JudikaturOGH

1Ob50/25x – OGH Entscheidung

Entscheidung
Schadenersatzrecht
31. Juli 2025

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Mag. Dr. Wurdinger als Vorsitzenden sowie die Hofrätin und die Hofräte Dr. Steger, Mag. Wessely Kristöfel, Dr. Parzmayr und Dr. Vollmaier als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E*, vertreten durch Dr. Alexander Klauser, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. E* S.L., *, Spanien, vertreten durch Mag. Clemens Haller, Rechtsanwalt in Feldkirch, und 2. Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 78.906,50 EUR sA, Unterhaltsrente und Feststellung, über die Rekurse der beklagten Parteien gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 13. Jänner 2025, GZ 14 R 85/24h 39, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 8. April 2024, GZ 33 Cg 12/23m 29, aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Rekurse werden zurückgewiesen.

Die erstbeklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.760 EUR (darin 460 EUR USt) bestimmten Kosten der Rekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

[1] Die Erstbeklagte ist Produzentin eines Intrauterinpessars, das zur Empfängnisverhütung verwendet wird (Spirale). Die Zweitbeklagte ist die Rechtsträgerin des für die Medizinmarktaufsicht zuständigen Bundesamts für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG). Bei einigen Chargen der von der Erstbeklagten hergestellten Spiralen traten vermehrt auf einen Materialfehler zurückzuführende Brüche auf. Der Klägerin wurde am 14. 2. 2018 eine Spirale aus einer dieser Chargen eingesetzt. Bei der gynäkologischen Untersuchung am 5. 1. 2021 gab es keinen Hinweis auf einen Verbleib der Spirale in ihrem Körper („lost IUD“). Am 12. 1. 2021 stellte die Gynäkologin bei ihr eine Schwangerschaft fest. Am 14. 9. 2021 brachte sie eine gesunde Tochter zur Welt.

[2] Die Klägerin begehrt von den Beklagten Schadenersatz (insbesondere Schmerzengeld, Verdienstentgang und Ersatz für den Unterhalt ihrer Tochter), weil die Spirale aufgrund des Materialfehlers in ihrem Körper gebrochen sei, sodass eine ungewollte Schwangerschaft eingetreten sei. Außerdem erhebt sie ein Feststellungsbegehren für alle weiteren Schäden. Gegenüber der Erstbeklagten stützt sie sich auf Produkthaftung, gegenüber der Zweitbeklagten auf Amtshaftung, weil diese die ihr nach dem MPG 1996 obliegenden Aufsichts-, Überwachungs und Informationspflichten verletzt habe.

[3] Das Erstgericht wies das Klagebegehren zur Gänze ab.

[4] Das Berufungsgericht hob das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück.

[5] Es ging davon aus, dass der Klägerin der (Anscheins )Beweis gelungen sei, dass die eingesetzte Spirale fehlerhaft gewesen sei. Allerdings würden für die Beurteilung der weiteren Kausalitätsvoraussetzungen, also dafür, dass der Materialfehler ursächlich für den Bruch bzw den unbemerkten Abgang der Spirale gewesen und deswegen ungewollt die Schwangerschaft eingetreten sei, noch tragfähige Feststellungen, Indizien oder Erfahrungssätze fehlen. Das Erstgericht werde daher nach einer Ergänzung des Beweisverfahrens im Rahmen der Beweiswürdigung zu beurteilen haben, ob es unter den konkreten Umständen des vorliegenden Falls aufgrund festzustellender Hilfstatsachen (Indizien) unter dem anzuwendenden Beweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit auf einen Bruch der Spirale infolge des Materialfehlers und auf einen ursächlichen Zusammenhang mit den (bzw welchen der) von der Klägerin behaupteten Schäden schließen könne.

[6] Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil Rechtsprechung zur Frage fehle,

a) ob einer Klägerin, die nachzuweisen vermöge, dass ihr eine Spirale einer potenziell vom Materialfehler betroffenen Charge eingesetzt w orden sei , die Beweiserleichterung i m Sinn der Entscheidung des EuGH zu C 503/13 zugute komm e, und daher im Ergebnis für den Umstand der Fehlerhaftigkeit ihrer Spirale der Anscheinsbeweis Anwendung finde;

b) ob schon das allgemeine Expulsionsrisiko, das mit der Verwendung einer jeden Spirale verbunden sei , geeignet sei, den Gegenbeweis einer anderen möglichen Verursachung zu erbringen;

c) inwieweit einer Patientin, die aufgrund einer verwendeten fehlerhaften Spirale nach deren Bruch ungewollt schwanger geworden sei, hinsichtlich der deshalb geltend zu machenden Schadenersatzansprüche gegenüber dem Bund nach dem AHG für den Nachweis des Schadensereignisses (Ursache) ebenfalls – wie auch gegenüber dem Hersteller des Medizinprodukts – eine Beweiserleichterung im Sinn einer gesetzeskonformen Auslegung des PHG zugute komm e.

[7]Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 526 Abs 2 ZPO) – Zulassungsausspruch des Berufungsgerichts sind die (in erster Linie auf eine Klageabweisung abzielenden) Rekurse der beiden Beklagtenmangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig .

Rechtliche Beurteilung

[8] Sowohl die Erst als auch die Zweitbeklagte greifen in ihrem Rekurs (nur) die vom Berufungsgericht angesprochenen (Rechts )Fragen auf. Die beiden Rechtsmittel werden daher unter einem behandelt.

1. Zur Zulässigkeit des Anscheinsbeweises

[9]1.1. Nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich bei der Frage, ob ein Tatbestand mit typischem Geschehensablauf vorliegt, der eine Verschiebung des Beweisthemas und der Beweislast im Sinn des Anscheinsbeweises zulässt, um eine (grundsätzlich revisible) Rechtsfrage (RS0040196 [T5, T17]; RS0022624). Ob der Anscheinsbeweis im konkreten Einzelfall aber wirklich erbracht oder erschüttert worden ist, ist eine vom Obersten Gerichtshof nicht mehr überprüfbare Beweisfrage (RS0112460).

[10]Der Anscheinsbeweis wird in Fällen als sachgerecht empfunden, in denen konkrete Beweise vom Beweispflichtigen billigerweise nicht erwartet werden können (RS0123919). Er beruht darauf, dass bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es wahrscheinlich ist, dass auch im jeweils konkreten Fall ein gewöhnlicher Ablauf und nicht ein atypischer gegeben ist (RS0040266).

[11] 1.2. Beide Rechtsmittelwerberinnen ziehen die Zulässigkeit des vom Berufungsgericht der Klägerin (ohnehin nur) für die Fehlerhaftigkeit der ihr eingesetzten Spirale zugebilligten Anscheinsbeweises insbesondere deshalb in Zweifel, weil es im gegenständlichen Fall nicht zu einer Beweiserleichterung im Sinn der Rechtsprechung des EuGH zu C 503/13 und C 504/13, Boston Scientific Medizintechnik , komme.

[12] Nach dieser Entscheidung (Rn 39 f) sind bei medizinischen Geräten (wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren) die Anforderungen an ihre Sicherheit, die die Patienten zu erwarten berechtigt sind, in Anbetracht ihrer Funktion und der Situation besonderer Verletzlichkeit der diese Geräte nutzenden Patienten besonders hoch und besteht der potenzielle Mangel an Sicherheit bei diesen Produkten in der „anormalen Potenzialität eines Personenschadens“, der durch sie verursacht werden kann. Daher können im Fall der Feststellung eines potenziellen Fehlers solcher Produkte derselben Produktgruppe oder Produktionsserie alle Produkte dieser Gruppe oder Serie als fehlerhaft eingestuft werden, ohne dass ein Fehler des betreffenden Produkts nachgewiesen zu werden braucht.

[13] 1.3. Die Frage, ob die vom EuGH herausgearbeiteten Kriterien auch auf den vorliegenden Sachverhalt zutreffen, kann dahingestellt bleiben. Die Klägerin hat nachgewiesen, dass die ihr eingesetzte (unbemerkt abgegangene) Spirale aus einer von dem Materialfehler betroffenen Charge stammte. Es bestehen keine Bedenken gegen die Annahme des Berufungsgerichts, dass dieser Tatbestand mit typischem Geschehensablauf auf Basis der zitierten innerstaatlichen Rechtsprechung eine Verschiebung von Beweisthema und Beweislast in Ansehung der Fehlerhaftigkeit der Spirale der Klägerin rechtfertigt, ohne dass es auf die Rechtsprechung des EuGH zu Art 6 Abs 1 der Produkthaftungsrichtline alt (Richtlinie 85/374/EWG) ankäme.

[14] Der Umstand, dass die zweite Instanz (im Gegensatz zur ersten Instanz) die prima facie (über die betroffene Charge) bewiesene Fehlerhaftigkeit des konkreten Produkts im Hinblick auf das auch fehlerfreien Spiralen anhaftende geringe Ausstoßungsrisiko (noch) nicht für entkräftet hielt, entzieht sich als reine Frage der Beweiswürdigung einer Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof.

[15]Auch die dritte vom Berufungsgericht im Zulassungsausspruch aufgeworfene Rechtsfrage, inwieweit einer Klägerin im Zusammenhang mit Amtshaftungsansprüchen allfällige Beweiserleichterungen im Sinn einer gesetzeskonformen Auslegung nach dem PHG zukommen, stellt sich hier nicht, weil das Berufungsgericht den Anscheinsbeweis unabhängig von europarechtlichen Vorgaben vertretbar für zulässig erachtet hat.

[16]2. Ist die dem Aufhebungsbeschluss zugrunde liegende Rechtsansicht nicht zu beanstanden oder wird sie vom Rekurswerber nicht bekämpft, so kann der Oberste Gerichtshof nicht überprüfen, ob sich die vom Berufungsgericht angeordnete Ergänzung des Verfahrens oder der Feststellungen tatsächlich als notwendig erweist (RS0042179 [T22]).

[17]3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 und § 50 ZPO. Im Zwischenstreit über die mangels erheblicher Rechtsfrage verneinte Zulässigkeit des Rechtsmittels gegen einen Aufhebungsbeschluss im Sinn des § 519 Abs 1 Z 2 ZPO des Berufungsgerichts findet ein Kostenvorbehalt nach § 52 ZPO nicht statt (RS0123222). Die Klägerin hat in ihrer Rekursbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rekurses der Erstbeklagten hingewiesen (RS0123222 [T8]). Ihr steht aber kein Streitgenossenzuschlag zu, weil sie die Rekursbeantwortung ausdrücklich nur zum Rekurs der Erstbeklagten erstattetet hat.