15Os71/25t – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 10. September 2025 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. MichelKwapinski und Dr. Sadoghi und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Riffel und Dr. Farkas in Gegenwart der Schriftführerin Rechtspraktikantin Schurich LL.M., LL.M. in der Strafsache gegen * B* und * J* wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 4 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten sowie über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 18. März 2025, GZ 26 Hv 115/24a 37, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerden wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im * J* betreffenden Schuldspruch 2. und demzufolge auch im diesen Angeklagten betreffenden Strafausspruch aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Innsbruck verwiesen.
Der Angeklagte J* wird mit seiner auf Schuldspruch 2. bezogenen Nichtigkeitsbeschwerde und mit seiner Berufung ebenso wie die Staatsanwaltschaft mit ihrer diesen Angeklagten betreffenden Berufung auf die Aufhebung verwiesen.
Die Nichtigkeitsbeschwerde des * B* und jene des J* im Übrigen werden zurückgewiesen.
Die Entscheidung über die Berufungen der Staatsanwaltschaft betreffend den Angeklagten B* und des Angeklagten J* kommt dem Oberlandesgericht Innsbruck zu.
Den Angeklagten B* und J* fallen auch die Kosten des (bisherigen) Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
[1]Mit dem angefochtenen Urteil wurden * B* und * J* jeweils des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 4 StGB (1.) und der Angeklagte J* überdies des Vergehens der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs 1 und Abs 4 StGB (2.) schuldig erkannt.
[2] Danach
1. haben B* und J* im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter am 18. August 2024 in L* * Ba* eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) zugefügt, indem sie ihm Faustschläge und Fußtritte gegen den Kopf sowie in den Rippenbereich versetzten, wodurch dieser Frakturen der Augenhöhle und der Stirnhöhle, also eine an sich schwere Körperverletzung in Verbindung mit einer 24 Tage übersteigenden Berufsunfähigkeit erlitt,
2. hat J* am 26. August 2024 als Zeuge in einem Ermittlungsverfahren nach der Strafprozessordnung vor der Kriminalpolizei bei seiner förmlichen Vernehmung zur Sache falsch ausgesagt, indem er vor einem Polizeibeamten wahrheitswidrig angab, dass er während der Auseinandersetzung zwischen B* (richtig:) und Ba* bei einem Tabakautomaten war und nicht gesehen habe, dass B* jemanden geschlagen habe.
Rechtliche Beurteilung
[3]Dagegen richten sich die von den Angeklagten jeweils auf § 281 Abs 1 Z 5, 5a, 9 lit b und 11 StPO, von J* überdies auf § 281 Abs 1 Z 3, 9 lit a, 9 lit c und 10 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerden.
Zur amtswegigen Maßnahme :
[4]Betreffend 2. des Schuldspruchs überzeugte sich der Oberste Gerichtshof aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerden, dass zum Nachteil des Angeklagten J* das Strafgesetz unrichtig angewendet worden ist (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO).
[5] Der von Amts wegen wahrzunehmende ( Michel Kwapinski/Oshidari, StGB 15 § 290 Rz 3) Entschuldigungsgrund des Aussagenotstands nach § 290 Abs 1 Z 2 StPO kommt dem Täter zugute, der eine falsche Beweisaussage ablegt, um von sich die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung abzuwenden, wenn er von der Verbindlichkeit zur Ablegung eines Zeugnisses befreit war oder befreit werden hätte können und er dies en Befreiungsgrund nicht geoffenbart hat, um die schon aus der Offenbarung drohenden Folgen der bezeichneten Art abzuwenden, es sei denn, es wäre ihm insbesondere im Hinblick auf den aus der falschen Aussage einem anderen drohenden Nachteil dennochzuzumuten, wahrheitsgemäß auszusagen (Abs 3 des § 290 StGB).
[6] Das Erstgericht hat zu dem Entschuldigungsgrund keinerlei Feststellungen getroffen, obwohl diese Konfliktsituation des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung vorgekommen ist (vgl etwa ON 25.2; ON 26, 10 ff), sodass dem Urteil in Ansehung des Schuldspruchs 2. ein Feststellungsmangel anhaftet (vgl RISJustiz RS0122332 [T8]).
[7]Dies erfordert – wie aus dem Spruch ersichtlich – die teilweise Aufhebung des Urteils gemäß § 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall iVm § 285e StPO.
Zur Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten B* :
[8] Entgegen dem Vorbringen der Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) haben sich die Tatrichter bei den Feststellungen zu den Fußtritten des Rechtsmittelwerbers gegen den Kopf des Opfers sowohl mit dessen – als unglaubwürdig angesehener – Verantwortung als auch mit den Zeugenaussagen des Opfers und des * P* (ausführlich) auseinandergesetzt (US 8 ff).
[9] Die weitere Mängelrüge (Z 5 vierter Fall) behauptet, das Erstgericht hätte die Feststellungen zur Kausalität der Handlungen des Nichtigkeitswerbers für die schweren Knochenbrüche im Kopfbereich offenbar unzureichend begründet, und nimmt damit mit Blick auf die angenommene Mittäterschaft auf keine entscheidenden Tatsachen Bezug (RISJustiz RS0089808; Ratz , WKStPO § 281 Rz 399; vgl die Feststellungen zum auf die Herbeiführung einer schweren Körperverletzung gerichteten Vorsatz auf US 6).
[10] Betreffend die Konstatierung, wonach Ba* dem Rechtsmittelwerber einen „Schupfer“ versetzte, und d ieNegativfeststellungen zum Vorliegen einer Notwehrlage im Sinn des § 3 Abs 1 StGB (US 5 f) behauptet die Mängelrüge das Vorliegen von Unvollständigkeit und offenbar unzureichender Begründung (Z 5 zweiter und vierter Fall). Entgegen der Argumentation des Rechtsmittelwerbers haben die Tatrichter dabei jedoch dessen Verantwortung als auch die Angaben des Zeugen P* sehr wohl erörtert (US 9 ff) und mit schlüssiger Begründung das Vorliegen eines gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden Angriffs durch Ba* verneint (insb US 11). Soweit die Beschwerdeschrift auf die Aussage des Zeugen P*, wonach es wirkte, als würde das Opfer sich entschuldigen, als es sich aufrappelte, Bezug nimmt, wird weder Unvollständigkeit noch Widersprüchlichkeit des Urteils (Z 5 zweiter und dritter Fall) aufgezeigt, sondern bloß unzulässige Beweiswürdigungskritik nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen Schuldberufung geübt (vgl § 283 StPO).
[11] Inwiefern die Einlassung des Angeklagten J*, wonach er das Opfer gehalten habe, gesondert erörterungsbedürftig sein sollte, lässt die Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) offen.
[12] Z 5a will als Tatsachenrüge nur geradezu unerträgliche Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen (das sind schuld oder subsumtionserhebliche Tatumstände, nicht aber im Urteil geschilderte Begleitumstände oder im Rahmen der Beweiswürdigung angestellte Er wä gungen) und völlig lebensfremde Ergebnisse der Beweiswürdigung durch konkreten Verweis auf aktenkundige Beweismittel (bei gleichzeitiger Bedachtnahme auf die Gesamtheit der tatrichterlichen Beweiswerterwägungen) verhindern. Tatsachenrügen, die außerhalb solcher Sonderfälle auf eine Überprüfung der Beweiswürdigung abzielen, beantwortet der Oberste Gerichtshof ohne eingehende eigene Erwägungen, um über den Umfang seiner Eingriffsbefugnisse keine Missverständnisse aufkommen zu lassen (RISJustiz RS0118780).
[13] Mit den auf die Negativfeststellung zum Vorliegen einer Notwehrsituation bezogenen Aussagen des Zeugen P* betreffend einen „Schupfer“ sowie des Rechtsmittelwerbers, wonach das Opfer ihn zuerst geschlagen habe, und de m Hinweis auf den Umstand, wonach der Nichtigkeitswerber Flipflops getragen habe, gelingt es jedenfalls nicht, derartige Zweifel beim Obersten Gerichtshof zu wecken. Soweit die Tatsachenrüge Bedenken hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Aussagen der Zeugen Ba* und P* äußert, verkennt sie, dass der kritisch psychologische Vorgang der freien richterlichen Beweiswürdigung der Anfechtung nach Z 5a entzogen ist (RISJustiz RS0099419).
[14]Die Rechtsrüge (Z 9 lit b) reklamiert das Vorliegen des Rechtfertigungsgrundes der Notwehr nach § 3 Abs 1 StGB, entfernt sich dabei aber prozessordnungswidrig (vgl RISJustiz RS0099810) von den Feststellungen des Erstgerichts, wonach ein gegenwärtiger oder unmittelbar drohender Angriff durch das Opfer nicht vorlag (US 11).
[15]Indem die Sanktionsrüge (Z 11) die Strafe als überschießend und nicht ausreichend begründet bezeichnet, gänzliche bedingte Strafnachsicht fordert und die Anwendung des § 43a Abs 2 StGB kritisiert, erstattet sie bloß ein Berufungsvorbringen (vgl RIS-Justiz RS0099892).
Zur Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten J* :
[16]Weshalb das Erstgericht angesichts der Schwere der Kopfverletzungen des Opfers, welche durch Gewalthandlungen der beiden Angeklagten zustande gekommen sind, verpflichtet gewesen sein sollte, den jeweiligen Tatbeitrag jedes Angeklagten getrennt auszuweisen und zu individualisieren, wird mit Blick auf das Vorliegen von Mittäterschaft weder unter dem Aspekt der Z 3 noch unter dem Blickwinkel der Z 5 oder Z 10 des § 281 Abs 1 StPO klar (vgl RISJustiz RS0117435).
[17] Die Widersprüchlichkeit beha uptendeMängelrüge (Z 5 dritter Fall) geht ins Leere, weil verkannt wird, dass es nicht darauf ankommt, ob der Rechtsmittelwerber dem Opfer bloß Faustschläge oder auch Fußtritte versetzte (vgl im Übrigen RIS-Justiz RS0119089 [T1]).
[18] Zum Vorwurf einer offenbar unzureichenden Begründung (Z 5 vierter Fall) der Feststellungen zur Kausalität der Handlungen des Nichtigkeitswerbers für die Verletzungen des Opfers kann auf die Beantwortung der Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten B* verwiesen werden.
[19] Der weiteren Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) zuwider hat sich das Schöffengericht mit den Angaben des Zeugen P* ausreichend auseinandergesetzt und dabei auch erwogen, dass es Abweichungen bei dessen Aussagen vor der Polizei und in der Hauptverhandlung gab (US 10).
Der Tatsachenrüge (Z 5a) gelingt es mit ihrem Hinweis auf die Aussage des Zeugen P* in der Hauptverhandlung, wonach er nicht wisse, ob J* geschlagen habe oder nicht, nicht, beim Obersten Gerichtshof erhebliche Bedenken an den Feststellungen zu den entscheidenden Tatsachen zu wecken (vgl neuerlich RISJustiz RS0118780).
[20] Der „Zweifelsgrundsatz“ (in dubio pro reo) kann niemals Gegenstand der Z 5a sein (RISJustiz RS0102162).
[21] Die zu 1. des Schuldspruchs ausgeführte Rechtsrüge (Z 9 lit a) bezieht sich auf die Annahme der Mittäterschaft, argumentiert jedoch bloß nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht zulässigen Schuldberufung, indem sie die Feststellungen zur arbeitsteiligen Vorgehensweise und zur subjektiven Tatseite (US 6) bestreitet.
[22] Auf das Vorbringen des Angeklagten J*, welches sich auf 2. des Schuldspruchs oder auf den Strafausspruch bezieht, war aufgrund der amtswegigen Aufhebung nicht einzugehen.
[23]Die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten J*, soweit sie sich auf 1. des Schuldspruchs bezieht, sowie jene des Angeklagten B* zur Gänze waren bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO). Daraus folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung des Angeklagten B* sowie über jene der Staatsanwaltschaft, soweit sie sich auf diesen Angeklagten bezieht.
[24] Der Kostenausspruch, der die amtswegige Maßnahme nicht umfasst ( Lendl , WKStPO § 390a Rz 12), gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.