JudikaturVwGH

Ra 2025/18/0258 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
02. September 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar als Richter sowie die Hofrätin Dr. Kronegger als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Hahn, LL.M., über die Revision 1. der D H, und 2. der K A, beide vertreten durch Mag. a Doris Einwallner, Rechtsanwältin in Wien, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Juni 2025, 1. L508 2298426 1/16E und 2. L508 2298424 1/6E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der minderjährigen Zweitrevisionswerberin; beide sind Staatsangehörige der Türkei. Sie stellten am 8. Oktober 2023 Anträge auf internationalen Schutz. Zur Begründung brachte die Erstrevisionswerberin vor, sie sei in der Türkei vier jeweils wieder geschiedene Ehen eingegangen; der zweite ihrer ehemaligen Ehemänner sei der Vater der Zweitrevisionswerberin. Von ihrem dritten Ehemann habe sie sich scheiden lassen, weil dieser auch sexuelle Gewalt gegen sie ausgeübt habe. Noch während der vierten Ehe habe sie der dritte Ehemann am neuen Wohnort aufgesucht, abermals geschlagen und mit dem Tod bedroht, weshalb sie schließlich gemeinsam mit der Zweitrevisionswerberin, für die keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht wurden, geflüchtet sei.

2Mit Bescheiden vom 13. Juni 2024 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge zur Gänze ab, erteilte den Revisionswerberinnen keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte jeweils fest, dass ihre Abschiebung in die Türkei zulässig sei, und legte jeweils eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung (während dieser brachte die Erstrevisionswerberin vor, sie habe am 26. Februar 2025 einen österreichischen Staatsangehörigen geheiratet) als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, eine asylrelevante Verfolgung der revisionswerbenden Parteien im Falle einer Rückkehr in die Türkei sei angesichts im Einzelnen dargelegtergehäufter Widersprüche in den Aussagen der Erstrevisionswerberin nicht glaubhaft gemacht worden. Die Erstrevisionswerberin habe nach ihrem eigenen Vorbringen im Zusammenhang mit der Gewalt, die ihr dritter Ehemann gegen sie ausgeübt habe, von den türkischen Behörden Hilfe erhalten, etwa eine Wegweisung erwirkt. Schließlich bestehe noch die Möglichkeit in einem anderen Landesteil, beispielsweise in Istanbul, zu leben, um Bedrohungen durch den dritten Ehemann zu entgehen. Auch habe nicht festgestellt werden können, dass eine Rückkehr der revisionswerbenden Parteien in die Türkei eine reale Gefahr der Verletzung ihrer durch Art. 2 und Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte mit sich brächte, weshalb subsidiärer Schutz nicht zuzuerkennen gewesen sei. Die Rückkehrentscheidungen begründete das BVwG mit dem Überwiegen der öffentlichen Interessen an einer Beendigung des Aufenthalts der revisionswerbenden Parteien in Österreich gegenüber ihren privaten Interessen an einem Verbleib.

5 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

6 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

7Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

8Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 BVG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 BVG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

9Soweit die Revision vorbringt, dass die Beweiswürdigung des BVwG grob fehlerhaft sei, ist ihr entgegenzuhalten, dass das BVwG die Annahme der Unglaubhaftigkeit einer aktuellen Bedrohung der Erstrevisionswerberin durch ihren dritten Ehemann bei einer Rückkehr in die Türkei auf zahlreiche, im Einzelnen dargestellte Widersprüche und Ungereimtheiten im Vorbringen der Erstrevisionswerberin stützte. So habe die Erstrevisionswerberin etwa zunächst Gewaltvorfälle ab März 2023 verneint, im Laufe des Verfahrens ihre Angaben dazu jedoch geändert. Dass die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen worden wäre (zu diesem Maßstab der Nachprüfung der Beweiswürdigung im Revisionsverfahren vgl. etwa VwGH 26.6.2025, Ra 2024/18/0733, mwN), wird nicht dargelegt.

10 Alternativ verwies das BVwG darauf, dass jedenfalls im Fall einer Ansiedlung in Istanbul im Sinne einer innerstaatlichen Fluchtalternative keine Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohe; den diesbezüglichen Erwägungen tritt die Revision nicht konkret entgegen. Beruht ein Erkenntnis auf einer tragfähigen Alternativbegründung und wird im Zusammenhang damit keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 BVG aufgezeigt, so erweist sich die Revision als unzulässig. Dies würde selbst dann gelten, wenn davon auszugehen wäre, dass die anderen Begründungsalternativen rechtlich unzutreffend sind (vgl. VwGH 21.2.2020, Ra 2020/18/0002, mwN).

11 Dem der Sache nach gegen die Rückkehrentscheidungen gerichtetenVorbringen der Revision, das BVwG habe sich mit der Frage der Maßgeblichkeit der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80, der zufolge für die Erstrevisionswerberin als nunmehrige Ehefrau eines österreichischen Staatsangehörigen (weiterhin) die Niederlassungsfreiheit gemäß § 49 FrG 1997 gelte, nicht befasst und sei in diesem Zusammenhang von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis auf VwGH 31.5.2017, Ra 2016/22/0089, und VwGH 13.12.2018, Ra 2018/22/0266) abgewichen, ist Folgendes zu entgegnen:

12 Anders als in den Fällen, die den genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zugrunde lagen, wurde im vorliegenden Fall nicht etwa über einen nach der Eheschließung mit einem österreichischen Staatsangehörigen gestellten Antrag der Erstrevisionswerberin auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als Familienangehörige eines österreichischen Staatsangehörigen nach den Regelungen des Niederlassungsrechts, sondern über einen Antrag auf internationalen Schutz abgesprochen (und von Amts wegen eine Rückkehrentscheidung erlassen); es wurde weder festgestellt, noch wird in der Revision behauptet, dass die Erstrevisionswerberin einen Antrag auf Erteilung eines niederlassungsrechtlichen Aufenthaltstitels überhaupt gestellt hat. Dass das BVwG von diesen Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen wäre, wird von der Revision schon deshalb nicht dargelegt.

13Die Revision wendet sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung überdies gegen die im Rahmen der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorgenommene Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. § 9 BFA-VG und bringt vor, das BVwG habe die besondere Bedeutung eines Familienlebens mit einem österreichischen Staatsbürger verkannt und zudem im Hinblick auf die Minderjährigkeit der Zweitrevisionswerberin das Kindeswohl nicht ausreichend berücksichtigt.

14Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurdenicht revisibel (vgl. z.B. VwGH 3.3.2025, Ra 2024/18/0651, mwN).

15 Das BVwG hat die kurze Aufenthaltsdauer der Revisionswerberinnen von etwas mehr als eineinhalb Jahren im Entscheidungszeitpunkt des BVwG und während dieser Zeit gesetzte Integrationsschritte in die Interessenabwägung einbezogen, in seine Erwägungen jedoch zu Recht miteinfließen lassen, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA VG maßgeblich relativierend ist, wenn wie hierdie integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich die Fremden ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten (vgl. VwGH 24.4.2023, Ra 2023/18/0097, mwN). Diese Überlegungen gelten insbesondere auch für eine Eheschließung mit einer in Österreich aufenthaltsberechtigten Person, wenn dem oder der Fremden zum Zeitpunkt des Eingehens der Ehe die Unsicherheit eines gemeinsamen Familienlebens in Österreich in evidenter Weise klar sein musste (vgl. VwGH 10.9.2021, Ra 2021/18/0268, mwN).

16 Das BVwG bezog sowohl die Eheschließung mit einem österreichischen Staatsbürger am 26. Februar 2025, den Nebenwohnsitz beim Ehegatten seit 4. März 2025, die Unterstützung der in der Nähe wohnenden Schwiegermutter, die Möglichkeit des Kontaktes mit modernen Kommunikationsmitteln und Besuchen nach der Rückkehr in die Türkei sowie die Tatsache der Eheschließung zu einem Zeitpunkt, als sich die revisionswerbenden Parteien ihres unsicheren Aufenthalts bewusst sein mussten, in seine Erwägungen mit ein und kam vertretbar zum Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwögen.

17Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der nach Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. § 9 BFAVG vorzunehmenden Abwägung auch das Kindeswohl der minderjährigen revisionswerbenden Partei in Betracht zu ziehen. Dabei sind insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen Kinder im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt den Fragen zu, wo Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 13.12.2023, Ra 2023/18/0436 bis 0442, mwN).

18 Das BVwG bezog in seine Interessenabwägung das Wohl der minderjährigen Zweitrevisionswerberin mit ein und legte dar, warum es nicht geboten sei, von der Erlassung der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Abstand zu nehmen. Das BVwG berücksichtigte dabei zunächst, dass die Zweitrevisionswerberin gemeinsam mit ihrer Mutter in den Herkunftsstaat, wo der Vater nach wie vor lebe, zurückkehren könne und daher keine Trennung der revisionswerbenden Parteien stattfinden würde. Die Zweitrevisionswerberin sei ferner in der Türkei geboren, habe dort mehrere Jahre die Schule besucht und sei der türkischen Sprache mächtig. Auch würden weitere Familienangehörige in der Türkei leben.

19 Dass sich das BVwG bei seiner Abwägung insgesamt von den Leitlinien der höchstgerichtlichen Rechtsprechung entfernt hätte, vermag die Revision nicht aufzuzeigen.

20 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 BVG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 2. September 2025