Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed als Richter sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger und Dr. in Sabetzer als Richterinnen, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des M K, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. September 2024, W603 2231583 2/13E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der (damals minderjährige) Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, stellte am 6. September 2016, vertreten durch seine Mutter, erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 1. Oktober 2020, bestätigt durch das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 13. Juli 2021, zur Gänze abgewiesen wurde. Gleichzeitig wurden (u.a.) eine Rückkehrentscheidung erlassen und die Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation festgestellt.
2 Nach der Entscheidung des BVwG reiste der Revisionswerber nach Deutschland, wo er ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Am 14. Juli 2022 wurde der Revisionswerber gemäß der Dublin III Verordnung nach Österreich rücküberstellt.
3 Am selben Tag stellte der Revisionswerber den verfahrensgegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, dass er aufgrund der Erlebnisse in seiner Kindheit Angst habe, in seine Heimat zurückzukehren. Er habe gehört, dass ein nach Tschetschenien abgeschobener Tschetschene kurz darauf getötet worden sei. Er wolle nicht zurück. Es sei Krieg und junge Leute würden für den Krieg eingezogen. Er wolle keine Menschen töten müssen.
4 Das BFA wies diesen Antrag mit Bescheid vom 27. Juni 2023 zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
5 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
6 Begründend führt das BVwG im Wesentlichen aus, der Revisionswerber laufe nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr, im Falle der Rückkehr zwangsweise im Angriffskrieg gegen die Ukraine eingesetzt zu werden. Der Revisionswerber sei zwar im wehrdienstpflichtigen Alter, habe aber keinen Grundwehrdienst geleistet, verfüge über keine militärische Ausbildung und gehöre nicht der aktiven Reserve an, sodass ihm keine Einziehung im Rahmen der Teilmobilisierung drohe. Eine Einberufung des Revisionswerbers zum Grundwehrdienst sei zudem vor dem Hintergrund der geringen Anzahl der aus Tschetschenien Einberufenen nicht maßgeblich wahrscheinlich, und selbst im Falle einer Einberufung zum Militärdienst könne den Länderfeststellungen zufolge nicht mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass er zu einem Kampfeinsatz im Ukrainekrieg abkommandiert werden würde.
7 Durch die angeordnete Rückkehrentscheidung liege auch keine Verletzung des Art. 8 EMRK vor, da in einer Gesamtabwägung die privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Bundesgebiet die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung nicht überwiegen würden. Dem Inlandsaufenthalt von rund zwei Jahren seit seiner zweiten Asylantragstellung im Jahr 2022 komme dabei für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung zu, zumal dieser Aufenthalt lediglich auf dem bereits zweiten unberechtigten Asylantrag des Revisionswerbers fuße.
8 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit geltend macht, die Annahme des BVwG, der Revisionswerber würde nicht zur „tschetschenischen Armee“ einberufen werden, sei mit dem Inhalt der Akten, insbesondere der Länderinformation, nicht in Einklang zu bringen. Der Revisionswerber habe im Verfahren auf die entsprechenden Länderberichte hingewiesen, wonach entweder die Einberufung zur tschetschenischen oder russischen Armee konkret drohe und Grundwehrdiener gezwungen werden würden, sich zum Kriegseinsatz zu verpflichten. Die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz widerspreche auch der Rechtsprechung des EuGH (Hinweis auf EuGH 19.11.2020, C 238/19, Rs. EZ), da davon auszugehen sei, dass der Revisionswerber im Falle des Kriegsdienstes Kriegsverbrechen begehen müsste, was diesem als Pazifisten nicht zuzumuten sei. Zudem sei das BVwG im Rahmen der Interessenabwägung bei der Beurteilung der Aufenthaltsdauer vom Inhalt der Akten und von den Feststellungen der Behörde abgewichen. Während die Behörde festgestellt habe, dass sich der Revisionswerber seit 6. September 2016 in Österreich aufhalte (unterbrochen nur durch seinen zehnmonatigen Aufenthalt in Deutschland), habe das BVwG den Aufenthalt des Revisionswerbers als erst mit der „Dublin“ Rückkehr am 14. Juli 2022 beginnend festgestellt und sei daher in seiner Beurteilung der Aufenthaltsdauer nur von einem rund zweijährigen Aufenthalt ausgegangen. Dies sei insofern ein beachtlicher Unterschied, als einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukäme.
9 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.
10 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
11 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
12 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
13 Soweit die Revision vorbringt, die Annahme des BVwG, der Revisionswerber würde nicht einberufen werden, sei aktenwidrig mit der Länderinformation nicht in Einklang zu bringen, ist ihr entgegenzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Aktenwidrigkeit nur dann vorliegt, wenn sich die Behörde bzw. das Verwaltungsgericht bei der Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes mit dem Akteninhalt hinsichtlich der dort festgehaltenen Tatsachen in Widerspruch gesetzt hat, wenn also der Akteninhalt unrichtig wiedergegeben wurde, nicht aber, wenn Feststellungen getroffen wurden, die auf Grund der Beweiswürdigung oder einer anders lautenden rechtlichen Beurteilung mit den Behauptungen einer Partei nicht übereinstimmen (vgl. VwGH 21.12.2023, Ra 2023/18/0077). Das vom Revisionswerber für eine Aktenwidrigkeit geltend gemachte Argument bezieht sich der Sache nach auf die beweiswürdigenden Erwägungen des BVwG. Eine Aktenwidrigkeit wird damit nicht dargelegt.
14 So hat das BVwG sich nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in der es sich einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschaffen konnte mit der individuellen Situation des Revisionswerbers in Bezug auf den Herkunftsstaat befasst und anhand der dazu getroffenen Feststellungen, im Speziellen basierend auf Länderberichten zur Frage der Einberufung zum Wehrdienst in der Russischen Föderation, insbesondere auch zur Rekrutierung von Angehörigen der tschetschenischen Volksgruppe, das Vorliegen einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung des Revisionswerbers in einer den konkreten Einzelfall betreffenden Beurteilung in vertretbarer Weise verneint. Die Revision hält den Argumenten des BVwG nichts Stichhaltiges entgegen und vermag schon deshalb nicht aufzuzeigen, dass die Beweiswürdigung in unvertretbarer Weise vorgenommen worden wäre (vgl. zum diesbezüglichen Maßstab für das Vorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung etwa VwGH 29.11.2024, Ra 2024/18/0115, mwN).
15 Wenn die Revision in der Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz einen Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH verortet, ist darauf hinzuweisen, dass der EuGH in seinem Syrien betreffenden Urteil vom 19. November 2020, C 238/19, Rs. EZ, zu einem deutschen Vorabentscheidungsersuchen ausgesprochen hat, dass eine Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlungen und dem Konventionsgrund der politischen Gesinnung nicht allein deshalb als gegeben angesehen werden kann, weil Strafverfolgung oder Bestrafung wegen einer Wehrdienstverweigerung erfolgen. Allerdings spreche eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie genannten Voraussetzungen (also eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Bürgerkrieg, wenn der Militärdienst u.a. Kriegsverbrechen umfassen würde) mit einem Konventionsgrund in Zusammenhang stehe (vgl. auch VwGH 21.12.2022, Ra 2022/18/0318). Das BVwG hat im Revisionsfall festgestellt, dass dem Revisionswerber eine Einberufung zum Militärdienst konkret gar nicht drohe, weshalb dem Vorbringen hinsichtlich einer Abweichung zu dieser Rechtsprechung des EuGH schon deshalb der Boden entzogen ist.
16 Die Revision wendet sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung überdies gegen die im Rahmen der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorgenommene Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. § 9 BFA VG und bringt vor, das BVwG habe dieser zu Unrecht einen bloß zweijährigen Aufenthalt des Revisionswerbers in Österreich zugrunde gelegt. Auch unter Beachtung des zehnmonatigen Aufenthalts in Deutschland hätte das BVwG insgesamt von einem rund achtjährigen Aufenthalt in Österreich ausgehen müssen.
17 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel (vgl. z.B. VwGH 18.9.2024, Ra 2024/18/0233, mwN).
18 Der Revision ist zuzugestehen, dass das BVwG die Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers in Österreich erst vom Zeitpunkt seiner Rücküberstellung aus Deutschland in seine Abwägungen einbezog und dem mehrjährigen Aufenthalt in Österreich während des ersten Asylverfahrens keine erkennbare Relevanz beimaß. Gleichzeitig übersieht die Revision aber, dass die bloße Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet von insgesamt etwa sieben Jahren insbesondere, wenn sie wie hier durch einen zehnmonatigen Aufenthalt in Deutschland unterbrochen war nicht allein maßgeblich ist, um einen Verbleib in Österreich zu rechtfertigen.
19 Das BVwG hat in der angefochtenen Entscheidung eine Gesamtabwägung der für und gegen einen Verbleib des Revisionswerbers in Österreich sprechenden Umstände im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. § 9 BFA VG vorgenommen. Es hat dabei insbesondere auf die strafrechtliche Unbescholtenheit des Revisionswerbers, dessen Sprachkenntnisse und soziale Kontakte Bedacht genommen, dem jedoch gegenübergestellt, dass kein Familienleben in Österreich bestehe, der Aufenthalt lediglich auf dem bereits zweiten unberechtigten Asylantrag fuße, der Revisionswerber keiner legalen Erwerbstätigkeit nachgehe, Leistungen aus der Grundversorgung beziehe und abgesehen von Bekannten keine nennenswerten sozialen Bindungen im Bundesgebiet habe. Dass sich das BVwG bei dieser Abwägung insgesamt von den Leitlinien der höchstgerichtlichen Rechtsprechung entfernt hätte, vermag die Revision nicht aufzuzeigen.
20 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.
Wien, am 3. März 2025