Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des R M, vertreten durch Mag. Carolin Seifriedsberger, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Walfischgasse 3/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Februar 2023, L525 2185299 1/17E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Pakistans und Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya (Ahmadi), stellte am 13. Juli 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Laufe des Verfahrens damit begründete, er sei aufgrund seiner Zugehörigkeit zur genannten Glaubensgemeinschaft in Pakistan mit vielfältigen Benachteiligungen (schlechtere medizinische Behandlung, Beschimpfungen, Verlust des Arbeitsplatzes, Gewaltakte) konfrontiert gewesen und wäre das auch nach einer Rückkehr.
2 Mit Bescheid vom 22. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen vom Revisionswerber erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, während derer der Revisionswerber ein Dokument in der Sprache Urdu („First Instance Report“ FIR) vorlegte, das eine bei der Polizei erstattete Anzeige betreffend einen Raubüberfall auf das Haus und die Familie des Revisionswerbers in Pakistan dokumentiere, als unbegründet ab. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
4 Zur Begründung führte das BVwG im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe sich hinsichtlich seines im Laufe des Verfahrens gesteigerten Fluchtvorbringens in zahlreiche Widersprüche verstrickt und insgesamt keine aktuelle, unmittelbare und persönliche Verfolgung, Bedrohung oder sonstige Gefährdung glaubhaft machen können. Auch eine drohende Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 oder 3 EMRK habe nicht festgestellt werden können. Zudem verfüge er über kein schützenswertes Privat- oder Familienleben in Österreich; die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung würden überwiegen.
5 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vorbringt, das BVwG habe seine Ermittlungspflicht im Hinblick auf die Möglichkeiten des Revisionswerbers, seine Religion in Pakistan auszuüben, verletzt und habe diesbezüglich auch eine unvertretbare Beweiswürdigung vorgenommen. Zudem habe sich das BVwG nicht inhaltlich mit den „UNHCR Eligibility Guidelines“ zu Pakistan auseinandergesetzt. Schließlich habe das BVwG im Zusammenhang mit der Rückkehrentscheidung eine unvertretbare Interessenabwägung vorgenommen.
6 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.
7 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
8 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
9 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
10 Die Revision bringt zunächst vor, das BVwG habe nicht ausreichend Länderinformationen zur Frage eingeholt, in welchem Umfang dem Revisionswerber die Ausübung seiner Religion in Pakistan überhaupt möglich wäre.
11 Dem ist zu entgegnen, dass die Frage, ob auf Basis eines konkret vorliegenden Standes eines Ermittlungsverfahrens ein „ausreichend ermittelter Sachverhalt“ vorliegt oder ob weitere amtswegige Erhebungen erforderlich sind, nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung begründet, sondern eine jeweils einzelfallbezogen vorzunehmende Beurteilung darstellt (vgl. VwGH 31.10.2022, Ra 2022/18/0191, mwN). Dass dem BVwG das den anwaltlich vertretenen Revisionswerber im Rahmen der mündlichen Verhandlung eingehend zu seinem Fluchtvorbringen befragte, einen Zeugen einvernahm sowie der Rechtsvertretung die Möglichkeit einräumte, ergänzende Fragen an den Revisionswerber zu richten bei dieser Beurteilung ein vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifender wesentlicher Verfahrensmangel unterlaufen wäre und ihm unter Berücksichtigung der vorliegenden Beweisergebnisse weitere amtswegige Ermittlungen „erforderlich“ im Sinne des § 18 Abs. 1 letzter Satz AsylG 2005 erscheinen hätten müssen, vermag die Revision nicht darzutun. Welche Tatsachen aufgrund welcher weiteren Ermittlungen festgestellt werden hätten müssen und inwiefern diese zu einem anderen, für den Revisionswerber günstigeren Ergebnis geführt hätten, legt die Revision nicht dar (vgl. zur Notwendigkeit der Relevanzdarlegung von Verfahrensmängeln VwGH 27.2.2023, Ra 2023/18/0050, mwN).
12 Soweit sich die Revision gegen die vom BVwG vorgenommene Beweiswürdigung wendet bzw. eine Verletzung des Parteiengehörs darin sieht, dass das BVwG im während der Verhandlung vorgelegten „First Information Report“ (FIR) eine Fälschung vermutet habe, ohne dem Revisionswerber eine Möglichkeit gegeben zu haben, sich zu diesem Fälschungsvorwurf zu äußern, ist ihr entgegenzuhalten, dass das BVwG den Revisionswerber im Rahmen der mündlichen Verhandlung sowohl zu dem vorgelegten Dokument, als auch zu dem für die angebliche Anzeige ursächlichen Vorfall befragt hat. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass sich das Recht auf Parteiengehör auf den von der Behörde festzustellenden maßgeblichen Sachverhalt bezieht. Die Beweiswürdigung im Sinn des § 45 Abs. 2 AVG, also die Frage, aus welchen Gründen die Behörde welchen Beweismitteln zu folgen gedenkt, zählt aber nicht zu den Ergebnissen des Beweisverfahrens (vgl. VwGH 14.1.2021, Ra 2020/18/0517, mwN). Es besteht auch keine Verpflichtung des BVwG, dem Asylwerber im Wege eines Vorhalts zur Kenntnis zu bringen, dass Widersprüche vorhanden seien, die im Rahmen der gemäß § 45 Abs. 2 AVG vorzunehmenden Beweiswürdigung zu seinem Nachteil von Bedeutung sein könnten, und ihm aus diesem Grunde eine Stellungnahme hierzu zu ermöglichen (vgl. VwGH 29.3.2021, Ra 2021/18/0095, mwN).
13 Die Revision wendet sich weiters gegen die beweiswürdigenden Erwägungen des BVwG, denen zufolge eine asylrelevante Verfolgung des Revisionswerbers aufgrund seiner Religionszugehörigkeit nicht festgestellt werden habe können. Weder aus den Länderberichten, noch aus sonstigen Gründen sei ersichtlich, dass der Revisionswerber bei einer Rückkehr nach Pakistan seine Religion frei ausüben werde können. Sie beruft sich auf das Urteil des EuGH vom 5. September 2012, Bundesrepublik Deutschland gegen Y und Z, C 71/11 und C 99/11, wonach es Sachverhaltsermittlungen bedürfe, inwiefern es Ahmadis möglich sei, den Glauben in Pakistan öffentlich zu leben, welche Konsequenzen dies nach sich ziehe und welche beruflichen und gesellschaftlichen Nachteile drohen würden.
14 Dazu ist festzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof unter Hinweis auf dieses Urteil des EuGH bereits erkannt hat, dass eine begründete Furcht vor asylrelevanter Verfolgung vorliegt, sobald nach Auffassung der zuständigen Behörden im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Antragstellers vernünftigerweise anzunehmen ist, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen. Der EuGH hat in der zitierten Entscheidung auch ausdrücklich hervorgehoben, dass die Behörden bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling dem Antragsteller nicht zumuten können, auf diese religiöse Betätigung zu verzichten, um eine Verfolgung zu vermeiden (vgl. VwGH 29.3.2023, Ra 2023/14/0095 bis 0096; 29.6.2022, Ra 2021/20/0376, jeweils mwN).
15 Das BVwG legte nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in der es sich einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschaffen konnte und einen Zeugen befragt hatte in einer ausführlichen Beweiswürdigung dar, dass es dem Revisionswerber nicht gelungen sei, seine behauptete Verfolgung vor der Flucht glaubhaft zu machen. Der Revision gelingt es nicht, eine Unvertretbarkeit der diesbezüglichen beweiswürdigenden Erwägungen des BVwG darzutun.
Soweit die Revision den Schutzbedarf des Revisionswerbers aus der allgemeinen Situation der Ahmadis in Pakistan ableiten möchte, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das BVwG die schwierige Lage dieser Religionsgemeinschaft in Pakistan zugestanden und entsprechende Länderfeststellungen getroffen hat. Gleichzeitig hat es aber fallbezogen dargelegt, dass und aus welchen Gründen es eine Ansiedlung des Revisionswerbers (mit seiner Kernfamilie) in der pakistanischen Stadt Rabwah, wo die Ahmadis die weitaus überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, Übergriffe auf sie seit Jahren nicht mehr dokumentiert seien und aus dem Berichtsmaterial auch nicht hervorgehe, dass die dortige aktuelle Lage eine Religionsausübung der Ahmadis nicht zuließe, für möglich und zumutbar erachtet. Dass diese Einschätzung fehlerhaft erfolgt wäre, zeigt die Revision nicht auf.
16 Zudem moniert die Revision als Verfahrensmangel eine fehlende inhaltliche Auseinandersetzung mit den „UNHCR Eligibility Guidelines“ und somit ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach diesen besondere Beachtung zukomme. Werden Verfahrensmängel als Zulässigkeitsgründe geltend gemacht, muss jedoch auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass auch in der gesonderten Begründung für die Zulässigkeit der Revision zumindest auf das Wesentliche zusammengefasst jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensmangels als erwiesen ergeben hätten. Die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler ist in konkreter Weise darzulegen (vgl. VwGH 23.2.2023, Ra 2023/14/0029, mwN).
17 Mit dem allgemein gehaltenen Vorbringen, das BVwG hätte bei richtiger Beurteilung der Richtlinien erkennen müssen, dass dem Revisionswerber Schutz vor Verfolgung zu gewähren gewesen wäre, da dieser als Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya vor Verfolgung in Pakistan nicht geschützt sei, wird die Revision den Anforderungen an die Relevanzdarlegung eines Verfahrensmangels nicht gerecht. Das Bundesverwaltungsgericht gelangte unter Anführung mehrerer fallbezogener Gesichtspunkte zu dem Ergebnis, dass dem Revisionswerber aufgrund seiner Religionszugehörigkeit keine „systematische“ asylrelevante Verfolgung drohe. Eine solche fallbezogene Beurteilung („depending on the individual circumstances of the case“) erweist sich im Übrigen auch nach den vom Revisionswerber angesprochenen Richtlinien als erforderlich (vgl. erneut VwGH 23.2.2023, Ra 2023/14/0029, mwN). Im Ergebnis ist die Beurteilung des BVwG, wonach keine asylrelevante Verfolgung des Revisionswerbers drohe, daher nicht zu beanstanden.
18 Schließlich wendet sich der Revisionswerber gegen die im Rahmen der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorgenommene Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. § 9 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG) und führt ins Treffen, dass er sich im Entscheidungszeitpunkt bereits mehr als sechs Jahre in Österreich aufgehalten und sich um Integration bemüht habe. Zudem dürfe die „unbegründete“ Asylantragstellung nicht zu seinen Lasten ausgelegt werden.
19 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel (vgl. VwGH 21.10.2022, Ra 2022/18/0162, mwN).
20 Es entspricht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass das persönliche Interesse zwar grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zunimmt, die bloße Aufenthaltsdauer jedoch nicht allein maßgeblich ist, sondern vor allem anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen ist, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. VwGH 27.2.2023, Ra 2023/18/0033, mwN).
21 Das BVwG hat die Dauer des Aufenthalts des Revisionswerbers von etwa sechseinhalb Jahren im Entscheidungszeitpunkt des BVwG und während dieser Zeit gesetzte Integrationsschritte in die Interessenabwägung einbezogen, in seine Erwägungen jedoch zu Recht miteinfließen lassen, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA VG maßgeblich relativierend ist, wenn wie hier die integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 10.9.2021, Ra 2021/18/0290, mwN).
Unvertretbar wäre es, wenn das BVwG einer in dieser Zeit erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beigemessen hätte (vgl. dazu etwa VwGH 29.8.2022, Ra 2022/18/0165, mwN).
22 Im vorliegenden Fall berücksichtigte das BVwG aber neben der sechsjährigen Aufenthaltsdauer insbesondere den Umstand, dass der Revisionswerber kein schützenswertes Familienleben im Bundesgebiet führe, über sehr geringe Deutschkenntnisse verfüge, keiner Erwerbstätigkeit nachgehe und Leistungen aus der Grundversorgung beziehe. Darüber hinaus bezog es dessen Bindungen zum Herkunftsstaat einerseits sowie zu Österreich andererseits und seine Unbescholtenheit in seine Abwägungen mit ein. Eine Unvertretbarkeit im Sinne der zitierten Rechtsprechung vermag die Revision nicht darzutun.
23 In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 24. April 2023