10Bs86/25k – OLG Graz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Graz hat durch die Richter Mag. a Haas (Vorsitz), Mag a . Tröster und Mag. Wieland in der Strafsache gegen A* wegen des Vergehens des Hausfriedensbruchs nach § 109 Abs 3 Z 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Berufung der Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 6. Februar 2025, GZ **-11, in nichtöffentlicher Beratung zu Recht erkannt :
Spruch
Der Berufung wird dahin Folge gegeben, dass das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Klagenfurt zurückverwiesen wird.
Mit ihrer weiteren Berufung wird die Angeklagte darauf verwiesen.
GRÜNDE:
Text
Mit dem angefochtenen Urteil wurde die am ** geborene österreichische Staatsbürgerin A* abweichend vom Anklagevorwurf (ON 3) iS des Vergehens des Hausfriedensbruchs nach § 109 Abs 3 Z 1 StGB und des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB nach Erörterung in der Hauptverhandlung (§ 262 StPO [ON 10,4]) des (einen unbeachtlichen [13 Os 165/07z] Schreibfehler [„Z 1“] beinhaltenden) Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB schuldig erkannt und nach dieser Gesetzesstelle zur gemäß § 43 Abs 1 StGB für eine dreijährige Probezeit bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt sowie gemäß § 389 Abs 1 StPO zum Ersatz der Kosten des Verfahrens verpflichtet (ON 10,6).
Dem (angeglichenen) Schuldspruch (ON 11 und ON 15) zufolge hat die Angeklagte „am 24. September 2024 in ** mit Gewalt, und zwar durch Einsetzung von massiver Körperkraft das Eindringen der Türe der Trafik, die zu diesem Zeitpunkt von B* zugehalten wurde, erzwungen und dabei diese zur Duldung, und zwar zum Eintritt in die Trafik „**“, genötigt“.
Eine eingetretene Verletzung (US 3) durch die anklagegegenständlichen Tritte sowie ein darauf bezogener Vorsatz (disloziert in US 5) sah das Erstgericht im Rahmen eines angenommenen einheitlichen Tatgeschehens nicht als erwiesen an (zum rechtsrichtig unterbliebenen Subsumtionsfreispruch siehe RIS-Justiz RS0115553). In Ansehung der (weiteren) Konstatierungen des Erstgerichts zu den entscheidenden Tatsachen und jener Gründe, deretwegen es diese als erwiesen angenommen hat samt der rechtlichen Beurteilung wird auf die Seiten 2 bis 7 des angefochtenen Urteils verwiesen (RIS-Justiz RS0124017 [T3]).
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Angeklagten (ON 1.7, ON 12.1, ON 13.2,8), welche auch nach Urteilsangleichung aufrecht erhalten wurde (ON 16 [RIS-Justiz RS0126527, RS0126175]), wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe und des Ausspruchs über die Schuld und die Strafe.
Die Oberstaatsanwaltschaft Graz beantragte in ihrer Stellungnahme vom 3. April 2025 die Kassation des Urteils, weil die Schuldberufung Bedenken an den Feststellungen zur Diskretions- und Dispositionsfähigkeit zum Tatzeitpunkt wecke.
Rechtliche Beurteilung
Erfolg hat bereits die Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld. Festzuhalten ist zunächst, dass das Rechtsmittelgericht aufgrund einer Schuldberufung nicht an die in der Berufungsschrift vorgetragenen Argumente gebunden ist. Es hat vielmehr alle für den Standpunkt des Berufungswerbers sprechenden Aspekte auch ohne entsprechendes Vorbringen aus eigenem zu berücksichtigen, es sei denn, die Berufung enthielte – hier nicht vorliegende – deutliche und bestimmte Beschränkungen (RIS-Justiz RS0117216 [T8, T11]; RS0118776; Ratz in WK StPO § 467 Rz 2).
Der Angeklagten gelingt es mit ihren Berufungsausführungen Bedenken an der erstgerichtlichen Beweiswürdigung in Bezug auf die zu ihrer Zurechnungsfähigkeit – also des fehlenden Schuldausschließungsgrunds (15 Os 119/16p) der Diskretions- und Dispositionsunfähigkeit (§ 11 StGB) – zum Tatzeitpunkt am 24. September 2024 auf der Urteilsseite 3 getroffenen Feststellungen zu wecken, weil das Erstgericht die als gegeben erachtete Zurechnungsfähigkeit lediglich auf die Deponate der Zeugin B*, wonach diese nicht den „Eindruck“ (siehe dazu aber RIS-Justiz RS0097540) hatte, dass die Angeklagte alkoholisiert gewesen sei, und auf die „stringenten und detailreichen Angaben“ der Angeklagten stützte. Fallbezogen reichen die Ergebnisse der Hauptverhandlung allerdings nicht aus, um verlässlich – und zwar mit der für einen Schuldspruch erforderlichen „vollen Gewissheit“ iS einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ( Kirchbacher , StPO 15 § 258 Rz 8) – das Vorliegen oder Nichtvorliegen der Zurechnungsfähigkeit der Berufungswerberin im Tatzeitpunkt beurteilen zu können. Maßgebend dafür sind die in der Schuldberufung gegen die konstatierte aufrechte Dispositions- und Diskretionsfähigkeit der Angeklagten zum Tatzeitpunkt vorgetragenen Argumente in Verbindung mit den dazu unter dem Aspekt von Neuerungen zulässigen (RIS-Justiz RS0117419) beigebrachten Sachverständigengutachten vom 23. Oktober 2022 des gerichtlich beeideten Sachverständigen Dr. C* im Verfahren vor dem Bezirksgericht Klagenfurt, AZ **. Wenngleich das Gutachten rund dreieinhalb Jahre alt ist, ergibt sich daraus doch, dass – wie in der Berufung behauptet – bei der Angeklagten eine bipolare affektive Störung mit vornehmlich manischen Zuständen, wobei diese auch mitunter psychosewertigen Charakter zeigen (ICD-10: F 30.2), sowie eine Alkoholabhängigkeit (ICD-10: F 10.2) vorlag (ON 12.2,28). Auch damals bestand bereits eine Erwachsenenvertretung (ON 12.2,30), sodass angesichts der nach wie vor bestehenden Vertretung (ON 5) davon auszugehen ist, dass die psychische Erkrankung (siehe dazu auch § 239 Abs 1 ABGB) nach wie vor besteht. Bereits damals konnte sich die Angeklagte an die Tatsituation (sogar gut) erinnern (ON 12.2,31), wobei der Sachverständige ausführt, dass Menschen, die an einer bipolaren Störung leiden, insbesondere in deren manischen Zuständen in ihren Aktivitäten mitunter überschießend sind. Durch den Wegfall von Hemmungen seien sie auch distanzlos, aufdringlich, mitunter auch verletzend und beleidigend (ON 12.2,31), weswegen die Angeklagte zum damaligen Zeitpunkt auf Grund der manischen Exazerbation ihrer bipolaren-affektiven Störung und der zusätzlichen Alkoholisierung nicht in der in der Lage war, das Unrecht ihrer Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zieht man die Beweisergebnisse im gegenständlichen Verfahren heran, so zeigen sich auffallende Parallelen zum damals erhobenen Befund. So legte die Angeklagte auch im gegenständlichen Fall ein beleidigendes (ON 2.6,4), zorniges (ON 10,4) und aggressives Auftreten an den Tag und musste deswegen sogar von der Kriminalpolizei (ON 2.2,2) festgenommen werden, wobei eine Beschuldigteneinvernahme (ON 2.5) – trotz Einlieferung in das PAZ – erst rund einen Monat später durchgeführt werden konnte. Zudem wird sie – gerade für eine manische Phase typisch – von der Zeugin B*, welche die Angeklagte bereits vorher kannte, im Widerspruch zu ihrem sonstigen Verhalten stehend als „aufgedreht“ beschrieben (ON 10,4). Auch die Angeklagte selbst beschrieb sich in „schlechter psychischer Verfassung“ (ON 2.5,4), wobei auch beim gegenständlichen Vorfall ein Alkoholkonsum und die Einnahme von Medikamenten (Rivotril [siehe dazu auch ON 12.2,25]) beschrieben wird. Das vom Erstgericht beschriebene detailreiche und stringente Aussageverhalten der Angeklagten kann lediglich partiell erblickt werden. Unberücksichtigt bleibt nämlich, dass die Angeklagte immer wieder Erinnerungslücken (ON 10,3 und ON 2.5,4) aufwies und ihre Angaben, speziell vor der Kriminalpolizei (ON 2.5,4), mit Wahrscheinlichkeitsüberlegungen (ON 2.5,4 [„ Wahrscheinlich schrie ich auch herum und verhielt mich scheiße. […] Wenn das wirklich stimmt, tut mir der Vorfall leid. “]) unterlegte. Diese Umstände lassen in Verbindung mit der Verantwortung der Angeklagten (ON 10,3 [„ Ich fühle mich teils schuldig, aber „nicht zu schlimm “]) aus Sicht des Berufungsgerichts (ungeachtet allfälliger zielgerichteter Vorgehensweisen) die Beiziehung eines psychiatrischen Sachverständigen geboten erscheinen, um mit größtmöglicher Zuverlässigkeit abzuklären ( Ratz in WK StPO § 464 Rz 2, § 473 Rz 6 ff), ob zu dem infrage kommenden Tatzeitpunkt bei der Angeklagten ein biologischer Zustand vorlag, der ihre Diskretions- oder Dispositionsfähigkeit ausgeschlossen hat (vgl Triffterer in SbgK § 11 Rz 53 ff). In diesem Zusammenhang erscheint es – konform der Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft – auch indiziert, die erhebenden Beamten zum Gesundheitszustand und zum Grad der Alkoholisierung zu befragen, wobei auch zu klären sein wird, warum die Beschuldigteneinvernahme, trotz Einlieferung in das PAZ, erst rund einen Monat nach dem Tatzeitpunkt durchgeführt wurde. In diesem Zusammenhang werden auch das Anhalteprotokoll auf Grund der Festnahme nach § 35 VStG sowie gegebenenfalls aktuelle Krankenunterlagen der Angeklagten einzuholen sein.
Damit steht nach §§ 489 Abs 1, 470 Z 3 StPO aufgrund der neu vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel im Rahmen der Schuldberufung schon vor der öffentlichen Verhandlung über die Berufung fest, dass das angefochtene Urteil aufzuheben und die Verhandlung in erster Instanz, insbesondere durch Einholung zur Tathandlung zeitnaher Krankenunterlagen samt dem angesprochenem Gutachten aus dem Fachbereich der Psychiatrie und Neurologie zur Frage der Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt, zu ergänzen ist. Wegen der von der Schuldberufung zutreffend aufgezeigten Notwendigkeit weiterer Beweisaufnahmen (ON 12.1,6) war bereits in nichtöffentlicher Sitzung kassatorisch vorzugehen (RIS-Justiz RS0101731; RS0101741; Ratz in WK StPO § 470 Rz 3 mwN; § 468 Rz 7 mwN; SSt 13/31).
Mit ihrer weiteren Berufung war die Angeklagte auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.
Infolge gänzlicher Aufhebung des Urteils hat wegen der damit einhergehenden Vernichtung (auch) der Grundlage der Kostenersatzpflicht nach § 389 StPO kein Ausspruch nach § 390a StPO zu erfolgen (OGH 14 Os 189/13w; Lendl in WK StPO § 390a Rz 7 mwN).