JudikaturJustiz11Os9/13b

11Os9/13b – OGH Entscheidung

Entscheidung
24. Januar 2013

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. Jänner 2013 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab und Mag. Lendl als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Niegl als Schriftführer, in der Strafsache gegen Mario U***** wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB, und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 12 HR 209/12p des Landesgerichts St. Pölten, über die Grundrechtsbeschwerde des Genannten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 17. Dezember 2012, AZ 18 Bs 549/12k (ON 26 der HR Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Mario U***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.

Dem Bund wird der Ersatz der Beschwerdekosten von 800 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.

Text

Gründe:

Der Haft und Rechtsschutzrichter des Landesgerichts St. Pölten verhängte am 16. November 2012 über Mario U***** die Untersuchungshaft wegen des Verdachts der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 (richtig nur) Abs 1 StGB und der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB aus den Haftgründen der Verdunkelungsgefahr sowie der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 2, Z 3 lit b StPO (ON 10). Danach besteht gegen Mario U***** der dringende Verdacht, er habe in den Jahren 2002 bis 2009 in St. Pölten und anderen Orten in Österreich mit seiner am 10. November 1993 geborenen Stieftochter Stephanie B***** wiederholt analen, oralen und vaginalen Geschlechtsverkehr unternommen, indem ihn die zunächst (bis 10. November 2007) Unmündige oral und mit der Hand (soweit nicht tateinheitlich wohl § 207 Abs 1 StGB) befriedigte sowie von ihm mit Penis, Vibrator und Finger vaginal und anal penetriert wurde.

In der Haftverhandlung vom 26. November 2012 (ON 16) wurde die Untersuchungshaft unter Anwendung gelinderer Mittel, nämlich der Weisungen, keinerlei Kontakt zu Dominik und Sarah R*****, den Kindern seiner derzeitigen Lebensgefährtin, aufzunehmen sowie deren Wohnsitz samt näherer Umgebung nicht zu betreten bzw zu meiden, aufgehoben (ON 18).

Der dagegen von der Staatsanwaltschaft St. Pölten am 29. November 2011 erhobenen Beschwerde (ON 22), die dem Beschuldigten (bzw seinem Vertreter) ebenso wenig zugestellt wurde wie die Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft Wien vom 13. Dezember 2012 (die sich inhaltlich den Erwägungen der Staatsanwaltschaft St. Pölten anschloss), gab das Oberlandesgericht Wien mit dem angefochtenen Beschluss vom 17. Dezember 2012 Folge, hob den bekämpften Beschluss des Landesgerichts St. Pölten auf und trug diesem die „Verhängung“ (richtig: Fortsetzung vgl RIS Justiz RS0097645, Kirchbacher/Rami , WK StPO § 176 Rz 13) der Untersuchungshaft über Mario U***** gemäß § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO auf (ON 26).

Der am 26. November 2012 enthaftete Beschuldigte wurde am 29. Dezember 2012 wieder festgenommen (ON 33) und über ihn mit Beschluss vom 30. Dezember 2012 (ON 35) die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO „verhängt“ (zur Haftfrist vgl Kirchbacher/Rami , WK StPO § 175 Rz 8, RIS Justiz RS0097630).

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 17. Dezember 2012, AZ 18 Bs 549/12k, ON 26 der HR Akten, wurde dem Beschuldigten im Rahmen seiner Vernehmung am 30. Dezember 2012 ausgehändigt (ON 34 S 3) und seinem Verteidiger mit Verfügung vom 30. Dezember 2012 zugestellt (ON 1 S 12).

Rechtliche Beurteilung

Gegen den angeführten Beschluss des Oberlandesgerichts Wien richtet sich die am 3. Jänner 2013 eingebrachte Grundrechtsbeschwerde des Mario U***** (ON 39), mit der er den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien „zur Gänze“ anficht (vgl zur Zulässigkeit RIS Justiz RS0116263).

Hinsichtlich des dringenden Tatverdachts führt der Beschwerdeführer aus, er hätte im Falle der Zustellung der Beschwerde sowie der dazu erstatteten Äußerung der Oberstaatsanwaltschaft darlegen können, dass die Darstellung des Opfers wohl dessen „Fantasie entspricht“, auf eine geänderte familiäre Situation zurückzuführen sei, ein behaupteter Aufklärungsunterricht nicht stattgefunden habe und die inkriminierten Sexualkontakte von der Körperhaltung her nicht nachvollziehbar seien. Damit wird ein Begründungsmangel in der Bedeutung der Z 5 und 5a des § 281 Abs 1 StPO nicht aufgezeigt, sondern lediglich mit eigenen beweiswürdigenden Erwägungen die Glaubwürdigkeit des Opfers in Frage gestellt, worauf allerdings bei Erledigung einer Grundrechtsbeschwerde nicht einzugehen ist (RIS Justiz RS0110146; Kier in WK² GRBG § 2 Rz 26 ff).

Der abstrakt gebliebenen Bestreitung des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO ist entgegenzuhalten, dass die rechtliche Annahme einer der von § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens lediglich insoweit zu bekämpfen und zu überprüfen ist, ob sie aus den in der angefochtenen Entscheidung angeführten bestimmten Tatsachen abgeleitet werden durfte, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als unvertretbar angesehen werden müsste (RIS Justiz RS0117806; Kier in WK² GRBG § 2 Rz 49 ff eine solche Willkür wird indes in der allein dafür beachtlichen Grundrechtsbeschwerde nicht vorgebracht, vgl Kier in WK 2 GRBG § 3 Rz 13, 16, 26).

Im Ergebnis zutreffend kritisiert die Grundrechtsbeschwerde hingegen die Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens ohne Gewährung rechtlichen Gehörs.

Gemäß § 89 Abs 5 zweiter Satz StPO hat das Rechtsmittelgericht dem Gegner der Beschwerde grundsätzlich Gelegenheit zur Äußerung binnen sieben Tagen einzuräumen, also auch dem Beschuldigten bei einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss, mit dem die Untersuchungshaft aufgehoben wurde (Tipold, WK StPO § 89 Rz 3). Die Stellungnahme einer (gegenständlich Ober-)Staatsanwaltschaft ist dem gegnerischen Beteiligten zur Äußerung binnen einer angemessen festzusetzenden Frist zuzustellen (§ 24 StPO).

Von dieser Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl § 6 Abs 2 1. Satz StPO; RIS Justiz RS0120050) darf im Beschwerdeverfahren nur abgesehen werden, wenn der Gegenstand der Beschwerde auf die Bewilligung einer Anordnung gerichtet ist, deren Erfolg voraussetzt, dass sie dem Gegner der Beschwerde vor ihrer Durchführung nicht bekannt wird (§ 89 Abs 5 zweiter Satz iVm Abs 2a Z 4 StPO).

Das Oberlandesgericht hat mit dem bloßen Hinweis, eine Zustellung der Beschwerde der Staatsanwaltschaft und der Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft an den Beschuldigten hätte „im Hinblick auf § 89 Abs 5 letzter Satz iVm Abs 2a Z 4 StPO“ zu unterbleiben gehabt, das Vorliegen der Voraussetzungen dafür, dem Beschuldigten (ausnahmsweise) kein Äußerungsrecht einzuräumen, zwar offenbar bejaht, diese Annahme jedoch nicht begründet, sodass mangels Darlegung der dafür maßgeblichen Sachverhaltsgrundlage deren Überprüfung nicht möglich ist (vgl neuerlich RIS-Justiz RS0117806).

Wird die Zustellung der Beschwerde der Staatsanwaltschaft und der dazu ergangenen Äußerung der Oberstaatsanwaltschaft vom Oberlandesgericht ohne nachvollziehbares Vorliegen der Voraussetzungen des § 89 Abs 5 zweiter Satz iVm Abs 2a Z 4 StPO unterlassen, ist von einer mit Grundrechtsbeschwerde aufgreifbaren Grundrechtsverletzung auszugehen, weil der Beschuldigte solcherart in seinem Recht, inhaltliche Gegenargumente zur Haftfrage vorzubringen und folglich in seinem Recht, dass die Freiheitsentziehung ausschließlich auf die im Gesetz vorgesehene Weise erfolgt, beschnitten wird, worin eine Verletzung nicht nur von Art 6, sondern auch von Art 5 MRK zu erblicken ist (vgl Kier in WK² GRBG § 2 Rz 113; nur auf Art 6 MRK abstellend RIS Justiz RS0101055; Anhaltspunkte für sachbezogene Differenzierungen in EBRV 231 BlgNR XXIII. GP, 5 [BGBl I 2007/93]).

Es war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur der Grundrechtsbeschwerde insofern stattzugeben und jedoch ohne Aufhebung des angefochtenen Beschlusses (RIS Justiz RS0119858, RS0112914; Kier in WK² GRBG § 7 Rz 6 ff) auszusprechen, dass Mario U***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.

Durch die im Fall des § 7 Abs 2 GRGB mit der Feststellung einer Grundrechtsverletzung von Gesetzes wegen verbundene Anordnung umgehend erneuter Haftprüfung (durch das Erstgericht im Rahmen einer Haftverhandlung) wird die Entscheidung einer kassatorischen Erledigung so weit wie möglich angenähert, um das Bemühen der Gerichte, einen Ausgleich für die festgestellte Grundrechtsverletzung zu finden, zu unterstreichen, dem Beschwerdeführer sohin die Erstattung umfassenden Vorbringens auch in Ansehung der Argumente der Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerde und der Oberstaatsanwaltschaft in der dazu erstatteten Äußerung zu ermöglichen und das Fortwirken der Grundrechtsverletzung zu unterbinden (vgl RIS Justiz RS0119858).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 8 GRBG.

Rechtssätze
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  • RS0120050OGH, AUSL EGMR Rechtssatz

    22. Mai 2020·3 Entscheidungen

    Der für die Einschränkung der persönlichen Freiheit aus grundrechtlicher Sicht maßgebliche Art 5 Abs 2 MRK (vgl auch Art 4 Abs 3 PersFrSchG) sieht ein Informationsrecht des Verhafteten innerhalb kurzer Zeit nach Festnahme vor. Dieses Informationsrecht erstreckt sich auch auf eine richterliche Prüfung der Fortdauer der Haft im Sinn des Art 5 Abs 4 MRK beziehungsweise Art 6 PersFrSchG als Ausfluss des in diesem Verfahren zu gewährenden rechtlichen Gehörs. Erachtet das Gericht, dass sich die Haftgründe ändern, so ist dies dem Festgenommenen mitzuteilen, damit er seine Verteidigung auf die neue Sachlage einstellen kann. Dies entspricht im Wesentlichen der (insoweit aus Art 6 Abs 1 MRK abgeleiteten) Pflicht des erkennenden Gerichts, dem Angeklagten eine im Vergleich zur von der Staatsanwaltschaft in der Anklage eingenommenen rechtlichen Position in Erwägung gezogene andere rechtliche Beurteilung des angeklagten Sachverhalts im Verfahren offen zu legen (§ 262 StPO), um mit Blick auf die Fairness des Verfahrens der Verteidigung entsprechende Reaktionen darauf zu ermöglichen. § 180 Abs 1 StPO legt daher in Umsetzung dieser grundrechtlichen Vorgaben fest, dass der Beschuldigte vor der Beschlussfassung zu den Voraussetzungen der Untersuchungshaft und damit auch über die in Aussicht genommenen beziehungsweise von der Staatsanwaltschaft vorgebrachten Haftgründe zu befragen ist. Ungeachtet des Umstands, dass Art 5 MRK eine Überprüfung der Haftentscheidung durch eine Rechtsmittelinstanz nicht vorschreibt, sind die im Art 5 Abs 4 MRK vorgegebenen Grundsätze auch im Beschwerdeverfahren zu beachten, wenn - wie in Österreich - ein Instanzenzug vorgesehen ist. Dies auch, wenn das Beschwerdegericht lediglich eine Variante des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr durch eine andere zu ersetzen beabsichtigt.