Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision 1. des B A, 2. der V A, 3. des B A, 4. des D A, 5. des D A, 6. der H A, und 7. der J A, alle vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. September 2023, 1. L531 2269847 1/11E, 2. L531 2269863 1/10E, 3. L531 2269850 1/10E, 4. L531 2269856 1/10E, 5. L531 2269854 1/10E, 6. L531 2269859 1/7E und 7. L531 2269861 1/8E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige des Irak und Angehörige der kurdischen Volksgruppe. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet und die Eltern der Dritt bis Fünftrevisionswerber sowie der minderjährigen Sechst und Siebtrevisionswerberinnen. Die erst und zweit sowie die fünft bis siebtrevisionswerbenden Parteien stellten am 14. Mai 2021, der Dritt und Viertrevisionswerber am 20. Mai 2021 Anträge auf internationalen Schutz. Begründend brachten die revisionswerbenden Parteien im Wesentlichen vor, dass der Erstrevisionswerber im Irak Schulden gehabt habe und deswegen von einem ehemaligen Geschäftspartner bedroht worden sei. Sie könnten wegen der schlechten Sicherheits und Wirtschaftslage nicht in den Irak zurückkehren.
2 Mit Bescheiden vom 28. Februar 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte den revisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte jeweils eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen gerichtete Beschwerde der revisionswerbenden Parteien wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Das BVwG führte begründend soweit hier maßgeblich aus, der Erstrevisionswerber habe eine gegen ihn gerichtete asylrelevante Verfolgung aufgrund der von ihm behaupteten Bedrohung durch Gläubiger wegen unbezahlter Schulden nicht glaubhaft machen können. Deshalb hätten auch die übrigen revisionswerbenden Parteien, indem sie eine Verfolgung bei einer Rückkehr in den Irak im Sinne einer „Sippenhaftung“ behauptet hätten, keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft gemacht. Dem Viert und Fünftrevisionswerber drohe zudem nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Zwangsrekrutierung durch die PKK oder andere Milizen oder Gruppierungen. Der Sechst- und der Siebtrevisionswerberin würden im Falle der Rückkehr in den Irak nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Zwangsheirat, geschlechtsspezifische oder häusliche Gewalt drohen. Im Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz führte das BVwG mit näherer Begründung aus, dass die revisionswerbenden Parteien im Irak ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse befriedigen könnten und nicht in eine existenzbedrohende oder lebensgefährliche Situation geraten würden.
5 Zur Rückkehrentscheidung nahm das BVwG eine im Einzelnen begründete Abwägung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. § 9 Abs. 1 BFA VG vor und kam zu dem Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen an einer Außerlandesbringung die privaten Interessen der revisionswerbenden Parteien am Verbleib im Bundesgebiet auch unter Berücksichtigung des Kindeswohls hinsichtlich der minderjährigen Sechst und Siebtrevisionswerberin überwiegen würden.
6 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, das angefochtene Erkenntnis ließe im Widerspruch zur Entscheidung VwGH 31.8.2017, Ro 2017/21/0012, die Beachtung des Kindeswohls in Bezug auf die minderjährigen Töchter der Familie vermissen. Der bei möglicher Gefährdung des Kindeswohls bestehenden erhöhten Ermittlungspflicht „insbesondere bei ergänzungsbedürftigem Fluchtvorbringen“ und der gebotenen „Beachtung kinderspezifischer Verfolgung“ sei nicht entsprochen worden, denn die drohende Zwangsheirat (verwiesen wird auf diesbezügliche Berichte im Länderleitfaden „Country Guidance“ der EUAA zum Irak vom Juni 2022) sei in der Verhandlung vor dem BVwG nicht thematisiert und die Eltern und die minderjährigen Töchter dazu nicht befragt worden. Da Frauen in der kurdisch autonomen Region generell von Zwangsheirat betroffen seien und Kinderheirat die Norm darstelle, hätte das BVwG den minderjährigen Töchtern sowie den Eltern internationalen Schutz zuerkennen müssen. Den Söhnen drohe bei einer Rückkehr in den Irak Zwangsrekrutierung, da der irakische Staat auch kurdische junge Männer zum Wehrdienst verpflichte. Außerdem bestehe ein hoher sozialer Druck, der Peshmerga (kurdische Miliz) beizutreten. Bei „gebotener Beachtung der Länderinformation und einer darauf aufbauenden weiteren Ermittlung zur aktuellen Wehrpflicht im Irak“ wäre den Söhnen Asyl zuzuerkennen gewesen.
7 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.
8 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
9 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
10 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
11 Zum Vorbringen der Revision, das BVwG habe seiner Ermittlungspflicht hinsichtlich der „Beachtung kinderspezifischer Verfolgung“, nämlich hinsichtlich der Gefahr der Zwangsverheiratung der minderjährigen Sechst und Siebtrevisionswerberinnen, nicht entsprochen, ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach die Frage, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner amtswegigen Ermittlungspflicht weitere Ermittlungsschritte setzen muss, einer einzelfallbezogenen Beurteilung unterliegt. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge insoweit nur dann vor, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre (vgl. VwGH 12.9.2022, Ra 2022/18/0202, mwN).
12 Dass dies vorliegend der Fall gewesen wäre, zeigt die Revision mit dem bloßen Hinweis darauf, dass die Gefahr der Zwangsverheiratung in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG nicht thematisiert worden sei und dass dem Länderleitfaden der EUAA zum Irak vom Juni 2022 zufolge Frauen Zwangsheiraten ausgesetzt seien, nicht auf. Der angesprochene Leitfaden definiert zwar Frauen und Mädchen als potentielle Risikogruppen, führt aber gleichzeitig aus, dass nicht für alle Frauen und Mädchen eine hinreichend große Gefahr der Verfolgung durch Zwangs oder Kinderheirat besteht, sondern diese an näher bezeichneten individuellen Umständen zu messen sei (wie etwa das Alter, Herkunftsgebiet, die Wahrnehmung der traditionellen Geschlechterrollen in der Familie; einem schlechten sozioökonomischen Status der Familie, dem Status als Binnenvertriebene, usw.). Die Revision, die in diesem Zusammenhang kein konkretes Vorbringen zur individuellen Situation der Sechst und Siebtrevisionswerberin erstattet, übersieht, dass eine Feststellung allgemeiner Umstände im Herkunftsstaat die Glaubhaftmachung der Gefahr einer konkreten, individuell gegen die revisionswerbenden Parteien gerichteten Verfolgung nicht ersetzen kann (vgl. VwGH 29.8.2023, Ra 2023/19/0290, mwN), und übergeht den Umstand, dass das BVwG festgestellt hat, der Sechst und Siebtrevisionswerberin drohe angesichts ihrer individuellen Umstände bei einer Rückkehr in den Irak nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Zwangsheirat, geschlechtsspezifische oder häusliche Gewalt. Dass diese vom BVwG im Übrigen unter Einbeziehung aktueller Länderberichte sowie des Länderleitfadens der EUAA zum Irak vorgenommene Beurteilung unvertretbar sei, zeigt die Revision mit ihrem pauschalen Vorbringen nicht auf.
13 Auch was die Behauptung der Verletzung der amtswegigen Ermittlungspflicht im Zusammenhang mit der „den Söhnen“ drohenden Zwangsrekrutierung betrifft, übergeht die Revision die diesbezüglich vom BVwG unter Einbeziehung aktueller Länderberichte getroffenen Feststellungen, wonach die revisionswerbenden Parteien weder versuchte Zwangsrekrutierungsmaßnahmen in der Vergangenheit hätten glaubhaft machen können noch fallbezogen eine Zwangsrekrutierung bei Rückkehr drohe (vgl. dazu die ausführlichen beweiswürdigenden Erwägungen auf den Seiten 95 ff des Erkenntnisses). Dem setzt die Revision nichts Stichhaltiges entgegen.
14 Soweit sich die Revision in ihrem Zulässigkeitsvorbringen unter Zitierung des Beschlusses VwGH 31.8.2017, Ro 2017/21/0012, erkennbar gegen die Rückkehrentscheidung wendet und vorbringt, dass die Berücksichtigung des Kindeswohls im Zuge der Interessenabwägung unterlassen worden sei, ist zunächst auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur in diesem Zusammenhang gebotenen Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK zu verweisen. Eine solche ist wenn sie unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführt wurde, auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde im Allgemeinen nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG (vgl. VwGH 31.3.2023, Ra 2023/18/0028 bis 0029, mwN).
15 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der nach Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. § 9 BFA VG vorzunehmenden Abwägung auch das Kindeswohl der minderjährigen revisionswerbenden Parteien in Betracht zu ziehen. Dabei sind insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen die Kinder im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 11.7.2022, Ra 2022/18/0143 bis 0146, mwN).
16 Entgegen dem Revisionsvorbringen bezog das BVwG in seine Interessenabwägung das Kindeswohl der minderjährigen Sechst und Siebtrevisionswerberin mit ein und legte dar, warum es auch aus diesem Blickwinkel nicht geboten sei, von der Erlassung der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Abstand zu nehmen. Das BVwG berücksichtigte dabei zunächst die starken familiären Bindungen der gesamten Familie zum Irak und die relativ kurze Aufenthaltsdauer von etwa zwei Jahren in Österreich. Betreffend die beinahe siebzehnjährige Sechst und die zehnjährige Siebtrevisionswerberin erwog das BVwG im Besonderen, dass diese im Irak aufgewachsen und sozialisiert worden seien. Durch ihre Sozialisierung im Irak über gut vierzehn bzw. acht Jahre hinweg seien sie mit den gesellschaftlichen Werten, der Kultur, Sitten und Gebräuchen eingehend vertraut. Sie seien vor diesem sprachlichen und kulturellen Hintergrund aufgewachsen und von ihren Eltern nach den Gepflogenheiten des Heimatlandes erzogen worden, weshalb sie bei ihrer Rückkehr mit keinen unüberwindbaren Schwierigkeiten konfrontiert wären. Nach wie vor hätten die Beiden Verwandte und Freunde im Irak. Dort hätten sie auch den Großteil ihrer bisherigen Schulausbildung erhalten. Auch würden sie die Mehrheitssprache ihrer Herkunftsprovinz sprechen und der Mehrheitsethnie angehören. Ihnen sei die Wiederaufnahme ihrer Schulbildung in der Herkunftsprovinz möglich; der Zugang zum Schulsystem stehe ihnen offen.
17 Dieser Auseinandersetzung des BVwG mit der konkreten Situation der minderjährigen Sechst und Siebtrevisionswerberin unter Beachtung des Kindeswohls hält die Revision mit ihrem pauschalen Vorbringen nichts Stichhaltiges entgegen.
18 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 13. Dezember 2023