JudikaturVwGH

Ra 2024/14/0266 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
01. April 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsidenten Mag. Nedwed sowie die Hofrätinnen Dr. in Sembacher und Mag. Bayer und die Hofräte Mag. Marzi und Mag. Schartner, Bakk., als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. in Zeitfogel, über die Revision des M A in L, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1020 Wien, Bruno Marek Allee 5/8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Jänner 2024, L507 2243834 1/38E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status eines Asylberechtigten richtet, zurückgewiesen.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Türkei und der kurdischen Volksgruppe zugehörig, beantragte am 5. Dezember 2020 internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Diesen Antrag begründete der Revisionswerber mit seiner Mitgliedschaft in der Partei HDP sowie mit zwei Verurteilungen aufgrund dieser Mitgliedschaft. So sei der Revisionswerber aufgrund des Teilens von Fotos der Organisation YPG in sozialen Netzwerken und wegen des Singens kurdischer Lieder strafgerichtlich verurteilt worden und habe deshalb die Türkei verlassen.

2 Mit Bescheid vom 21. Mai 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

4 Das BVwG traf soweit für das vorliegende Verfahren wesentlich Feststellungen zu den Verurteilungen des Revisionswerbers und hielt fest, dass es einen aufrechten Haftbefehl gegen den Revisionswerber gebe. Es könne jedoch nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber im Zusammenhang mit den festgestellten Strafverfahren einer nicht den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens genügenden Verfahrensführung durch die türkischen Gerichte unterworfen gewesen oder eine unverhältnismäßige Bestrafung wegen der ihm zur Last gelegten Taten erfolgt wäre. Es handle sich vielmehr um legitime Strafverfolgung. Der Revisionswerber sei einfaches Parteimitglied der HDP, Finanzreferent der Vorgängerpartei DTP und Ortsvorsitzender deren Vorgängerpartei BDP gewesen, diese Tätigkeiten seien nur untergeordneter Natur gewesen. Der Revisionswerber sei weder einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen noch drohe ihm eine solche im Falle der Rückkehr. Mit umfangreichen Feststellungen zur Situation der Justiz und dem Ablauf von Strafverfahren sowie den Zuständen in den Haftanstalten in der Türkei kam das BVwG unter anderem zu dem Schluss, dass der Revisionswerber im Falle eines Strafvollzugs in einer türkischen Haftanstalt keiner realen Gefahr ausgesetzt sei, dass seine maßgeblichen Rechtsgüter in relevanter Weise verletzt würden. Die Gefahr einer Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte sei im Falle einer Rückkehr nicht zu gewärtigen.

5 Der Revisionswerber erhob zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Dieser lehnte die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 12. März 2024, E 667/2024 6, ab und trat die Beschwerde über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom 3. April 2024, E 667/2024 8, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

6 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Revisionen und der Verfahrensakten durch das BVwG das Vorverfahren eingeleitet. Es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

I. Zur Zurückweisung:

8 Soweit die Revision geltend macht, das BVwG sei von näher genannter Rechtsprechung zur Unterscheidung zwischen „prosecution“ und „persecution“ abgewichen und hätte sich sowohl genauer mit der politischen Tätigkeit des Revisionswerbers in der Türkei als auch mit den in der Türkei geführten Strafverfahren gegen den Revisionswerber auseinandersetzen müssen, wodurch es dann zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass sich der Revisionswerber tatsächlich in Social Media Postings nur auf die YPG bezogen habe, bei der es sich anders als die PKK aus Sicht der Europäischen Union um keine terroristische Organisation handle, steht dieses Vorbringen im Widerspruch zu den Feststellungen und Erwägungen des BVwG, wonach der Revisionswerber in der Türkei auch wegen konkreter Vorwürfe zu unterstützenden Beiträgen im Zusammenhang mit der PKK verurteilt worden sei. Die gegenteiligen Behauptungen des Revisionswerbers sowie die behaupteten exilpolitischen Tätigkeiten des Revisionswerbers wurden vom BVwG in einer umfassenden vertretbaren Beweiswürdigung als nicht glaubwürdig beurteilt (vgl. zum diesbezüglichen Prüfmaßstab des Verwaltungsgerichtshofes VwGH 29.11.2023, Ra 2023/14/0420 bis 0423, mwN).

9 Im Übrigen zeigt die Revision zwar zutreffend auf, dass die Länderfeststellungen im angefochtenen Erkenntnis Mängel der Rechtsstaatlichkeit und des Justizwesens in der Türkei dokumentieren. Dass es derartige Mängel auch im konkreten Strafverfahren gegen den Revisionswerber gegeben hätte, legt sie aber nicht (substantiiert) dar.

10 Schon deshalb vermag die Revision nicht darzutun, dass die strafrechtliche Verurteilung des Revisionswerbers in der Türkei als asylrelevante Verfolgung und nicht als (legitime) Strafverfolgung anzusehen war (vgl. zu dieser Abgrenzung etwa VwGH 7.11.2024, Ra 2024/18/0345, mwN).

11 Aus diesem Grund war die Revision, soweit sie die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status eines Asylberechtigten betrifft, gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

II. Zur Aufhebung:

12 Weiters stützt die Revision ihre Zulässigkeit auf einen relevanten Begründungsmangel und begründet dies damit, das BVwG habe dem Erkenntnis zugrundeliegende näher genannte Länderfeststellungen nicht in seine Erwägungen miteinbezogen und somit begründungslos übergangen. Das Fazit des BVwG, dem Revisionswerber drohe keine Gefährdung seiner aus Art. 3 EMRK erwachsenden Rechte, stehe im Widerspruch zu diesen vom BVwG selbst getroffenen Feststellungen.

13 In diesem Ausmaß erweist sich die Revision als zulässig; sie ist auch begründet:

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. zB VwGH 3.3.2025, Ra 2024/18/0034, mwN).

15 Das BVwG geht davon aus, dass dem Revisionswerber bei Rückkehr in die Türkei trotz der zu erwartenden Haftstrafe keine Verletzung seiner durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte drohe. Es bezieht sich bei dieser Einschätzung darauf, dass in den türkischen Haftanstalten zwar Folter und Misshandlungen vorkämen, die über bloße Einzelfälle hinausgingen, es sei jedoch keine solche Intensität an Übergriffen aufgezeigt worden, dass von der realen Gefahr auszugehen wäre, der Revisionswerber könnte von Folter und Misshandlung persönlich betroffen sein.

16 Zu Recht wendet die Revision ein, dass diese Begründung nur unzureichende Bezüge zu den vom BVwG selbst getroffenen Länderfeststellungen herstellt und damit nicht mangelfrei ist. Es mag zwar zutreffen, dass nicht jeder türkische Strafgefangene wie das BVwG argumentiert entgegen Art. 3 EMRK behandelt wird. Es ist allerdings erforderlich, im Einzelfall eine nachvollziehbar begründete Einschätzung vorzunehmen, die auf das Risikoprofil der betroffenen Person Bedacht nimmt.

17 Aus den Länderfeststellungen ist nämlich etwa auch zu erkennen, dass Praktiken wie das Verprügeln von Gefangenen, die als „Terroristen“ eingestuft werden, „in einem noch nie dagewesenen Ausmaß“ stattfinden sollen (Erkenntnis Seite 58). Die Gefangenen würden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, würden von anderen Insassen separiert. Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, hätten unter Übergriffen, darunter etwa lange Einzelhaft, unnötige Entkleidungen und Leibesvisitationen oder in einigen Fällen der Verweigerung medizinischer Behandlung gelitten (Erkenntnis Seiten 59f).

18 Auf all diese Informationen ging das BVwG in seiner Begründung nicht ein und belastete das angefochtene Erkenntnis dadurch mit einem Begründungsmangel, der zur Aufhebung des Erkenntnisses wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG im spruchgemäßen Umfang, weil die rechtlich auf die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status eines subsidiär Schutzberechtigten aufbauenden Aussprüche ihre Grundlage verlieren, führen musste.

19 Im fortgesetzten Verfahren wird auch zu berücksichtigen sein, dass zwischenzeitlich eine Auslieferung des Revisionswerbers an die Türkei vom Landesgericht Linz mit Beschluss vom 16. Juli 2024 für unzulässig erklärt wurde, weil zu besorgen sei, dass die in der Türkei verhängte Strafe in einer den Erfordernissen des Art. 3 EMRK nicht entsprechenden Weise vollstreckt werden würde. Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar bereits erkannt, dass diese Entscheidung für die Asyl und Fremdenbehörden keine Bindungswirkung entfaltet; sie haben jedoch bei der Prüfung der Zulässigkeit der Abschiebung auf die Entscheidung des Auslieferungsgerichts Bedacht zu nehmen, und zwar insbesondere dann, wenn das Auslieferungsgericht wie hier dasselbe Prüfkalkül (etwa eine drohende Verletzung von Art. 3 EMRK) angewandt hat. In diesen Fällen müssen die Asylbehörden unter Einbeziehung der Erwägungen des Auslieferungsgerichts nachvollziehbar darlegen, weshalb dem Betroffenen eine von den Asylbehörden wahrzunehmende Missachtung von Menschenrechten im Falle der Abschiebung nicht droht (vgl. dazu grundlegend VwGH 10.4.2019, Ro 2018/18/0005; weiters VwGH 12.9.2023, Ra 2023/19/0325).

20 Überdies wird zu beachten sein, dass die dem Revisionswerber zur Last gelegten Taten unbeschadet einer allfälligen Unzulässigkeit der Abschiebung auch Ausschlussgründe in Bezug auf den subsidiären Schutz begründen können, mit denen sich das BVwG bislang nicht auseinandergesetzt hat.

21 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 und 3 VwGG abgesehen werden.

22 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 1. April 2025