JudikaturJustiz11Os78/19h

11Os78/19h – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. Juni 2019

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 25. Juni 2019 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter, in Gegenwart der Schriftführerin OKontr. Kolar, in der Strafsache gegen Thomas S***** wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, AZ 22 U 80/18x des Bezirksgerichts Favoriten, über die von der Generalprokuratur gegen einen Vorgang und den Beschluss dieses Gerichts vom 8. November 2018 (ON 9 der U-Akten) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Janda zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren AZ 22 U 80/18x des Bezirksgerichts Favoriten verletzen

1. die Ausdehnung der Hauptverhandlung auf jenen Tatvorwurf, auf den die Anklage in Abwesenheit des Angeklagten ausgedehnt worden war, § 427 Abs 1, Abs 2 StPO und

2. der Beschluss jenes Gerichts vom 8. November 2018 (ON 9 der U-Akten) § 450 StPO.

Dieser Beschluss wird ersatzlos aufgehoben.

Text

Gründe:

Mit Strafantrag vom 10. August 2018 (ON 3) legte die Staatsanwaltschaft Thomas S***** ein am 16. Juli 2018 begangenes, als Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten zur Last. Im darüber geführten Verfahren AZ 22 U 80/18x des Bezirksgerichts Favoriten wurde am 22. August 2018 die Hauptverhandlung für den 31. Oktober 2018 anberaumt (ON 1 S 1 verso). In der an diesem Tag (gemäß § 427 Abs 1 StPO) in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung erklärte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, die Anklage auf eine davon bislang nicht umfasste Tat, nämlich ein am 17. Juli 2018 gesetztes, als Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1, Abs 2 StGB beurteiltes Verhalten auszudehnen (ON 8 S 7). Nach Vernehmung eines Zeugen (auch) zu diesem weiteren Vorwurf (ON 8 S 7 f) vertagte die Bezirksrichterin die Hauptverhandlung zur „neuerlichen Ladung des Angeklagten, allenfalls zu seiner Vorführung“ und „Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Verletzung“ des Opfers auf unbestimmte Zeit (ON 8 S 8).

Mit – unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem (ON 1 S 3 f) – Beschluss vom 8. November 2018 (ON 9) sprach die Bezirksrichterin aus, das Bezirksgericht Favoriten sei zur Führung des Strafverfahrens gegen Thomas S***** „wegen §§ 83 Abs 1; 107 Abs 1 und 2 StGB“ „sachlich unzuständig“. Begründend verwies sie auf die Ausdehnung der Anklage und darauf, dass für das Verfahren wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1, Abs 2 StGB „gemäß § 31 Abs 4 Z 2 StPO der Einzelrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien zuständig“ sei (ON 9 S 1).

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde überwiegend zutreffend aufzeigt, steht die Vorgangsweise des Bezirksgerichts Favoriten mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Rechtliche Beurteilung

1. § 427 StPO verbietet die Durchführung der (gesamten oder eines Teils der) Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten, soweit (vgl § 427 Abs 2 StPO) die Anklage in Abwesenheit des Angeklagten ausgedehnt (§ 263 StPO, hier iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO) wurde, dieser demnach keine Gelegenheit hatte, zum (erweiterten) Anklagevorwurf Stellung zu nehmen ( Ratz , WK-StPO § 281 Rz 243; Bauer , WK-StPO § 427 Rz 12; vgl RIS-Justiz RS0099130, RS0111828).

Die (durch diesbezügliche Vernehmung eines Zeugen erfolgte) Ausdehnung der Verhandlung (§ 263 Abs 1 erster Satz StPO) auf den in Abwesenheit des Angeklagten erweiterten Anklagevorwurf war schon deshalb verfehlt.

2. Die Generalprokuratur bringt weiters vor:

„Der Bezugspunkt für die (auch nach der Vertagung der Hauptverhandlung 'außerhalb' dieser statthafte [ Bauer , WK-StPO § 450 Rz 1]) Prüfung der sachlichen Zuständigkeit des Bezirksgerichts besteht nach § 450 StPO (iVm § 261 Abs 1 StPO) in den 'der Anklage zugrundeliegenden Tatsachen an sich oder in Verbindung mit den in der Hauptverhandlung hervorgetretenen Umständen', also allen Modifikationen des Anklagesachverhalts ohne Änderung des Prozessgegenstands (RIS-Justiz RS0119355; Bauer , WK-StPO § 450 Rz 2 mwN). Zufolge hier im Umfang des vom Strafantrag (ON 3) umfassten Sachverhalts gänzlich unverändert bestehender Verdachtslage (vgl RIS-Justiz RS0098830; Bauer , WK-StPO § 450 Rz 2) verletzt der Beschluss vom 9. November 2018 (ON 9) durch den Ausspruch der sachlichen Unzuständigkeit des Bezirksgerichts Favoriten das Gesetz § 450 StPO.

Dazu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Die Beschwerde zeigt (im Ergebnis) zutreffend auf, dass das Bezirksgericht seine sachliche Unzuständigkeit – in Verletzung des § 450 erster Satz StPO – wegen eines Tatvorwurfs beschlussförmig aussprach, der nicht schon dem Strafantrag vom 10. August 2018 (ON 3) zugrunde lag.

Allerdings erweist sich der angefochtene Beschluss – insoweit entgegen der Auffassung der Generalprokuratur – auch (bereits) aus folgendem Grund als rechtsfehlerhaft:

Gemäß § 450 erster Satz StPO hat das Bezirksgericht, wenn es der Ansicht ist, dass das Landesgericht zuständig sei, vor Anordnung der Hauptverhandlung seine sachliche Unzuständigkeit mit Beschluss auszusprechen. Auszugehen ist davon, dass diese Bestimmung den Begriff „Anordnung der Hauptverhandlung“ gleichsinnig verwendet wie § 485 Abs 1 StPO: als – das Hauptverfahren einleitenden (§ 4 Abs 2 StPO) – Akt, in dem sich der (die Rechtswirksamkeit der Anklage bewirkende) positive Ausgang einer amtswegigen Vorprüfung des (einen) Strafantrags manifestiert, durch dessen Einbringung das Hauptverfahren begonnen (§ 210 Abs 2 erster Satz StPO) hat (11 Ns 29/18f, RIS-Justiz RS0132157). Daraus folgt, dass nach Eintritt der – durch die (so verstanden) einmalige Anordnung der Hauptverhandlung zum Ausdruck gebrachten – Rechtswirksamkeit des Strafantrags ein derartiger Beschluss nicht mehr gefasst werden darf (vgl Oshidari , WK-StPO § 38 Rz 8 iVm Rz 7/1 mwN, sowie Hinterhofer/Oshidari , Strafverfahren Rz 10.173 und Rz 10.196 bei FN 3424; aA Bauer , WK-StPO § 450 Rz 1, und Nimmervoll , Strafverfahren 2 461, die das verbum legale „Anordnung“ mit „Anberaumung“ gleichsetzen und daher – folgerichtig – eine Beschlussfassung nach § 450 erster Satz StPO auch noch nach Abberaumung oder Vertagung der Hauptverhandlung [„außerhalb“ derselben] für zulässig erachten).

Vorliegend hatte das Bezirksgericht die Hauptverhandlung – durch (erstmalige) „Ausschreibung“ (vgl § 221 Abs 1 StPO) am 22. August 2018 (ON 1 S 1 verso) – schon (iSd § 450 erster Satz StPO) angeordnet (RIS-Justiz RS0132157 [T2]). Es war ihm daher (bereits) verwehrt, nach diesem Zeitpunkt – somit nach Rechtswirksamkeit des Strafantrags – seine sachliche Unzuständigkeit (überhaupt) beschlussförmig auszusprechen.

Da nicht auszuschließen ist, dass die zu 2. aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Nachteil des Angeklagten wirkt (vgl RIS Justiz RS0108369), war ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO). Das Bezirksgericht wird das in seine Zuständigkeit fallende Verfahren über den Strafantrag vom 10. August 2018 (ON 3) fortzusetzen haben.

Hinzugefügt sei:

a. Nach (einmal erfolgter) Anordnung der Hauptverhandlung (und somit Rechtswirksamkeit des Strafantrags) darf (und muss – § 468 Abs 1 Z 2 StPO) das Bezirksgericht die sachliche Zuständigkeit eines höherrangigen Spruchkörpers für die vom Strafantrag (§ 451 Abs 1 StPO) umfasste Tat nur noch mit Unzuständigkeitsurteil (§ 261 Abs 1 iVm § 447 StPO) wahrnehmen ( Oshidari , WK-StPO § 38 Rz 11 iVm Rz 2 mwN).

b. In Anwesenheit des Angeklagten ist die Ausdehnung der Anklage (§ 263 StPO) auf eine andere, von der mit Strafantrag (§ 451 Abs 1 StPO) angeklagten verschiedene Tat in der Hauptverhandlung zulässig (und zur Wahrung des Verfolgungsrechts für den Ankläger geboten). Fällt diese Tat in die Zuständigkeit eines höherrangigen Spruchkörpers, hat das Bezirksgericht (nicht seine sachliche Unzuständigkeit auszusprechen, sondern) gemäß § 263 Abs 2 StPO das Urteil auf den Gegenstand der Anklage zu beschränken und dem Ankläger – auf sein Verlangen – die selbständige Verfolgung wegen der hinzugekommenen Tat vorzubehalten (RIS Justiz RS0128975; Lewisch , WK-StPO § 263 Rz 81 und 83 mwN).

c. In Abwesenheit des Angeklagten dagegen ist (nicht erst die Ausdehnung der Verhandlung [1.], sondern schon) die Ausdehnung der Anklage (§ 263 StPO) unzulässig (vgl Ratz , WK-StPO § 281 Rz 545 dritter Absatz). Vielmehr hat der Ankläger, wenn bei der in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung eine neue Tat hervorkommt und er diese verfolgen will, nach § 210 Abs 1 StPO bei dem für das (diesbezügliche) Hauptverfahren zuständigen Gericht schriftlich Anklage einzubringen (RIS Justiz RS0111828; Lewisch , WK-StPO § 263 Rz 19 f).

d. Dass eine Anfechtung des – keine Sachentscheidung über die Anklage enthaltenden – Beschlusses durch die Staatsanwaltschaft unterblieb, führte nicht zum Verlust ihres Verfolgungsrechts (vgl RIS-Justiz RS0098815; RS0125315).

Rechtssätze
5
  • RS0132157OGH Rechtssatz

    31. Januar 2024·3 Entscheidungen

    1. Die Verbindung zweier Hauptverfahren gemäß § 37 Abs 3 StPO setzt – auch im Verfahren vor dem Einzelrichter des Landesgerichts oder dem Bezirksgericht – die Rechtswirksamkeit (§ 4 Abs 2 StPO) beider Anklagen voraus. Im Fall des § 37 Abs 3 zweiter Halbsatz iVm Abs 2 zweiter Satz StPO zuständigkeitsbegründend zuvorgekommen ist jenes Gericht, bei dem die Anklage zuerst rechtswirksam wurde. 2. Im einzelrichterlichen Verfahren tritt die Rechtswirksamkeit der Anklage mit dem positiven Abschluss einer amtswegigen Vorprüfung des Strafantrags ein. Sie findet dort jedoch – anders als im kollegialgerichtlichen Verfahren – keinen beschlussförmigen Ausdruck, sondern zeigt sich erst im darauf folgenden Akt der Einleitung des Hauptverfahrens. 3. Die Einleitung des Hauptverfahrens (§ 4 Abs 2 StPO) geschieht im einzelrichterlichen Verfahren durch die Anordnung der Hauptverhandlung (§ 450 und § 485 Abs 1 Z 4 StPO). Unter dieser Anordnung wird (keineswegs nur das "Ausschreiben" einer Hauptverhandlung, sondern) jedes Verhalten des Gerichts verstanden, das die Bejahung der Prozessvoraussetzungen (den positiven Ausgang der amtswegigen Vorprüfung) unmissverständlich erkennen lässt. Dies trifft auf jede Entscheidung zu, deren Ergebnis keines nach (im landesgerichtlichen Verfahren:) § 485 Abs 1 Z 1 bis Z 3 StPO oder (im bezirksgerichtlichen Verfahren:) § 450 erster Satz StPO (beschlussförmiger Ausspruch sachlicher Unzuständigkeit), § 451 Abs 2 StPO (beschlussförmige Verfahrenseinstellung) oder § 38 StPO (Wahrnehmung eigener Unzuständigkeit nach § 36 Abs 3, Abs 5; § 37 Abs 1, Abs 2 StPO) ist, also jeder contrarius actus dazu. 4. Bei der amtswegigen Vorprüfung des Strafantrags (noch) außer Betracht zu bleiben hat die Anhängigkeit eines im Sinn des § 37 Abs 3 StPO konnexen Hauptverfahrens bei (irgend-)einem Gericht. Vielmehr hat sich die Vorprüfung – isoliert – auf jenes (Haupt-)Verfahren zu beziehen, das durch die Einbringung dieses (einen) Strafantrags begonnen hat.

  • RS0111828OGH Rechtssatz

    14. Dezember 2023·3 Entscheidungen

    Unzulässigkeit im Abwesenheitsverfahren. Verletzung des rechtlichen Gehörs. Wurde im Verfahren wegen Verletzung der Unterhaltspflicht der Bestrafungsantrag erst in der in Abwesenheit des Beschuldigten vorgenommenen Hauptverhandlung auf einen weiteren Deliktszeitraum ausgedehnt, so ist die Ausdehnung auch der Verhandlung und des Urteils darauf unzulässig, weil die Sonderbestimmungen des § 263 StPO über die Anklageausdehnung in der Hauptverhandlung nur dann zum Tragen kommen, wenn die Verhandlung in Gegenwart des Beschuldigten stattfindet (so schon SSt 17/116). Kommt hingegen in einer in Abwesenheit des Beschuldigten vorgenommenen Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht eine neue Tat hervor, so hat der Ankläger, wenn er sie verfolgen will, gemäß der allgemeinen Vorschrift des § 451 Abs 1 StPO einen schriftlichen Bestrafungsantrag nachzutragen. War somit schon die Anklageausdehnung zu Protokoll formell verfehlt, so war erst recht die Ausdehnung auch der Verhandlung und des Urteils darauf unzulässig, weil der Beschuldigte solcherart im Verfahren niemals Gelegenheit hatte, zum erweiterten Anklagevorwurf Stellung zu nehmen. Durch das insoweit gepflogene Verfahren und das darüber erlassene Urteil wurde daher das Gesetz in dem in §§ 451 Abs 1 letzter Satzteil, 454 und 459 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art 6 MRK (nicht bloß in der Bestimmung des § 459 StPO) verletzt.