führte die Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis über Antrag der Opfer Günter K***** und Brigitte K***** das Ermittlungsverfahren gemäß § 195 Abs 3 erster Satz StPO fort und verständigte hievon die Beschuldigte (ON 1 S 2). Nachdem diese ein am 12. November 2014 erstattetes Anbot zur diversionellen Erledigung durch Zahlung eines Geldbetrags (§ 200 Abs 4 StPO) nicht angenommen hatte (ON 1 S 2), brachte die Staatsanwaltschaft am 29. Dezember 2014 einen Strafantrag ein, mit dem sie Ingeborg S***** zur Last legte, am 23. Juli 2014 in St. ***** dadurch, dass sie mit ihrem PKW infolge Unachtsamkeit gegen den bevorrangten und von Günter K***** gelenkten PKW stieß und dieser in weiterer Folge gegen den PKW von Michael O***** gestoßen wurde, Günter K*****, Brigitte K***** und Michael O***** fahrlässig am Körper verletzt zu haben (ON 11).

Mit Bescheid vom 3. März 2015 hob die Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn die rechtskräftige Strafverfügung gemäß § 52a Abs 1 VStG von Amts wegen auf (ON 16).

Das Bezirksgericht Braunau am Inn führte in der gegenständlichen Strafsache am 2. März 2015 eine Hauptverhandlung durch, die es auf unbestimmte Zeit vertagte (ON 14). Nach einer gemäß § 276a zweiter Satz StPO am 13. Oktober 2015 und am 24. August 2016 neu durchgeführten Verhandlung wurde Ingeborg S***** mit Urteil dieses Gerichts vom 24. August 2016 – soweit für die Entscheidung über den Erneuerungsantrag von Bedeutung – wegen „des“ (richtig: jeweils eines) Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB und nach § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB „in der Fassung vor dem Strafrechtsänderungsgesetz“ (s aber § 61 zweiter Satz StGB) schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Danach hat sie am 23. Juli 2014 in St. ***** dadurch, dass sie mit ihrem PKW infolge Unachtsamkeit gegen den bevorrangten und von Günter K***** gelenkten PKW stieß, fahrlässig Brigitte K***** leicht in Form einer Halswirbelsäulenzerrung und Gurtprellung, und Günter K***** schwer in Form einer Schädelprellung sowie Wirbelsäulenzerrung mit unverschobener Deckplattenimpression des zweiten Lendenwirbels, am Körper verletzt.

Ihrer dagegen erhobenen Berufung wegen Nichtigkeit (§ 468 Abs 1 Z 4 iVm § 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO) gab das Landesgericht Ried im Innkreis als Berufungsgericht mit Urteil vom 27. Februar 2017, AZ 22 Bl 34/16p nicht Folge, wobei es das Vorliegen eines Verfolgungshindernisses verneinte.

Rechtliche Beurteilung

Der rechtzeitig gestellte, Verletzungen der Art 6 und 13 MRK sowie des Art 4 7. ZPMRK behauptende Antrag der Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO per analogiam (RIS-Justiz RS0122228) ist aus nachstehenden Gründen offenbar unbegründet:

Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO setzt (auch in seinem erweiterten Anwendungsbereich) eine Grundrechtsverletzung durch eine

Entscheidung oder

Verfügung eines (untergeordneten)

Strafgerichts voraus (RIS Justiz RS0128957).

Soweit sich der Antrag somit gegen die Fortführung des Ermittlungsverfahrens, die Stellung eines Diversionsanbots sowie die Einbringung eines Strafantrags durch die Staatsanwaltschaft richtet und darin wegen „Anklageverbrauchs“ infolge der ursprünglich gemäß § 190 Z 1 StPO erfolgten Verfahrenseinstellung einen Verstoß gegen das Doppelverfolgungsverbot nach Art 4 7. ZPMRK erblickt, nimmt er nicht auf eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichts Bezug. Gleiches gilt für die (auch als Verletzung des Art 6 MRK geltend gemachte) Kritik an der Verständigung der Bezirkshauptmannschaft von der Einstellung des Ermittlungsverfahrens vor Ablauf der Frist nach § 195 Abs 2 StPO und das Unterbleiben der Zustellung des Fortführungsantrags an Ingeborg S***** vor dem Vorgehen gemäß § 195 Abs 3 erster Satz StPO. Der in diesem Zusammenhang ins Treffen geführten Entscheidung 13 Os 69/14t, 70/14i lag im Übrigen eine Verfahrensfortführung durch das Gericht gemäß § 196 Abs 1 StPO, nicht aber eine solche durch die Staatsanwaltschaft im abgekürzten Verfahren (§ 195 Abs 3 StPO) zugrunde.

Zum vom Erneuerungsantrag angesprochenen Recht auf wirksame Beschwerde (Art 13 MRK) im Zusammenhang mit der aus Sicht der Antragstellerin grundrechtswidrigen Verfahrensfortführung bleibt anzumerken, dass sich Beschuldigte gegen eine von der Staatsanwaltschaft gemäß § 195 Abs 3 StPO angeordnete Fortführung mit Einspruch wegen Rechtsverletzung (§ 106 f StPO) zur Wehr setzen können ( Nordmeyer , WK-StPO § 196 Rz 35, § 193 Rz 5).

Kein Verstoß gegen Art 4 7. ZPMRK kann – dem Antrag zuwider – aus der gerichtlichen Verfolgung und rechtskräftigen Verurteilung der Erneuerungswerberin trotz ursprünglich durch die Staatsanwaltschaft erfolgter Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 190 Z 1 StPO abgeleitet werden, weil eine solche Verfahrenseinstellung nur dann Sperrwirkung im Sinn des Prinzips „ne bis in idem“ (vgl auch § 17 Abs 1 StPO) entfaltet, wenn eine formlose Fortführung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 193 Abs 2 Z 1 StPO nicht mehr möglich ist und kein Fall der Fortführung nach § 193 Abs 2 Z 2 oder nach §§ 195 f StPO (hier: § 195 Abs 3 erster Satz StPO; siehe auch § 17 Abs 2 StPO) vorliegt (RIS-Justiz RS0129011; Birklbauer , WK StPO § 17 Rz 39 und 45 f; Nordmeyer , WK-StPO § 190 Rz 20 ff; Lewisch , WK-StPO Vor §§ 352–363 Rz 99; vgl aber auch RIS Justiz RS0131071 und Grabenwarter/Pabel , EMRK 6 § 24 Rz 164 f).

Der in diesem Zusammenhang erhobene – im gerichtlichen Verfahren als Verfolgungshindernis beachtliche (§ 451 Abs 2 StPO; vgl RIS-Justiz RS0129011 [T2]; Birklbauer , WK-StPO § 17 Rz 62) – Einwand, das Ermittlungsverfahren hätte mangels gesetzeskonformer Ausführung der von den Opfern gestellten Anträge nach § 195 Abs 2 StPO nicht fortgeführt werden dürfen, scheitert schon an der (vertikalen) Erschöpfung des Rechtswegs, weil das Vorgehen der Staatsanwaltschaft durch den effektiven, jedoch nicht ergriffenen Rechtsbehelf des Einspruchs wegen Rechtsverletzung (§§ 106 f StPO) überprüfbar gewesen wäre (RIS-Justiz RS0122737; Grabenwarter/Pabel EMRK 6 § 13 Rz 28; Nordmeyer , WK-StPO § 190 Rz 20 und § 196 Rz 35; Ratz , WK-StPO § 281 Rz 634/1). Zum weiteren Antragsvorbringen wird aber angemerkt, dass die Fortführung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft mit Blick auf den (schon nach der Aktenlage rechtzeitigen) Antrag des Günter K*****, mit dem ein MRT-Untersuchungsbericht vom 6. August 2014 beigebracht wurde, der (im Zusammenhalt mit den übrigen Verfahrensergebnissen) die vom Fortführungswerber behauptete (ON 8) 14 Tage übersteigende Gesundheitsschädigung nahelegt, somit ein Vorgehen nach dem elften oder zwölften Hauptstück der StPO geeignet erscheinen lässt, gemäß § 195 Abs 1 Z 3 und Abs 3 erster Satz StPO zu Recht erfolgt ist (vgl RIS-Justiz RS0130196).

Das von der Erneuerungswerberin ins Treffen geführte Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 11. Februar 2003, C 187/01 und C 385/01, ist nicht präjudiziell, weil es die Auslegung des Art 54 SDÜ und die Zulässigkeit der Verfolgung einer Tat durch eine Vertragspartei nach diversioneller Erledigung derselben in einem anderen Vertragsstaat betrifft (vgl dazu im Übrigen RIS-Justiz

RS0119098, RS0125413).

Weshalb die strafgerichtliche Verurteilung der Erneuerungswerberin, die erst erfolgte, nachdem die Strafverfügung der Verwaltungsbehörde (von Amts wegen) aufgehoben worden war, eine Verletzung des Doppelbestrafungsverbots darstellen soll (zur Beseitigung von Verfolgungshindernissen vgl RIS-Justiz RS0116748 [T1], RS0122567 [T7]; RS0115915 [T1]), wird nicht dargelegt.

Zutreffend weist der Antrag jedoch darauf hin, dass der Durchführung der Hauptverhandlung am 2. März 2015 die (rechtswirksame) verwaltungsbehördliche Strafverfügung entgegenstand, weil bei tateinheitlichem Zusammentreffen der Nichtbeachtung des Vorschriftszeichens „Halt“ als Lenker eines Fahrzeugs (§ 99 Abs 2c Z 5 iVm § 19 Abs 4 und 7 StVO) und den dadurch fahrlässig verschuldeten Körperverletzungen zweier Personen (§ 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB) die Verwaltungsübertretung zufolge der in § 99 Abs 6 lit c StVO ausdrücklich statuierten Subsidiarität von der – somit nur scheinbar ideell konkurrierenden – strafbaren Handlung nach § 88 StGB verdrängt wird, sodass gesetzmäßig nur wegen des gerichtlichen Tatbestands verfolgt werden hätte dürfen (vgl RIS-Justiz RS0115915, RS0116747; zum Verhältnis von Justiz- und Verwaltungsstrafverfahren siehe Thienel/Hauenschild , JBl 2004, 69). Solange jedoch die verwaltungsbehördliche Bestrafung rechtswirksam war, stand der strafgerichtlichen Verfolgung das Verbot des Art 4 7. ZPMRK entgegen, nicht erneut vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden (15 Os 144/14m). Dieses Verfolgungshindernis fiel durch die mit Bescheid vom 3. März 2015 der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn erfolgte Aufhebung der rechtskräftigen Strafverfügung gemäß § 52a Abs 1 VStG weg. Die Geltendmachung dieser grundrechtswidrigen Doppelverfolgung im Rahmen des subsidiären Rechtsbehelfs der Erneuerung des Strafverfahrens scheitert aber an der Unterlassung der (vertikalen) Erschöpfung des Rechtswegs, weil – wie bereits dargelegt – die der gerichtlichen Verfolgung zugrunde liegende Fortführung des Ermittlungsverfahrens trotz Bestehens des verwaltungsbehördlichen Straferkenntnisses durch einen effektiven, gegenständlich aber nicht ergriffenen Rechtsbehelf (§§ 106 f StPO) überprüfbar gewesen wäre (vgl neuerlich RIS-Justiz RS0122737; Grabenwarter/Pabel EMRK 6 § 13 Rz 28; Birklbauer , WK-StPO § 17 Rz 64; Nordmeyer , StPO § 190 Rz 20 und § 196 Rz 35; Ratz , WK-StPO § 281 Rz 634/1).

Der Erneuerungsantrag war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

Rechtssätze
8
  • RS0122737OGH Rechtssatz

    18. März 2024·3 Entscheidungen

    Bei einem nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag handelt es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf. Demgemäß gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß auch für derartige Anträge. So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung angerufen werden. Hieraus folgt für die Fälle, in denen die verfassungskonforme Auslegung von Tatbeständen des materiellen Strafrechts in Rede steht, dass diese Problematik vor einem Erneuerungsantrag mit Rechts- oder Subsumtionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 9 oder Z 10, § 468 Abs 1 Z 4, § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO) geltend gemacht worden sein muss. Steht die Verfassungskonformität einer Norm als solche in Frage, hat der Angeklagte unter dem Aspekt der Rechtswegausschöpfung anlässlich der Urteilsanfechtung auf die Verfassungswidrigkeit des angewendeten Strafgesetzes hinzuweisen, um so das Rechtsmittelgericht zu einem Vorgehen nach Art 89 Abs 2 B-VG zu veranlassen. Wird der Rechtsweg im Sinn der dargelegten Kriterien ausgeschöpft, hat dies zur Folge, dass in Strafsachen, in denen der Oberste Gerichtshof in zweiter Instanz entschieden hat, dessen unmittelbarer (nicht auf eine Entscheidung des EGMR gegründeter) Anrufung mittels Erneuerungsantrags die Zulässigkeitsbeschränkung des Art 35 Abs 2 lit b erster Fall MRK entgegensteht, weil der Antrag solcherart „im wesentlichen" mit einer schon vorher vom Obersten Gerichtshof geprüften „Beschwerde" übereinstimmt.