Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed, den Hofrat Mag. Tolar und die Hofrätinnen Dr. in Gröger, Dr. in Sabetzer und Dr. Kronegger als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des A A, vertreten durch Mag. a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Oktober 2023, W123 2248821 1/28E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Bangladesch, beantragte am 1. August 2021 internationalen Schutz und brachte zusammengefasst vor, wegen seiner gleichgeschlechtlichen Orientierung in seinem Herkunftsstaat Verfolgung zu befürchten.
2 Zur Vorgeschichte wird auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 20. März 2023, Ra 2022/18/0126, verwiesen, mit dem das im ersten Rechtsgang erlassene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 5. Mai 2022, W123 2248821 1/8E, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben wurde. Die Feststellungen des in Revision gezogenen Erkenntnisses beantworteten die Frage der sexuellen Orientierung des Revisionswerbers nicht, sodass eine abschließende Beurteilung der Frage, ob dem Revisionswerber wegen seiner sexuellen Orientierung im Herkunftsstaat Verfolgung droht, nicht möglich war.
3 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde des Revisionswerbers mit einer für das Revisionsverfahren nicht relevanten Maßgabe erneut ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das BVwG mit näherer Beweiswürdigung aus, der Revisionswerber habe nicht glaubhaft machen können, homosexuell zu sein, von 2006 bis 2008 in Bangladesch mit einem männlichen Mitbewohner in einer Schüler WG ein intimes Verhältnis gehabt zu haben und derzeit in Österreich in einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft zu leben. Er habe daher auch nicht glaubhaft machen können, dass er in Bangladesch (wegen seiner sexuellen Orientierung) einer asylrelevanten individuellen Verfolgung ausgesetzt gewesen sei oder im Falle seiner Rückkehr einer solchen ausgesetzt wäre.
5 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache unter anderem geltend macht, die Beweiswürdigung des BVwG zur Frage, ob der Revisionswerber homosexuell sei, halte den Anforderungen an die Begründungspflicht nicht stand. Gegenständlich seien zahlreiche, in der Revision näher angeführte Umstände vorgelegen, die auf eine homosexuelle Orientierung des Revisionswerbers hindeuten würden, welche in Zusammenschau mit dem Vorbringen des Revisionswerbers zu seinen inneren Gefühlsvorgängen und den Angaben seines als Zeugen vernommenen Lebensgefährten die Überzeugung des BVwG, der Revisionswerber habe nicht glaubhaft machen können, homosexuell zu sein, nicht nachvollziehen lasse. Das BVwG lasse in seiner Beweiswürdigung die für die Homosexualität des Revisionswerbers sprechenden Beweisergebnisse außer Acht. Es führe eine „isolierte Würdigung“ von Beweisergebnissen durch und missachte dadurch „seine Verpflichtung zur Gesamtbetrachtung aller Umstände“, was in der Revision im Einzelnen näher dargestellt wird. Im Übrigen rügt die Revision u.a., dass Vorhalte des erkennenden Richters in der fortgesetzten mündlichen Verhandlung zum Teil unrichtig gewesen seien, dass Annahmen des erkennenden Richters über erwartbares Verhalten von Homosexuellen einer sachlichen Grundlage entbehrten und den SOGI Richtlinien des UNHCR widersprächen.
6 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
7 Die Revision ist im Sinne des dargestellten Zulässigkeitsvorbringens zulässig und begründet.
8 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 29.8.2023, Ra 2022/18/0193, mwN). Nach der höchstgerichtlichen Judikatur verlangt eine schlüssige Beweiswürdigung, dass das Verwaltungsgericht dabei alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. VwGH 10.8.2022, Ra 2022/18/0012, mwN; vgl. zum Ganzen etwa auch jüngst VwGH 27.5.2024, Ra 2023/18/0448).
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits im aufhebenden Erkenntnis des ersten Rechtsgangs unter Bezugnahme auf die SOGI Richtlinien des UNHCR darauf hingewiesen, dass Verfolgungsbehauptungen aufgrund der sexuellen Orientierung den sehr privaten Lebensbereich des Asylwerbers betreffen und ein „offenes und beruhigendes Umfeld“ als Grundvoraussetzung dafür erfordern, dass sensible und persönliche Informationen offen angesprochen werden können. Entscheidungsträger müssen eine objektive Herangehensweise bewahren, damit ihre Schlüsse nicht auf stereotypen, ungenauen oder unzutreffenden Vorstellungen von Personen mit der behaupteten sexuellen Orientierung beruhen (vgl. auch SOGI Richtlinien, Rn. 60 ff).
10 Ungeachtet dessen hat das BVwG diesen rechtlichen Vorgaben, wie die Revision im Ergebnis zutreffend geltend macht, (auch) im fortgesetzten Verfahren nicht entsprochen.
11 Die Befragung des Revisionswerbers und des Zeugen in der fortgesetzten Verhandlung vor dem BVwG gestaltete sich ausweislich des vorliegenden Protokolls konfrontativ und verlangte dem Revisionswerber und dem einvernommenen Zeugen B (behaupteter Lebensgefährte des Revisionswerbers) Offenlegungen zu ihren Gefühlen, ihrer Treue und potentiellen Sexualkontakten ab, welche die vom Verwaltungsgerichtshof im Vorerkenntnis eingeforderte Sensibilität im Umgang mit dem sehr privaten Beweisthema vermissen ließen.
12 Die Beweiswürdigung im angefochtenen Erkenntnis zeigt zum Teil stereotype Vorstellungen des Richters, wie nach seinen Erwartungen Homosexualität üblicherweise gelebt wird bzw. welches Wissen und Verhalten in Bezug auf diese sexuelle Orientierung zu erwarten ist. Sie erfolgt einseitig zum Nachteil des Revisionswerbers und lässt nicht erkennen, dass dabei auch für ihn sprechende Umstände in Erwägung gezogen wurden.
13 Nur beispielhaft sei etwa herausgegriffen, dass der erkennende Richter die vom Revisionswerber ausgesagten sexuellen Kontakte zu einem Mitbewohner seiner Wohngemeinschaft in Bangladesch beweiswürdigend in Zweifel zog, weil er sich „nicht sicher sein [habe können], dass man im Nebenzimmer keine Geräusche wahrnehmen hätte können, insbesondere keine mehr oder weniger lauten Geschlechtsakte“ und es aus Sicht des erkennenden Richters „grob fahrlässig gewesen [wäre], zwei Jahre lang regelmäßig sexuelle Kontakte in einer nicht stabilen Schüler WG zu praktizieren“. Derartige persönliche Einschätzungen des erkennenden Richters stellen schon deshalb keine nachvollziehbare Beweiswürdigung dar, weil sie den sehr persönlichen Umgang von Menschen mit ihrer Sexualität gänzlich ausblenden.
14 Wenn das BVwG in seiner Beweiswürdigung von bloß „oberflächlichem Wissen [des Revisionswerbers] betreffend die gesetzliche Lage von homosexuellen Personen in Österreich“ spricht und erwartet hätte, dass er sich darüber informiert hat, stellt der erkennende Richter eine Erwartungshaltung in den Raum, für deren allgemeine Geltung er keinen Nachweis erbringt. Außer Acht gelassen wird gleichzeitig, dass der Revisionswerber auf die Frage nach der Rechtsstellung Homosexueller in Österreich ohnedies antwortete, sie könnten hier in Freiheit leben und seien Heterosexuellen gleichgestellt.
15 Nichts anderes gilt für das beweiswürdigende Argument, der Revisionswerber habe nur zwei Vereine aus dem homosexuellen Milieu nennen und „sonst keinerlei Wissen über die ‚homosexuelle Szene‘ in Österreich präsentieren“ können. Auch hier stehen im Hintergrund stereotype Erwartungshaltungen über das Verhalten Homosexueller im Allgemeinen und es wird überdies nicht berücksichtigt, dass der Revisionswerber ohnedies regelmäßige Besuche eines näher bezeichneten Vereinslokals angeführt hatte.
16 Einseitig und unsachlich interpretiert werden vom erkennenden Richter auch die Aussagen des Zeugen B über das gemeinsame Freizeitverhalten. Während der Zeuge angab, sie würden gemeinsam fortgehen, hätten für ganz Österreich ein [gemeint offenbar: Zug ]Ticket, würden gern reisen und spazieren gehen, folgerte das BVwG beweiswürdigend, seinen Erzählungen könne nicht entnommen werden, dass konkrete Vorstellungen über eine gemeinsame Zukunft bestünden, weshalb der Eindruck entstehe, dem Zeugen sei nur „das Fortgehen und Alkohol wichtig“ bzw. sei er nur an eigenem wirtschaftlichen Fortkommen interessiert.
17 Bei alldem wird nicht übersehen, dass das BVwG neben einzelnen Aussagewidersprüchen in Details, denen geringer Beweiswert zukommt auch beachtenswerte beweiswürdigende Argumente anführte, welche die Glaubwürdigkeit der geltend gemachten Beziehung in Frage stellen konnten, etwa, dass die beiden angeblichen Lebenspartner wenig über den persönlichen Hintergrund des jeweils anderen wussten. Allerdings lässt das angefochtene Erkenntnis jegliche kritische Auseinandersetzung damit vermissen, ob darin unter Bedachtnahme auf andere Beweisergebnisse ein ausreichender Hinweis für die mangelnde Glaubhaftmachung der sexuellen Orientierung des Revisionswerbers gesehen werden kann.
18 All das führt in einer Gesamtbetrachtung dazu, dass die Beweiswürdigung des BVwG wie die Revision im Einzelnen zu Recht darlegt unvertretbar ist und keinen Bestand haben kann.
19 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
20 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
21 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 5. September 2024