Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed, den Hofrat Mag. Tolar sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger, Dr. in Sabetzer und Dr. Kronegger als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des M B, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1020 Wien, Bruno Marek Allee 5/8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Mai 2024, L532 2283154 1/17E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit, beantragte am 26. Juni 2022 internationalen Schutz. Begründend brachte er im Lauf des Verfahrens zusammengefasst u.a. vor, wegen seiner politischen Überzeugung verfolgt zu werden. Aufgrund seiner regimekritischen Aktivitäten auf Facebook werde er in der Türkei strafrechtlich verfolgt. Im Falle der Rückkehr befürchte er, inhaftiert, gefoltert und umgebracht zu werden.
2 Mit Bescheid vom 29. September 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
4Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, gegen den Revisionswerber sei in der Türkei ein Strafverfahren wegen des Delikts der Präsidentenbeleidigung gemäß § 299 Abs. 1 türkisches StGB anhängig. Es sei jedoch nicht davon auszugehen, dass der Revisionswerber illegitimer Strafverfolgung ausgesetzt wäre, zumal sich aus den Länderberichten keine Indizien dafür entnehmen ließen, dass die Anwendung der einschlägigen türkischen Strafbestimmung in der Praxis unverhältnismäßig erfolge. Angesichts der vorgelegten Beiträge des Revisionswerbers in den sozialen Medien ergebe sich „nichts Grundsätzliches gegen die Führung eines (ergebnisoffenen) Ermittlungsbzw. Strafverfahrens“. Zudem widersprächen die Haftbedingungen in der Türkei im Allgemeinen nicht Art. 2 und 3 EMRK.
5 In der vorliegenden außerordentlichen Revision wird zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend gemacht, das BVwG sei von einer legitimen Strafverfolgung des Revisionswerbers in der Türkei ausgegangen, habe es aber gleichzeitig verabsäumt, Feststellungen darüber zu treffen, aufgrund welcher Postings des Revisionswerbers das Strafverfahren gegen ihn geführt werde. Die vorgenommenen Ermittlungen ließen eine Einschätzung, ob eine zulässige strafrechtliche Verfolgung („prosecution“) oder eine asylrelevante staatliche Verfolgung („persecution“) vorliege, nicht zu. Das BVwG habe den Abschlussbericht der türkischen Behörden nur in groben Zügen übersetzen lassen, wesentliche näher umschriebeneTeile der Postings seien hingegen nicht übersetzt worden. Die Frage, ob ein Anfangsverdacht hinsichtlich eines Beleidigungsdelikts gerechtfertigt angenommen werden konnte und die Postings auf der politischen Gesinnung des Revisionswerbers beruhten, sei unbehandelt geblieben. Hätte das BVwG weitere Ermittlungsschritte gesetzt, hätte es zu dem Schluss kommen müssen, dass sich die Postings im Rahmen der legitimen Meinungsäußerung bewegt haben und keinesfalls als Beleidigung aufzufassen gewesen wären. Es werde nicht verkannt, dass es nicht Aufgabe des BVwG sei, die strafgerichtliche Relevanz des Verhaltens des Revisionswerbers abschließend zu klären. Die Einleitung des Strafverfahrens sei aber in Anbetracht des unbedenklichen Inhalts der Postings ausschließlich mit der regierungskritischen Haltung des Revisionswerbers sowie den oppositionspolitischen Inhalten der Postings zu erklären. Abgesehen davon ergebe sich aus den einschlägigen Länderberichten, dass erhebliche Bedenken an der legitimen und den Voraussetzungen des Art. 6 EMRK entsprechenden Anwendung der Strafnorm der Präsidentenbeleidigung in der Türkei bestünden. Die Beweiswürdigung des BVwG zu den Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen sei unvertretbar, zumal sie keinen Fallbezug zur individuellen Situation des Revisionswerbers als Kurde und langjähriges Mitglied einer Oppositionspartei herstelle.
6 Das BFA hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
7 Die Revision ist zulässig und begründet.
8 Vorauszuschicken ist, dass es - wie im vorliegenden Fall - bei Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die Strafjustiz im Herkunftsstaat einer Abgrenzung zwischen der legitimen Strafverfolgung („prosecution“) einerseits und der Asyl rechtfertigenden Verfolgung aus einem der Gründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) („persecution“) andererseits bedarf.
9 Keine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist im Allgemeinen in der staatlichen Strafverfolgung zu erblicken. Allerdings kann auch die Anwendung einer durch Gesetz für den Fall der Zuwiderhandlung angeordneten, jeden Bürger des Herkunftsstaates gleich treffenden Sanktion unter bestimmten Umständen „Verfolgung“ im Sinne der GFK aus einem dort genannten Grund sein; etwa dann, wenn das den nationalen Normen zuwiderlaufende Verhalten des Betroffenen im Einzelfall auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt.
10Um feststellen zu können, ob die strafrechtliche Verfolgung wegen eines auf politischer Überzeugung beruhenden Verhaltens des Asylwerbers einer Verfolgung im Sinne der GFK gleichkommt, kommt es somit entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung und die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an (vgl. zu allem VwGH 1.2.2024, Ra 2022/18/0280, mwN). Dazu bedarf es entsprechender Feststellungen (vgl. auch VwGH 29.8.2022, Ra 2022/18/0110, mwN, zu einem Fall, in dem noch kein Strafurteil, aber eine [vermeintliche] Anklageschrift vorlag).
11 Im gegenständlichen Verfahren ging das BVwG davon aus, dass gegen den Revisionswerber in der Türkei aufgrund näher bezeichneter veröffentlichter Beiträge in sozialen Medien ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet worden sei. Die im Beschwerdeschriftsatz demonstrativ zitierten Facebook Beiträge des Revisionswerbers aus dem Jahr 2015 seien zweifellos beleidigend und würden den entsprechenden Tatbestand objektiv und subjektiv erfüllen.
12 Zu Recht macht die Revision geltend, dass das BVwG sich nicht mit den näheren Umständen der inkriminierten Facebook Beiträge auseinandersetzte. Zum einen fehlen in der Begründung konkrete Feststellungen, welche Postings des Revisionswerbers zum Gegenstand des Strafverfahrens gemacht wurden. Zum anderen schenkte das BVwG dem Vorbringen des Revisionswerbers, er habe lediglich Zitate aus öffentlichen Publikationen in satirischer Weise wiedergegeben, keine erkennbare Beachtung. So stellte das BVwG unter anderem tragend darauf ab, dass der Revisionswerber den türkischen Präsidenten als „Dieb“ bezeichnet habe. Jedoch schenkte es dem Umstand wie der Revisionswerber bereits in der mündlichen Verhandlung ausführte , dass es sich hierbei um ein Zitat einer türkischen Tageszeitung handle, keine Beachtung. Dass weitere Erhebungen zu Ursprung oder Gehalt des Zitats sowie den anderen herangezogenen Beiträgen durchgeführt worden wären, lässt sich dem Akteninhalt ebenfalls nicht entnehmen. Indem sich das BVwG nicht näher mit dem Kontext, der Bildsprache, der Quelle und dem Sinngehalt der einschlägigen Beiträge welche nach dem Vorbringen des Revisionswerbers zum Großteil satirischer Natur seien und legalen Zeitungen oder Magazinen entstammten befasste, fehlt es dem angefochtenen Erkenntnis an hinreichenden Ermittlungen zu dem dem Revisionswerber angelasteten Verhalten, um die Legitimität der Strafverfolgung einzelfallbezogen beurteilen zu können. Auch der Verweis auf die in der Beschwerde zitierten Beiträge aus dem Jahr 2015 erweist sich als nicht tragfähig, weil sich diese weder in dem für die Feststellung der Strafverfolgung des Revisionswerbers herangezogenen Abschlussbericht noch in der Kurzdarstellung der Oberstaatsanwaltschaft finden und daher offenbar nicht Gegenstand des relevanten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens waren. Damit ist das Erkenntnis mit entscheidungswesentlichen Ermittlungsmängeln behaftet.
13 In diesem Zusammenhang ist auch auf die umfangreich getroffenen Länderfeststellungen zu verweisen, mit denen sich das BVwG in seiner Beweiswürdigung nur unzureichend auseinandersetzte. Diese zeigen, gestützt auf zahlreiche Quellen, massive Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit von Strafverfahren in der Türkei auf. So werden neben dem „weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti TerrorGesetzgebung“ einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, darunter die „Beleidigung des Staatsoberhauptes“, welche extensiv herangezogen würden, als ursächlich für die meisten Einschränkungen der Grundrechte genannt (Erkenntnis Seite 87). Der EGMR habe [...] im Fall „Vedat Şorli vs. Turkey“ festgestellt, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsehe, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der EMRK entspreche (Erkenntnis Seite 61).
14 Die Einschätzung des BVwG, der Revisionswerber müsse keine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung befürchten, steht damit zu den von ihm selbst der Entscheidung zugrunde gelegten Länderfeststellungen in einem unaufgeklärten Spannungsverhältnis. Das BVwG nahm weiters wie erwähnt nicht auf den vorgebrachten satirischen Inhalt der Postings, der legalen Zeitungen und Magazinen entnommen worden sein soll, Bedacht. Vor dem Hintergrund dieser Berichtslage sowie der mangelhaften Ermittlungen im Hinblick auf das dem Revisionswerber konkret angelastete Verhalten greift die Begründung des BVwG, es gebe auch einen einschlägigen Straftatbestand im österreichischen Recht und die Anklage und Verurteilungsstatistik zum Delikt der Beleidigung des Präsidenten beweise, dass die türkische Justiz die Vorwürfe unabhängig prüfe, zu kurz.
15 Soweit sich das BVwG mit den Haftbedingungen in der Türkei auseinandersetzte, sind dem angefochtenen Erkenntnis im Übrigen keine auf die individuelle Situation des Revisionswerbers Bezug nehmenden Erwägungen zu entnehmen. So führte das BVwG zwar aus, dass es zu Diskriminierungen einzelner Gruppen von Gefangenen wie etwa Kurden oder politischen Häftlingen kommen könne, stellte jedoch ausgehend davon keinen Fallbezug zur Situation des Revisionswerbers als Kurde und behauptetermaßen langjähriges Mitglied einer Oppositionspartei her.
16Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
17Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
18Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 7. November 2024