JudikaturJustiz10ObS93/95

10ObS93/95 – OGH Entscheidung

Entscheidung
08. Juni 1995

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber Dr.Wolfgang Adametz und Theodor Kubak in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maria S*****, Pensionistin, ***** vertreten durch Dr.Johannes Grund und Dr.Wolf D.Polte, Rechtsanwälte in Linz, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, wegen Entziehung des Pflegegeldes infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23.Februar 1995, GZ 12 Rs 98/94-17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 27.Juli 1994, GZ 26 Cgs 36/94b-13, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Klägerin war zum 30.6.1993 ein Hilflosenzuschuß rechtskräftig zuerkannt. Deshalb wurde ihr nach § 38 Abs 1 Bundespflegegeldgesetz (BPGG) mit Wirkung vom 1.7.1993 ein Pflegegeld in der Höhe der Stufe 2 gewährt. Dem Zuerkennungsbescheid der Beklagten vom 30.7.1992 lagen folgende Diagnosen zugrunde:

Zustand nach Entfernung der rechten Niere (1986) präterminale Insuffizienz der Restniere, Zustand nach mehrmaliger Hämodialyse, Anämie mit körperlicher Schwäche, Zustand nach Bandscheibenoperationen (1973 und 1988) mit motorischem Defizit der Wurzel L 5 rechts, altersentsprechender Herz-Kreislaufzustand, depressives Zustandsbild. Die Beklagte ging damals davon aus, daß die Klägerin für die Nahrungszubereitung, die Bedienung der Etagenheizung samt Herbeischaffen des Heizmaterials, die gesamte Wohnungsreinigung, die Beschaffung der Nahrungsmittel und sonstigen Bedarfsgüter und das Waschen der großen und kleinen Wäsche 78,5 Stunden monatlich Wartung und Hilfe brauchte.

Mit Bescheid vom 22.11.1993 entzog die Beklagte das Pflegegeld unter Berufung auf § 9 Abs 2 und 3 BPGG mit Ablauf des Monates Dezember 1993. Der Pflegebedarf betrage wegen einer Besserung des Gesundheitszustandes weniger als 50 Stunden monatlich.

Dieser Bescheid ist durch die innerhalb der Frist von drei Monaten ab

seiner Zustellung (§ 67 Abs 2 ASGG idF BGBl 1993/110) erhobene

Klage zur Gänze außer Kraft getreten (§ 71 Abs 1 leg cit). Ihr

iS des § 82 Abs 1 bis 4 ASGG hinreichend bestimmtes Begehren

richtet sich auf Zahlung des Pflegegeldes in Höhe der Stufe 2 über

den 31.12.1993 hinaus. Es stützt sich darauf, daß sich der

Gesundheitszustand der Klägerin nicht gebessert habe und sie einen

Pflegebedarf von mehr als 75 Stunden monatlich habe.

Die Beklagte beantragte aus den Gründen ihres Entziehungsbescheides die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt.

Es stellte neben den eingangs wiedergegebenen Grundlagen des Zuerkennungsbescheides zu den Lebensverhältnissen und dem derzeitigen Gesundheitszustand der Klägerin im wesentlichen fest:

Die Klägerin wohnt mit ihrem Ehegatten ein sauber eingerichtetes Bauernhaus im Ortsgebiet. Die sanitären Verhältnisse sind gut, die Dusche kann unter Verwendung eines Sessels selbständig benützt werden. Waschmaschine, Elektroherd und Mikrowellenherd sind vorhanden. Holz und Kohle für die Etagenheizung müssen aus dem Nebengebäude herbeigeschafft werden. Das nächste Lebensmittelgeschäft ist in einer, der praktische Arzt in zwei Gehminuten zu erreichen. Ein (öffentliches) Verkehrsmittel ist (zu Fuß) nicht erreichbar.

Gegenüber 1992 liegen nur mehr Zeichen einer leichten Niereninsuffizienz vor. Weiters bestehen ein Zustand nach Bandscheibenoperation (1973 und 1988) im Bereich L 5/S 1 mit Peronäusläsion rechts und leichtem Steppgang, Harn- und Stuhlentleerungstörungen, Abnützungserscheinungen der Wirbelsäule, ein altersentsprechender Herz-Kreislaufbefund, ein kompensierter Zustand nach Hörsturz, Alterssichtigkeit und eine massive depressive Grundstimmung. Wegen der Gangunsicherheit ist die Fortbewegung auch in der Wohnung nur mit einer Stützkrücke oder mit Anhalten an den Möbeln möglich. Da die Hebefunktion des (rechten) Fußes durch die Peronäuslähmung eingeschränkt ist, kann die Klägerin bereits bei kleinen Hindernissen (zB Teppichen) stürzen. Wegen dieses Gesundheitszustandes braucht sie Hilfe für das Beheizen der Wohnung samt Herbeischafffen des Brennmaterials, für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und sonstigen Bedarfsgütern, für das Waschen und Aufhängen der großen Wäsche, zur gründlichen, aber auch teilweise zur notdürftigen Reinigung der Wohnung. Da zwischen der Haustür und Straße steile Stufen überwunden werden müssen, kann die Klägerin Wege außerhalb des Hauses generell nicht mehr ohne fremde Hilfe erledigen.

Gegenüber dem Zeitpunkt der Zuerkennung des Hilflosenzuschusses hat sich der Gesundheitszustand der Klägerin insofern wesentlich geändert, als sich die Funktion der Restniere gebessert hat und nur mehr eine leichte Niereninsuffizienz vorliegt, die keine Dialyse erforderlich macht. Dadurch hat sich auch die körperliche Schwäche gebessert. Deshalb kann sich die Klägerin nunmehr täglich eine ordentliche Mahlzeit kochen, einige wenige Aufräumarbeiten verrichten und die kleine Wäsche selbst waschen und aufhängen.

Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes liege in den Übergangsfällen des § 38 Abs 1 BPGG eine wesentliche Änderung iS

des § 9 Abs 2 leg cit solange nicht vor, als der geänderte

Zustand nach der bis zum 30.6.1993 geltenden Rechtslage nicht zur Entziehung des Hilflosenzuschusses hätte führen können. Da die Klägerin monatlich rund 37 Stunden Wartung und Hilfe brauche, hätte sie nach der alten Rechtslage weiterhin Anspruch auf Hilflosenzuschuß. Deshalb könne ihr das Pflegegeld in der Höhe der Stufe 2 nicht entzogen werden, obwohl sie infolge des gebesserten Gesundheitszustandes nur mehr einen monatlichen Pflegebedarf von 50 Stunden (iS des BPGG) habe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab.

Nach der Rechtsansicht des Berufungsgerichtes entspricht § 9 Abs 2

BPGG inhaltlich § 99 Abs 1 ASVG. Die Entziehung bzw Neubemessung

des Pflegegeldes setze daher wie die Entziehung des

Hilflosenzuschusses vor dem 1.7.1993 eine wesentliche (entscheidende)

Änderung der Verhältnisse voraus. Eine solche sei bei der Klägerin

eingetreten, weil sich ihr Gesundheitszustand so gebessert habe, daß

sie nur mehr einen Hilfsbedarf von 50 Stunden monatlich habe. Damit

lägen die Voraussetzungen des § 9 Abs 2 BPGG vor.

In der Revision macht die Klägerin unrichtige rechtliche Beurteilung (der Sache) geltend; sie beantragt, das Berufungsurteil durch Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils "aufzuheben" (richtig abzuändern) oder es allenfalls aufzuheben.

Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 Z 3 ASGG auch bei Fehlen der

Voraussetzungen des Abs 1 zulässige Revision ist nicht berechtigt.

Personen, denen - wie der Klägerin - zum 30.6.1993 ein

Hilflosenzuschuß ................ rechtskräftig zuerkannt war, ist

nach § 38 Abs 1 Satz 1 BPGG von Amts wegen mit Wirkung vom

1.7.1993 nach den Vorschriften dieses Bundesgesetzes ein Pflegegeld

in Höhe der Stufe 2 zu gewähren. Dabei bedarf es aus Gründen der

Verwaltungsentlastung und Raschheit grundsätzlich keiner Prüfung des

konkreten Einzelfalles (EB RV-BPGG 776 BlgNR 18. GP 31;

Gruber/Pallinger, BPGG § 38 Rz 1; Pfeil, Neuregelung der

Pflegevorsorge in Österreich 206 ua). Diesen Personen gilt nach Satz

2 leg cit ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 als rechtskräftig

zuerkannt. Für diese Überleitung, die Gruber/Pallinger aaO § 38 Rz

3 als "ex-lege-Anpassung" rechtskräftiger Leistungstitel bezeichnen,

ist also kein Bescheid erforderlich (Pfeil aaO 206f). Die

bisherigen pflegebezogenen Geldleistungen, also im Falle der Klägerin

der Hilflosenzuschuß gemäß § 105 a ASVG, gelten nach § 39 Abs 1

BPGG mit 30.Juni 1993 als rechtskräftig eingestellt.

Aus den zit Übergangsbestimmungen ergibt sich, daß den davon

betroffenen Personen - zu denen auch die Klägerin zählt - ab

1.7.1993 anstelle des als rechtskräftig eingestellt geltenden

Hilflosenzuschusses ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 als

rechtskräftig zuerkannt gilt.

Ob ein (rechtskräftig zuerkanntes) Pflegegeld zu entziehen oder neu

zu bemessen ist, richtet sich ausschließlich nach § 9 Abs 2 BPGG.

Die Entziehung setzt den Wegfall einer Voraussetzungen für die

Gewährung von Pflegegeld voraus, die Neubemessung den Eintritt einer

für die Höhe des Pflegegeldes wesentlichen Veränderung (so auch

Gruber/Pallinger aaO § 38 Rz 3). Eine Voraussetzung für die

Gewährung von Pflegegeld fällt insbesondere dann weg, wenn die bisher

berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Inland

hat, wenn ihr keine Grundleistung mehr gebührt (§ 3 Abs 1 BPGG)

oder ihr Pflegebedarf infolge einer Änderung der tatsächlichen

Verhältnisse durchschnittlich nicht mehr als 50 Stunden monatlich

beträgt (§ 4 Abs 1 und Abs 2 leg cit) (Pfeil aaO 300f).

Im Hinblick auf die gesetzliche Vermutung des § 38 Abs 1 Satz 2

BPGG, nach denen den im ersten Satz dieses Absatzes genannten

Personen ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 als rechtskräftig

zuerkannt gilt, und den Umstand, daß das Pflegegeld in dieser Höhe

von Amts wegen mit Wirkung vom 1.7.1993 grundsätzlich ohne Prüfung

des Einzelfalles zu gewähren ist, ist davon auszugehen, daß damals

auf Grund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung

oder einer Sinnesbehinderung ein ständiger Betreuungs- und

Hilfsbedarf (Pflegebedarf) iS des § 4 Abs 1 BPGG von

durchschnittlich mehr als 75 Stunden monatlich bestand. Eine solche

Person ist so zu behandeln, als wenn ihr auf dieser

Entscheidungsgrundlage mit Bescheid oder Urteil ab 1.7.1993

Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 zuerkannt worden wäre. Liegt der

ständige Pflegebedarf in der Folge durchschnittlich nicht mehr über

50 Stunden monatlich, dann ist eine der zum 1.7.1993 fingierten

Voraussetzungen für die Gewährung des Pflegegeldes nachträglich

weggefallen und das Pflegegeld nach § 9 Abs 2 leg cit zu

entziehen.

Diese Voraussetzung trifft im vorliegenden Fall zu. Nach den

rechtlich zu beurteilenden Feststellungen hat die Klägerin nur mehr

einen ständigen Hilfsbedarf für die Herbeischaffung von

Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Reinigung der Wohnung und der

persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und

Bettwäsche, die Beheizung des Wohnraumes einschließlich der

Herbeischaffung von Heizmaterial sowie für Mobilitätshilfe im

weiteren Sinn (§ 2 Abs 2 Einstufungsverordnung zum

Bundespflegegeldgesetz). Für jede dieser Hilfsverrichtungen ist ein

- auf einen Monat bezogener - fixer Zeitwert von zehn Stunden

anzunehmen (Abs 3 der zit Verordnungsstelle), so daß der ständige

Hilfsbedarf 50 Stunden monatlich beträgt. Die Klägerin hat jedoch

keinen ständigen Betreuungsaufwand mehr. Sie kann nämlich alle in

relativ kurzer Folge notwendigen Verrichtungen, die vornehmlich den

persönlichen Lebensbereich betreffen und ohne die sie der

Verwahrlosung ausgesetzt wäre (§ 1 Abs 1 der zit Verordnung),

wieder selbst vornehmen, insbesondere die Zubereitung von Mahlzeiten.

Deshalb beträgt der Pflegebedarf durchschnittlich nicht mehr als 50 Stunden monatlich und ist damit unter die Anspruchsgrenze auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 1 gefallen.

Das Pflegegeld ist daher nach § 9 Abs 2 BPGG zu entziehen. Die

Entziehung wegen einer (wesentlichen) Veränderung im Ausmaß des

Pflegebedarfes wurde nach Abs 3 Z 1 der zit Gesetzesstelle mit

Ablauf des Monates wirksam, der auf die Zustellung des Bescheides

folgte, mit dem die Entziehung ausgesprochen wurde, also mit Ablauf

des 31.12.1994. Deshalb hat die Klägerin keinen Anspruch auf die begehrte Weiterleistung des Pflegegeldes.

Die von der Revisionswerberin vertretene Rechtsansicht, das

Pflegegeld könnte ihr nur entzogen werden, wenn die Voraussetzungen

für den seinerzeit gewährten Anspruch auf Hilflosenzuschuß nicht mehr

vorhanden wären, findet - wie dargelegt - im Gesetz keine Stütze.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

Rechtssätze
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