JudikaturJustiz14Os112/21h

14Os112/21h – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. November 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. November 2021 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Nordmeyer, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz Hummel LL.M. sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Vizthum in der Strafsache gegen ***** S***** wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 und 2 erster Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 12. Juli 2021, GZ 86 Hv 3/21x 58, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Aus deren Anlass wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in der Subsumtion der vom Schuldspruch I./ umfassten Tat auch nach § 87 Abs 2 erster Fall StGB, demzufolge auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung) und in der Anordnung der Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 2 StGB aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Ihm fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde ***** S***** – soweit für das Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerde relevant – des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 und 2 erster Fall StGB (I./) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er am 1. Jänner 2021 in W*****

I./ ***** M***** eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) absichtlich zugefügt, indem er ihm Fußtritte versetzte, ihm mit einem Messer mit 8 cm Klingenlänge einen Schnitt im Gesichtsbereich zufügte und nochmals versuchte, auf ihn einzustechen, wodurch dieser eine etwa 5 cm lange Schnittwunde an der linken Wange und eine oberflächliche Schnittwunde an der Nasenspitze erlitt, wobei die Tat

A./ eine schwere Dauerfolge im Sinne einer auffallenden Verunstaltung (§ 85 Abs 1 Z 2 StGB), nämlich eine aus der Schnittwunde resultierende ästhetisch nachteilige Narbenbildung im Gesicht, die geeignet ist, die Aufmerksamkeit dritter Personen auf sich zu lenken, sowie

B./ eine krankheitswertige psychische Folgestörung in Form einer länger andauernden ängstlich-depressiven Reaktion mit Zeichen der posttraumatischen Belastungsstörung, die mit einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung einhergeht, sohin eine schwere Körperverletzung nach § 84 Abs 1 StGB zur Folge hatte.

Rechtliche Beurteilung

[3] Ausdrücklich nur gegen diesen Schuldspruch richtet sich die aus Z 5 und 5a des § 281 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der keine Berechtigung zukommt.

[4] Mängel- und Tatsachenrüge wenden sich ausschließlich gegen die Feststellung zur Absicht des Angeklagten, dem Opfer „eine länger als 24 Tage andauernde krankheitswertige Beeinträchtigung (Gesundheitsschädigung) ..., nämlich die festgestellte krankheitswertige psychische Folgestörung“, zuzufügen (US 9), und sprechen damit keine entscheidende Tatsache an (zum Begriff Ratz , WK StPO § 281 Rz 398 ff).

[5] Denn mit Blick auf die – unbekämpft gebliebenen – weiteren Urteilskonstatierungen, nach denen es dem Beschwerdeführer bei der inkriminierten Attacke zudem darauf ankam, „M***** ... an seinem Körper sehr erheblich (an sich schwer) zu verletzten, nämlich mit einer daraus resultierenden tiefen Schnittverletzung in seiner sensiblen Gesichtsgegend auch unter Verletzung von unter der Haut verlaufenden Arterien und Nervengewebe“ (US 9), ist eine auf weitere (schwere) Verletzungsfolgen im psychischen Bereich gerichtete Täterintention für die rechtliche Beurteilung des inkriminierten Verhaltens als Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB nicht von Bedeutung, sodass selbst der Wegfall der bekämpften Konstatierung nichts am diesbezüglichen Schuldspruch ändern würde. Dass der angestrebte physische Verletzungserfolg (mangels Durchtrennung relevanter Nerven oder Blutgefäße) tatsächlich nicht in der beabsichtigten Form eintrat (US 8 f), ändert daran übrigens – mangels Anhaltspunkten für das Fehlen objektiver Zurechenbarkeit der durch den Angriff tatsächlich erlittenen (zur Ursächlichkeit erneut US 8 f) schweren Verletzung – nichts (vgl dazu Burgstaller/Schütz in WK² StGB § 87 Rz 13; Messner SbgK § 87 Rz 44; zur Ursächlichkeit als Grundlage objektiver Erfolgszurechnung vgl für viele: 14 Os 20/11i; zu deren Einordnung als negative Tatbestandsvoraussetzung: RIS Justiz RS0121423).

[6] Davon abgesehen begegnet die Ableitung der bekämpften Feststellung zur subjektiven Tatseite aus dem (detailliert dargestellten, US 8 f) objektiven Tatgeschehen im Verein mit allgemeiner Lebenserfahrung hinsichtlich des im konkreten Fall zu erwartenden Eintritts schwerer psychischer Folgeschäden (US 20) – entgegen dem Standpunkt der Mängelrüge (Z 5 vierter Fall) – unter dem Aspekt der Begründungstauglichkeit keinen Bedenken (RIS Justiz RS0116882).

[7] Die Tatsachenrüge (Z 5a) erschöpft sich in einem Verweis auf das Vorbringen der Mängelrüge (vgl aber RIS Justiz RS0115902) und leitet Bedenken ohne direkten Bezug zu aktenkundigem Beweismaterial bloß aus Erwägungen der Tatrichter und dem angeblichen Fehlen von Beweismitteln „oder auch nur“ Indizien für die vom Erstgericht bejahte Absicht auf Zufügung schwerer psychischer Folgeschäden ab, womit sie den Anfechtungsrahmen des in Anspruch genommenen Nichtigkeitsgrundes verfehlt (RIS Justiz RS0119424, RS0119310).

[8] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).

[9] Aus deren Anlass überzeugte sich der Oberste Gerichtshof, dass das angefochtene Urteil zu I./ einen nicht geltend gemachten Subsumtionsfehler (Z 10) zum Nachteil des Angeklagten aufweist, der von Amts wegen wahrzunehmen war (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO):

[10] Die Annahme der Erfolgsqualifikation des § 87 Abs 2 erster Fall StGB iVm § 85 Abs 1 Z 2 StGB setzt voraus, dass die Tat für „immer“ oder „für lange Zeit“ eine erhebliche Verstümmelung oder eine auffallende Verunstaltung zur Folge hat. „Für immer“ bedeutet auf Lebenszeit des Verletzten. Die von § 85 StGB alternativ geforderte „lange Zeit“ kann durch einen Zeitraum als erfüllt angesehen werden, der von der durchschnittlich zu erwartenden weiteren Lebensdauer des Opfers einen wesentlichen Teil einnimmt. Die dabei anzustellende Prognose, dass die auffällige Verunstaltung – wenn auch nicht mit an Sicherheit grenzender, so doch – mit großer Wahrscheinlichkeit lange Zeit andauern wird, hat auf Basis des neuesten Standes der Medizin zum Zeitpunkt des Urteils der (letzten) Tatsacheninstanz zu erfolgen (zum Ganzen Burgstaller/Schütz in WK² StGB § 85 Rz 11 f, 18 f mwN; Kienapfel/Schroll StudB BT I 4 § 85 Rz 5; RIS Justiz RS0092616).

[11] Die insoweit unter Verwendung der verba legalia getroffene Feststellung, wonach es als Folge der 5 cm langen Schnittwunde an der linken Wange zu einer ästhetisch nachteiligen Narbenbildung kam, die die Aufmerksamkeit dritter Personen auf sich zu lenken geeignet ist, wodurch M***** „zumindest eine lange Zeit“ eine auffallende Verunstaltung davon trug (US 8 f),

stellt den unter dem Aspekt rechtsrichtiger Subsumtion erforderlichen

Sachverhaltsbezug (RIS Justiz RS0119090) betreffend die mit großer Wahrscheinlichkeit zu befürchtende Dauer der Beeinträchtigung des (am ***** geborenen; ON 39 S 1) Opfers in Relation zu dessen (durchschnittlich) verbleibender Lebensspanne nicht her, und vermag solcherart die Annahme der Qualifikation des § 87 Abs 2 erster Fall StGB nicht zu tragen.

[12] Dieser Rechtsfehler mangels Feststellungen erfordert die Aufhebung des Urteils im aus dem Spruch ersichtlichen Umfang (zur Aufhebung auch des Ausspruchs nach § 21 Abs 2 StGB vgl RIS Justiz RS0115054 [T4]) schon bei der nichtöffentlichen Beratung (§§ 285e, 290 StPO).

[13] Der Zuspruch von 9.020 Euro an den Privatbeteiligten M***** bezieht sich mit hinreichender Deutlichkeit auf die durch die Verletzungen erlittenen Schmerzen des Tatopfers (US 27 iVm US 9) und findet daher im nicht aufgehobenen Teil des Schuldspruchs (wegen § 87 Abs 1 StGB) Deckung, womit er insoweit nicht der Kassation verfallen musste (§ 289 StPO; Ratz , WK StPO § 289 Rz 7).

[14] Mit seiner Berufung war der Angeklagte auf diese Entscheidung zu verweisen.

[15] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO. Die Ersatzpflicht erstreckt sich nicht auf die mit dem amtswegigen Vorgehen verbundenen Kosten (RIS Justiz RS0101558).

Rechtssätze
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