JudikaturVwGH

Ra 2023/14/0376 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
08. Oktober 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer sowie die Hofrätinnen Dr. in Sembacher und Mag. Bayer als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Kreil, MA, über die Revision des J A in W, vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. August 2023, L529 22154241/29E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1Der Revisionswerber ist Staatsangehöriger des Irak, reiste im Jahr 2015 nach Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Diesen begründete der Revisionswerber im Rahmen der Erstbefragung mit einer Bedrohung durch Milizen aufgrund seiner Tätigkeit als Spirituosenverkäufer sowie im weiteren Verlauf mit einer Verfolgung aufgrund seiner homosexuellen Orientierung.

2 Mit Bescheid vom 24. Jänner 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung, stellte die Zulässigkeit seiner Abschiebung in den Irak fest und setzte eine Frist von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 In seiner Begründung ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass der Revisionswerber nicht homosexuell sei und im Irak weder aufgrund einer behaupteten sexuellen Orientierung noch aufgrund seiner Tätigkeit als Spirituosenverkäufer einer Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Weiters traf es Feststellungen zur Gefährdung von sexuellen Minderheiten im Irak.

5 Im Rahmen seiner Beweiswürdigung erwog das Bundesverwaltungsgericht unter anderem, dass der Revisionswerber seine Homosexualität im Rahmen der Erstbefragung nicht vorgebracht habe und es durch dieses weitere Vorbringen de facto zu einem „Austausch des Fluchtgrundes gekommen sei“. Diese unterschiedlichen Angaben seien geeignet, dem Vorbringen des Revisionswerbers „die Glaubwürdigkeit insgesamt abzusprechen.“ Sodann setzte sich das Bundesverwaltungsgericht mit den Angaben des Revisionswerbers zu seiner homosexuellen Orientierung an sich, seiner damit verbundenen Situation im Irak und in Österreich sowie mit den Angaben des vom Bundesverwaltungsgericht als „(früheren) homosexuellen Partner“ bezeichneten vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl befragten Zeugen im Laufe des Verfahrens auseinander. Die vom Revisionswerber vorgelegten Fotos und Chats seien nicht geeignet, die homosexuelle Orientierung unter Beweis zu stellen. Einige Fotos würden den Revisionswerber auf der „Love Parade“ in Wien zeigen, doch könne ausgeschlossen werden, dass an dieser nur LGBTIQ* Personen teilgenommen hätten. Andere Fotos zeigten den angeblichen Lebenspartner, doch käme auch diesen Fotos kein Beweiswert hinsichtlich einer homosexuellen Orientierung zu. Der vorgelegte Chatverlauf sei ohnehin ungeeignet als Beweismittel, zumal es sich um Kopien handle. Damit erübrige sich auf die eingeschränkte Beweiskraft von Kopien und deren Manipulierbarkeit einzugehen. Weder das Vorbringen aufgrund der Tätigkeit als Spirituosenverkäufer noch jenes zur homosexuellen Orientierung sei glaubwürdig. Die homosexuelle Orientierung sei wahrheitswidrig und asylzweckbezogen vorgebracht worden und der Revisionswerber verkehre nur deshalb in der homosexuellen Szene in Österreich, um seine Position im Asylverfahren zu verbessern.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, zu deren Zulässigkeit zusammengefasst vorgebracht wird, das Bundesverwaltungsgericht sei von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, in dem es die Aussagen des Revisionswerbers in der Erstbefragung unreflektiert verwertet habe. Weiters habe das Bundesverwaltungsgericht seine Ermittlungspflicht verletzt und näher genannten Beweismitteln ohne weitere Ermittlungen jeglichen Beweiswert abgesprochen. Dies obwohl der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen habe, dass ein bloß allgemeiner Verdacht nicht genüge, um im Verfahren vorgelegten Urkunden generell den Beweiswert abzusprechen (Hinweis auf VwGH 25.4.2014, 2013/21/0236 bis 0239). Zudem habe es im Verfahren weiter vorgelegte Beweismittel, so ein näher genanntes Schreiben der Mitbewohner des Revisionswerbers, begründungslos ignoriert. Bei der Vermeidung dieser Verfahrensmängel hätte das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass der Revisionswerber homosexuell sei. Schließlich sei die der Rückkehrentscheidung zugrunde liegende Interessenabwägung unvertretbar.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Verfahrensakten ein Vorverfahren durchgeführt. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hatin einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Revision erweist sich aufgrund des Zulässigkeitsvorbringens der Revision als zulässig. Sie ist auch begründet.

9Vorweg ist festzuhalten, dass eine Verfolgung von Homosexuellen nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, die wiederum auf Judikatur des Gerichtshofes der Europäischen Union Bezug nimmt, Asyl rechtfertigen kann. Es wurde auch bereits ausgesprochen, dass von einem Asylwerber nicht erwartet werden kann, seine Homosexualität im Herkunftsstaat geheim zu halten, um eine Verfolgung zu vermeiden (vgl. VwGH 13.1.2022, Ra 2020/14/0214, mwN).

10Der Verwaltungsgerichtshof hat in Zusammenhang mit den sowohl die Behörde als auch das Verwaltungsgericht treffenden Ermittlungspflichten festgehalten, dass auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG gilt. Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen (vgl. VwGH 25.1.2022, Ro 2021/14/0003, mwN).

11Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. erneut Ro 2021/14/0003, mwN).

12Auch hat der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen, dass ein bloß allgemeiner Verdacht nicht genügt, um im Verfahren vorgelegten Urkunden generell den Beweiswert abzusprechen (vgl. VwGH 8.3.2022, Ra 2021/19/0074, mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darf die freie Beweiswürdigung gemäß § 45 Abs. 2 AVG (hier: iVm § 17 VwGVG) erst nach einer vollständigen Beweiserhebung einsetzen; eine vorgreifende (antizipierende) Beweiswürdigung, die darin besteht, dass der Wert eines Beweises abstrakt (im Vorhinein) beurteilt wird, ist unzulässig (vgl. VwGH 3.12.2020, Ra 2020/20/0094 bis 0096, mwN).

13 Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis aus den folgenden Gründen nicht gerecht:

14 Wie die Revision zu Recht ausführt, hat das Bundesverwaltungsgericht die Vorgabe, dass ein bloß allgemeiner Verdacht nicht genügt, um im Verfahren vorgelegten Urkunden generell den Beweiswert abzusprechen fallbezogen missachtet, indem es pauschal davon ausging, dass den vorgelegten Chatprotokollen keine Beweiskraft zukomme, weil diese leicht manipulierbar seien, ohne sich im Einzelnen mit deren Beweiswert auseinanderzusetzen und deren Beweiskraft fallspezifisch zu ermitteln.

15 Hinzu kommt, dass der Revisionswerber dem Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung ein Schreiben seiner beiden Mitbewohner zu seiner Lebenssituation vorlegte, aus dem hervorgeht, dass die beiden Mitbewohner des Revisionswerbers als Zeugen für die Lebensumstände und die sexuelle Orientierung des Revisionswerbers in Betracht kommen. Die Revision zeigt in diesem Zusammenhang zutreffend auf, dass sich das Bundesverwaltungsgericht ohne jegliche Ermittlungen und ohne jegliche Begründung über dieses Vorbringen hinweggesetzt und das Schreiben selbst völlig außer Acht gelassen hat.

16Da nicht auszuschließen ist, dass das Bundesverwaltungsgericht bei Vermeidung der von der Revision aufgezeigten Verfahrensfehler im gegenständlichen Fall zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte gelangen können, war das Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG schon deshalb aufzuheben.

17Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 8. Oktober 2024