5Ob127/23x – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Wurzer und Mag. Painsi, die Hofrätin Dr. Weixelbraun Mohr und den Hofrat Dr. Steger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch Mag. Margit Sagel, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei E*, vertreten durch Mag. Clemens Haller, Rechtsanwalt in Feldkirch, wegen 7.489,83 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 13. April 2023, GZ 22 R 58/23t 55, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Hallein vom 27. Dezember 2022, GZ 1 C 787/21b 47, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
D ie Revision wird zurückgewiese n.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 860,75 EUR (darin keine USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Die Beklagte ist Herstellerin von Medizinprodukten und Produzentin eines Intrauterinpessars „Gold T normal“, das zur Empfängnisverhütung verwendet wird (in weiterer Folge: Spirale).
[2] Der Klägerin wurde im April 2018 eine solche Spirale eingesetzt. Diese ging im Zeitraum zwischen dem 9. 11. 2020 und dem 5. 2. 2021 unbemerkt und schmerzfrei ab. Das Erstgericht konnte nicht feststellen, ob die der Klägerin eingesetzte Spirale gebrochen war, ob sie (zumindest zum Teil) aus fehlerhaftem Material bestanden hatte und ob sie aufgrund eines Materialfehlers abgegangen war. Es steht auch nicht fest, dass die Spirale einer Charge angehört hatte, bei der es gehäuft zu Brüchen kam.
[3] Die Klägerin begehrt von der Beklagten Schadenersatz in Höhe des Klagebetrags wegen des von der Beklagten zu verantwortenden Produktfehlers der Spirale.
[4] Das Erstgericht wies die Klage ab. Der Klägerin sei der Beweis eines Produktfehlers der Spirale nicht gelungen.
[5] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die Revision über Abänderungsantrag der Klägerin nachträglich zu, weil zu den Rechtsfragen der Produkthaftung des Herstellers für fehlerhafte Verhütungsspiralen und zur in diesem Zusammenhang bestehenden Beweislastverteilung nach der Produkthaftungsrichtlinie in Verbindung mit dem P HG noch keine oberstgerichtliche Judikatur vorliege. Es sei nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht unzutreffend von der Nichtanwendbarkeit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu C-503/13 und C-504/13 auf Verhütungsspiralen ausgegangen sei und der Klägerin eine ungebührliche Beweislast auferlegt habe , indem es von ihr den Nachweis des Bruches der Verhütungsspirale oder zumindest der Zugehörigkeit der Spirale zu einer fehleranfälligen Charge verlangt habe.
[6] In ihrer – von der Beklagten beantworteten – Revision strebt die Klägerin die Abänderung im Sinn einer Klagestattgebung an und stellt hilfsweise einen Aufhebungsantrag.
Rechtliche Beurteilung
[7]Die Revision ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig, sie zeigt keine erhebliche Rechtsfrage auf. Die Begründung kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).
[8] 1. Dass für die Beurteilung der Haftung der Beklagten unter Bedachtnahme auf Art 5 Abs 1 lit a und c Rom II VO österreichisches Sachrecht anzuwenden ist, ist nicht strittig.
[9] 2.1. Die Klägerin argumentiert damit, die Chargennummer habe sich auf der Verpackung befunden, die der Gynäkologe nach dem Einsetzen der Spirale entsorgt habe, ohne sich die Nummer zu notieren. Folglich könne sie nie beweisen, dass die konkret verwendete Spirale fehlerhaft war.
2.2. Gemäß Art 4 der Richtlinie 85/374/EWG (Produkthaftungsrichtlinie) hat der Geschädigte den Schaden, den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden zu beweisen. Auch im Anwendungsbereich des PHG obliegt dem Kläger der Beweis des Produktfehlers und des Kausalzusammenhangs zwischen Produktfehler und Schaden (RIS-Justiz RS0117103). Mit der auch hier entscheidenden Frage der Beweislast der Klägerin für die Fehlerhaftigkeit der ihr eingesetzten Spirale setzte sich der Oberste Gerichtshof jüngst zu 1 Ob 28/23h in einem die auch hier Beklagte betreffenden Verfahren auseinander und führte dort aus:
Soweit die Revisionswerberin argumentiert, dass der EuGH dem Produkthaftungskläger zu C-503/13 (Boston Scientific Medizintechnik) insoweit Beweiserleichterungen zugestehe, als es bei (Medizin )Produkten mit einem besonderen Potenzial zur Herbeiführung von Personenschäden (einem Herzschrittmacher sowie einem implantierbaren „Cardioverten Defibrillator“) ausreiche, dass (potenzielle) Fehler solcher Produkte derselben Produktgruppe oder Produktionsserie feststehen, sodass ein Fehler des betreffenden Produkts nicht nachgewiesen werden brauche (EuGH aaO Rn 41), ist sie darauf hinzuweisen, dass das Erstgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung davon ausging, dass „nicht einmal überprüfbar sei, ob die Spirale aus einer Charge mit fehlerhaften Produkten stammte“. Ob im Hinblick auf die von der Rechtsmittelwerberin ebenfalls ins Treffen geführte Entscheidung des EuGH zu C-621/15 (Sanofi Pasteur) allenfalls andere Indizien (aaO Rn 28 ff) für das Vorliegen eines Produktfehlers und eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen diesem und dem erlittenen Schaden sprächen, wird im fortgesetzten Verfahren bei der Behandlung der Beweisrügen zu klären sein .
[10]2.3. Der erkennende Senat schließt sich diesen Ausführungen an; im Hinblick auf diese ausführlich begründete Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu der vom Berufungsgericht genannten Rechtsfrage liegen die Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht (mehr) vor (RS0112769). Aus der Entscheidung des EuGH in den (verbundenen) Rechtssachen C-503/13 und C-504/13 ( Boston Scientific Medizintechnik GmbH , ist für die Klägerin auch hier nichts zu gewinnen. Der Gerichtshof befasste sich mit einem Schadenersatzanspruch aufgrund eines Produktfehlers bei Herzschrittmachern und implantierbaren Kardioverter-Defibrillatoren. Bei solchen Produkten seien die Anforderungen an ihre Sicherheit, die Patienten zu erwarten berechtigt sind, in Anbetracht ihrer Funktion und der Situation besonderer Verletzlichkeit der diese Geräte nutzenden Patienten besonders hoch. Daher könnten im Fall der Feststellung eines potenziellen Fehlers solcher Produkte derselben Produktgruppe oder Produktionsserie alle Produkte dieser Gruppe oder Serie als fehlerhaft eingestuft werden, ohne dass ein Fehler des betreffenden Produkts nachgewiesen zu werden braucht (aaO Rn 41). Es war allerdings festgestellt worden, dass die Funktionsfähigkeit der implantierbaren Defibrillatoren eines bestimmten Typs durch einen Bauelement-Fehler beeinträchtigt werden könne. Der klägerische Anspruch betraf Patienten, denen dieser Typ implantiert worden war.
[11] 2.4. Hier konnten die Vorinstanzen nicht feststellen, ob die Spirale aus einer Charge mit fehlerhaften Produkten stammte. Die Auffassung des Berufungsgerichts, auch unter Zugrundelegung der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsprechung seien nicht per se alle von der Beklagten hergestellten Spiralen der Type „Gold T“ als fehlerhaft einzustufen, wenn nur einzelne Chargen vom Fehler betroffen waren, ist nicht zu beanstanden. Eine derart weite Interpretation der Entscheidung des EuGH würde zu einer nahezu unbeschränkten Haftung der Beklagten führen, besteht doch generell das Risiko einer unbemerkten Expulsion selbst bei fehlerfrei produzierten Spiralen. Dies würde aber im Widerspruch zu der mit Art 4 der Richtlinie 85/374/EWG eingeführten Beweislast stehen.
[12]2.5. Anders als im Verfahren 1 Ob 28/23h war die Fehlerhaftigkeit der der Klägerin eingesetzten Spirale im Licht der Rechtsprechung des EuGH hier in erster Instanz erörtert worden. Das Berufungsgericht befasste sich eingehend mit der klägerischen Tatsachenrüge und übernahm die bekämpften Negativfeststellungen als unbedenklich. Es ging auch auf die von der Klägerin ins Treffen geführte Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C - 621/15 ( Sanofi Pasteur ) ein, in der der Gerichtshof aussprach, dass die Anforderung an den Beweis, die dem Ausschluss aller Arten der Beweisführung außer dem sicheren Beweis auf der Grundlage der medizinischen Forschung gleichkäme, die Wirkung hätte, die Inanspruchnahme der Haftung des Herstellers in einer großen Anzahl von Fällen übermäßig schwierig oder sogar unmöglich zu machen und somit die praktische Wirksamkeit von Art 1 der Richtlinie 85/374 zu beeinträchtigen (aaO Rn 31). Daher könne das Tatsachengericht, wenn es wegen des behaupteten Fehlers eines Impfstoffes mit einer Haftungsklage gegen dessen Hersteller befasst ist, in Ausübung seiner Befugnis zur Beweiswürdigung annehmen, dass trotz der Feststellung, dass ein Zusammenhang zwischen der Verabreichung des betreffenden Impfstoffs und dem Auftreten der Krankheit, an der der Geschädigte leidet, von der medizinischen Forschung weder bewiesen noch widerlegt wird, bestimmte vom Kläger geltend gemachte Tatsachen ernsthafte, klare und übereinstimmende Indizien bilden, die den Schluss auf das Vorliegen eines Fehlers des Impfstoffes sowie auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Fehler und der Krankheit zulassen (aaO Rn 43).
[13]2.6. Das Berufungsgericht verneinte hier allerdings – mit ausführlicher Begründung – das Vorliegen ausreichender Indizien, welche eine von der Klägerin gewünschte positive Feststellung zu den genannten Tatsachen erlaubten. Damit ist aber das von der Klägerin ins Treffen geführte „Indizienbündel“ in dritter Instanz nicht mehr aufzugreifen, sind doch die Beweiswürdigung und die darauf beruhenden Feststellungen der Vorinstanzen im Revisionsverfahren nicht mehr anfechtbar (RS0043371 [T22, T24]; RS0040278).
[14] 2.7. Der von der Revisionswerberin zitierten Entscheidung des Kammergerichtes (KG Berlin, 4 U 189/11) liegt ein anderer Sachverhalt zugrunde. Es stand fest, dass die der Klägerin eingesetzte Hüftprothese als Teil einer Serie fehlerhaft im Sinn des § 3 Abs 1 dProdHaftG war.
[15] 2.8. Da sich das Berufungsgericht ausreichend mit den Verfahrensergebnissen auseinandersetzte, ist eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens zu verneinen. Dem gerügten Verfahrensmangel in Bezug auf die Würdigung der Beilage ./P durch das Berufungsgericht fehlt es an der Relevanz ( §510 Abs 3 ZPO) .
[16]3. Den Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit führt die Rechtsmittelwerberin nicht näher aus, weil sie nicht darlegt, inwiefern Feststellungen auf aktenwidriger Grundlage getroffen worden sein sollen (vgl RS0043397).
[17] 4.1. Hilfsweise stützt die Revisionswerberin ihren Anspruch auch auf eine Fehlerhaftigkeit der von der Beklagten hergestellten Produkte aufgrund deren allgemeinen Expulsionsrisikos – somit unter Außerachtlassung des manche Chargen betreffenden Materialfehlers. Eine erhebliche Rechtsfrage zeigt sie damit nicht auf.
[18]4.2. Nach § 5 Abs 1 PHG ist ein Produkt fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die man unter Berücksichtigung aller Umstände zu erwarten berechtigt ist, besonders angesichts 1. der Darbietung des Produkts, 2. des Gebrauchs des Produkts, mit dem billigerweise gerechnet werden kann, 3. des Zeitpunkts, zu dem das Produkt in den Verkehr gebracht worden ist. Diese nach § 5 PHG maßgebenden Sicherheitserwartungen sind objektive Kriterien; entscheidend ist, was durchschnittliche Verbraucher oder Gebraucher eines Produkts hinsichtlich seiner Sicherheit erwarten dürfen und erwarten. Nach ständiger Rechtsprechung wird dabei auf den „idealtypischen“ Produktbenützer abgestellt (RS0071543).
[19]4.3. Beim allgemeinen Expulsionsrisiko der Spirale handelt es sich nicht um einen Fehler in der Herstellung des Produkts, sondern darum, dass nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft und Forschung dieses allgemein mit dem Produkt verbundene Risiko (noch) nicht gänzlich ausgeschaltet werden kann. In diesem Fall kommt es auf die Darbietung des Produkts an: Der potentiell Haftpflichtige muss das Produkt entsprechend seinen Eigenschaften präsentieren sowie klar und übersichtlich auf Art und Ausmaß drohender Beeinträchtigungen hinweisen, und zwar umso deutlicher, je größer und versteckter das Schadenspotential ist. Der Verkäufer eines an sich fehlerfreien Produkts, dessen Verwendung in spezifischen Teilbereichen zu Schädigungen führen könnte, hat daher die Nebenverpflichtung zur Anleitung und Aufklärung (RS0106978 [T1]).
[20] 4.4. Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor: Soweit sich die Revisionswerberin auf eine Wahrscheinlichkeit des bemerkten oder unbemerkten Abgangs der Verhütungsspirale in Höhe von 43,91 % beruft, entfernt sie sich von den Feststellungen, wonach das allgemeine Restrisiko für eine Ausstoßung (Expulsion) der Spirale im ersten Jahr mit 0 bis 6 %, im zweiten Jahr mit 4,5 bis 6,7 % und im dritten Jahr mit 5,4 bis 6,5 % besteht (die von der Klägerin argumentierte Addition dieser Wahrscheinlichkeiten ist nicht nachvollziehbar). Der von ihr selbst vorgelegte Aufklärungsbogen (./F) nennt das allgemeine Expulsionsrisiko. Auch dem Aufklärungsbogen (./31) ist zu entnehmen, dass Spiralen allgemein unbemerkt ausgestoßen werden können. Dass ihr Gynäkologe nicht über das allgemeine Risiko eines unbemerkten Abgangs informiert gewesen wäre, behauptete die Klägerin gar nicht.
[21]4.5. Die Aufklärungspflicht über das allgemeine Expulsionsrisiko von Verhütungsspiralen gegenüber der Patientin lag nach der nicht zu beanstandenden Auffassung der Vorinstanzen aber nicht bei der Beklagten, sondern bei ihrem Gynäkologen. Der mit dem Arzt abgeschlossene Behandlungsvertrag umfasst auch die Pflicht, den Patienten über die möglichen Gefahren und schädlichen Folgen der Behandlung zu unterrichten (RS0038176). Diese Aufklärungspflicht besteht nicht nur bei operativen Eingriffen, sondern auch bei medikamentöser Heilbehandlung, bei physikalischen Eingriffen und bei Impfungen (RS0038176 [T6]; RS0026529 [T7]). In welchem Umfang aufgeklärt werden muss, kann nur anhand der zu den konkreten Umständen des Einzelfalls getroffenen Feststellungen beurteilt werden (RS0026529 [T18; T20; T21]). Die Auffassung, allfällige Ansprüche aufgrund mangelhafter Aufklärung über das allgemeine Expulsionsrisiko stünden der Klägerin jedenfalls nicht gegenüber der Beklagten zu, ist daher nicht zu beanstanden.
[22]5. Der angeregten Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim Europäischen Gerichtshof bedarf es nicht. Keine Vorlagepflicht des nationalen Gerichts besteht für Fragen, die für seine Entscheidung nicht relevant sind, die in der Judikatur des EuGH bereits geklärt sind oder deren Lösung offenkundig ist (RS0082949 [T4; T7]). Dies ist hier bei den von der Klägerin formulierten Fragen der Fall. Die Anwendbarkeit der RL 85/374/EWG stellten die Vorinstanzen ebensowenig in Frage wie die Qualifikation der Spirale als Medizinprodukt. Dass sie kein Medizingerät im Sinn der Entscheidung des EuGH C-503/13 und C-504/13 ( Boston Scientific Medizintechnik GmbH ) ist, ist offenkundig. Alle relevanten Fragen nach Beweislast und Beweiserleichterungen lassen sich aus den zitierten Entscheidungen des EuGH C - 621/15 ( Sanofi Pasteur ) und C-503/13 und C-504/13 ( Boston Scientific Medizintechnik GmbH ) beantworten. Die Anwendung dieser in der europäischen Rechtsprechung ausreichend geklärten Grundsätze auf den konkreten Fall ist Sache der nationalen Gerichte. Ob die Kennzeichnung mit einer Chargennummer ausreichen würde, ist für die Entscheidung ebenso irrelevant wie bloß subjektive Erwartungen der Klägerin.
[23] 6 . Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.