JudikaturJustizBsw6492/11

Bsw6492/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. Juli 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Lutsenko gg. die Ukraine, Urteil vom 3.7.2012, Bsw. 6492/11.

Spruch

Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 2 EMRK, Art. 5 Abs. 3 EMRK, Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 18 EMRK - Politisch motivierte Anhaltung eines Oppositionsführers.

Verbindung der Einrede der Regierung hinsichtlich der Nichterschöpfung des Instanzenzugs mit der Entscheidung in der Sache und Zurückweisung derselben (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Festnahme des Bf. (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der folgenden Haft des Bf. (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK hinsichtlich des Rechts des Bf., nach Festnahme unverzüglich einem Richter vorgeführt zu werden (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK hinsichtlich der Haft des Bf. (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 18 EMRK iVm. Art. 5 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,- für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist ehemaliger Innenminister und Vorsitzender der Oppositionspartei »Narodna Samooborona« (»Nationale Selbstverteidigung«).

Im November 2010 leitete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen ihn und seinen Fahrer, Herrn P., wegen Veruntreuung ein. Ihm wurde vorgeworfen, während seiner Amtszeit in illegaler Art und Weise arbeitsbezogene Vergünstigungen für P. arrangiert zu haben. Noch am selben Tag erklärte der Bf. schriftlich, sich der Strafverfolgung nicht entziehen zu wollen, woraufhin er auf freiem Fuß belassen wurde. Am 11.12.2010 wurde gegen ihn ein weiteres Strafverfahren wegen Überschreitung der Amtsbefugnisse eingeleitet. Die beiden Strafverfahren wurden in der Folge miteinander verbunden.

Am 13.12.2010 wurde die Voruntersuchung geschlossen und gegen den Bf. Anklage erhoben. Es erging daraufhin an ihn die Aufforderung, seinen Strafakt beim Untersuchungsrichter einzusehen, was er auch tat.

Am 18.12.2010 veröffentlichte die Tageszeitung »Zerkalo Nedeli« ein Interview mit dem Bf., worin dieser die gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe abstritt.

Am 24.12.2010 leitete die Staatsanwaltschaft ein weiteres Strafverfahren gegen den Bf. wegen Amtsmissbrauchs ein.

Einen Tag später stellte der zuständige Staatsanwalt beim Strafgericht Pechersky den Antrag, den Bf. festzunehmen. Begründend führte er aus, Letzterer habe es verabsäumt, an der strafrechtlichen Untersuchung mitzuwirken, indem er wiederholt zu vereinbarten Terminen nicht erschienen sei und den Strafakt nur kurz bzw. oberflächlich studiert habe. Außerdem habe der Bf. in einer Pressekonferenz Stellung zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen genommen. Er fahre fort, Interviews zu geben, um die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen und das Strafverfahren zu beeinflussen. Der Generalanwalt gab dem Antrag noch am selben Tag statt.

Am 26.12.2010 wurde der Bf. im Zuge des zweiten Strafverfahrens festgenommen, ohne über die Gründe für seine Festnahme informiert zu werden bzw. eine Kopie des Haftbefehls zu erhalten. Einen Tag später wurde der Bf. zu einer Strafverhandlung vor dem Strafgericht Pechersky gebracht, von deren Abhaltung man seinen Anwalt jedoch lediglich 20 Minuten vorher verständigte. Erst zu Beginn wurden beide von der Staatsanwaltschaft darüber informiert, dass Gegenstand der Verhandlung nicht die Festnahme des Bf., sondern die von der Staatsanwaltschaft begehrte Abänderung des im ersten Strafverfahren akzeptierten gelinderen Mittels (schriftliche Erklärung, sich der Strafverfolgung nicht zu entziehen) in Untersuchungshaft sei. Das Gericht schloss sich der Ansicht der Staatsanwaltschaft an und gab dem Antrag statt. Auf die vom Bf. beanstandeten Unregelmäßigkeiten betreffend seine Festnahme ging es nicht ein.

Das dagegen erhobene Rechtsmittel blieb erfolglos. Am 27.2.2012 wurde der Bf. im Sinne der Anklage schuldig gesprochen und zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe einschließlich Einziehung seines Vermögens verurteilt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet Verletzungen von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit), Art. 5 Abs. 2 EMRK (Information über die Gründe der Festnahme), Art. 5 Abs. 3 EMRK (Recht auf unverzügliche Vorführung vor einen Richter) und von Art. 5 Abs. 4 EMRK (Recht auf eine gerichtliche Haftprüfung). Er rügt ferner Verletzungen von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Der GH wird alle Beschwerdepunkte unter den einschlägigen Bestimmungen des Art. 5 EMRK prüfen.

Zur Zulässigkeit

Die Regierung wendet die fehlende Erschöpfung des Instanzenzugs ein, da es der Bf. verabsäumt habe, die Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Festnahme zu beantragen. Dieser Einwand ist eng mit dem Vorbringen des Bf. unter den Art. 5 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK verbunden. Der GH wird diesen im Zuge der meritorischen Prüfung dieser Beschwerdepunkte behandeln.

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist folglich für zulässig zu erklären (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK

Der Bf. behauptet, seine Festnahme sowie die Verhängung bzw. Verlängerung der Untersuchungshaft seien willkürlich und unrechtmäßig gewesen.

Zur Festnahme

Im vorliegenden Fall wurde der Bf. im Rahmen des zweiten Strafverfahrens verhaftet und am nächsten Tag vor den zuständigen Richter geführt. Das Gericht unterließ jedoch eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Festnahme und hatte eine solche, wie auch die Regierung darlegt, zu keiner Zeit beabsichtigt. Die Staatsanwaltschaft ließ den Bf. ausschließlich zwecks Erörterung ihres Antrags auf Verhängung der Untersuchungshaft im Zusammenhang mit der ersten Strafsache vorführen und widersetzte sich während der Strafverhandlung vom 27.12.2010 erfolgreich einer Erörterung der Rechtmäßigkeit der Festnahme. Das geschilderte Verhalten läßt darauf schließen, dass der Zweck der Festnahme nicht darin bestand, den Bf. vor das zuständige Gericht im Rahmen ein und desselben Strafverfahrens zu bringen, sondern um über ihn zu verfügen, um im Rahmen des zweiten Strafverfahrens den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verhängung der Untersuchungshaft anstelle des gelinderen Mittels behandeln zu können.

Die Festnahme scheint auch nicht notwendig gewesen zu sein, um den Bf. an der Begehung einer Straftat oder Flucht iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK zu hindern. Zwar nannte der Haftbefehl als Gründe für die Festnahme Tatbegehungs-, Wiederholungs- und Verdunkelungsgefahr, jedoch wurde darin nicht dargelegt, in welcher Art und Weise der wegen Amtsmissbrauchs angeklagte Bf. derartige Aktivitäten auch noch beinahe ein Jahr nach seinem Rücktritt als Innenminister hätte setzen können. Was den Haftgrund der Fluchtgefahr angeht, genügt es darauf hinzuweisen, dass der Bf. versichert hatte, sich der Strafverfolgung nicht entziehen zu wollen.

Der GH kommt zu dem Schluss, dass die Festnahme des Bf. aus anderen als den in Art. 5 Abs. 1 EMRK genannten Gründen erfolgte und folglich willkürlich war. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zur Verhängung der Untersuchungshaft

Im vorliegenden Fall stützen sich die Gerichte auf Haftgründe, die bereits als solche fragwürdig sind.

Was erstens die Unzufriedenheit der Staatsanwaltschaft betreffend dem Bf. angelastete Verzögerungen beim Studieren des Strafakts betrifft, ist der GH nicht davon überzeugt, dass in einer derartigen Situation eine Freiheitsentziehung eine adäquate Reaktion ist. Außerdem wandte der Untersuchungsrichter diese Maßnahme bereits nach zehn Tagen des Aktenstudiums an. Dazu kommt, dass dieser Haftgrund auch innerstaatlichem Recht widerspricht, welches explizit vorsieht, dass das Studieren des Strafakts ein Recht – und nicht eine Verpflichtung – des Beschuldigten darstellt, und ferner, dass die Zeit zum Aktenstudium nicht beschnitten werden sollte.

Als nächster – gewichtiger – Haftgrund wurde von den Gerichten der Druck auf Zeugen infolge des vom Bf. gegebenen Interviews angeführt. Der GH weist allerdings darauf hin, dass weder die Behörden noch die Regierung erklärt haben, in welcher Art und Weise Zeugen von den öffentlichen Äußerungen des Bf. hätten abgeschreckt werden können und warum Haft die angemessene Reaktion auf ein derartiges Verhalten sei. Der herangezogene Haftgrund ist im Kontext des Unmuts der Strafverfolgungsbehörden über das gegebene Interview zu sehen. Als prominente politische Figur konnte jedoch vom Bf. erwartet werden, dass er seine Meinung über die Angelegenheit kundtun würde und dass dies sowohl Gegner als auch Anhänger interessieren würde. Unter diesen Umständen bestand jedenfalls keine Rechtfertigung für eine Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. – dies umso mehr, als es sich hierbei um kein strafwürdiges Vergehen handelte.

Zum weiteren Haftgrund der fehlenden Bereitschaft des Bf. auszusagen und seine Schuld einzugestehen, ist zu sagen, dass diese Anforderungen bereits an sich dem Recht, sich nicht selbst bezichtigen zu müssen, sowie der Unschuldsvermutung zuwiderlaufen.

Was die vom Bf. gerügte Verlängerung der Untersuchungshaft auf unbestimmte Zeit angeht, hat der GH zuletzt im Fall Kharchenko/UA festgehalten, dass eine derartige Vorgangsweise mit den Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK unvereinbar ist.

Der GH stellt daher eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK fest (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 2 EMRK

Die Parteien sind sich darüber uneinig, in welchem Ausmaß der Bf. über die Gründe für seine Festnahme informiert wurde. Es wird jedoch auch von der Regierung nicht bestritten, dass man ihn zum Zeitpunkt der Festnahme vom Antrag der Staatsanwaltschaft nicht in Kenntnis setzte. Letzterer war ausschlaggebend für die Anhaltung des Bf., der über den Antrag erst mehr als 20 Stunden später, nämlich in der am 27.12.2010 abgehaltenen Strafverhandlung, in Kenntnis gesetzt wurde. Diese Umstände reichen aus, um auf eine Verletzung von Art. 5 Abs. 2 EMRK zu schließen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK

Der Bf. bringt vor, die Gerichte hätten sich geweigert, eine Haftprüfungsverhandlung anzuberaumen. Ferner sei die Entscheidung, ihn in Haft zu nehmen, nicht ausreichend begründet gewesen.

Zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft

Im vorliegenden Fall wurde der Bf. zwar nach seiner Festnahme einem Gericht vorgeführt, jedoch prüfte dieses ungeachtet seines Einspruchs, zu Unrecht festgenommen worden zu sein, nicht die Rechtmäßigkeit seiner Anhaltung. Ferner wird weder aus den Akten noch aus dem Vorbringen der Regierung ersichtlich, dass die Behörden beabsichtigten, den Bf. in den Genuss der von Art. 5 Abs. 3 EMRK geforderten automatischen Haftprüfung kommen zu lassen. Dem Bf. wurde daher diese wichtige konventionsrechtliche Garantie vorenthalten. Der Einwand der Regierung, der Bf. selbst hätte die Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Anhaltung beantragen müssen, ist daher zurückzuweisen und eine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK festzustellen (einstimmig).

Zum gerichtlichen Haftbefehl

Die Anhaltung des Bf. fiel unter Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK (Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde). Der GH hat bereits erwähnt, dass der Bf. und sein Anwalt nicht im vorhinein über den Gegenstand der Strafverhandlung informiert worden waren. Ebenfalls festgestellt wurde, dass das Strafgericht Pechersky, welches die Verhängung der Untersuchungshaft über den Bf. anordnete, die Frage der Notwendigkeit der Freiheitsentziehung nicht in zufriedenstellender Weise prüfte. Besagtes Strafgericht zog auch niemals andere gelindere Mittel in Betracht, obwohl der Anwalt des Bf. die Zahlung einer Kaution in Aussicht gestellt hatte. Dazu kommt, dass der Antrag des Bf. auf Einräumung von ausreichender Zeit zum Studium des von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweismaterials und auf Vorbereitung der Verteidigung vom Gericht ohne Darlegung von Gründen abgelehnt wurde. Der GH vermag das Argument der Regierung nicht zu akzeptieren, der Bf. hätte das Beweismaterial gar nicht einsehen müssen, lag doch die Entscheidung darüber, ob er es studieren sollte oder nicht, ausschließlich in seinem Ermessen bzw. dem seines Anwalts. Ein derartiges Verhalten musste die Waffengleichheit zwischen den Parteien empfindlich beeinträchtigen. Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK

Der Bf. rügt, ihm sei der Zugang zu den von der Staatsanwaltschaft zur Stützung ihres Antrags vom 25.12.2010 vorgelegten Dokumenten verwehrt worden, außerdem habe das Gericht zweiter Instanz keinerlei Gründe für die Zurückweisung seiner Berufung angegeben.

Im vorliegenden Fall legte der Bf. gegen die Entscheidung, ihn in Haft zu nehmen, ein Rechtsmittel ein und focht sowohl die Fairness des Verfahrens vor dem Erstgericht als auch die von der Staatsanwaltschaft vorgebrachten – vom Gericht gutgeheißenen – Haftgründe an. In seiner Entscheidung vom 5.1.2011 wies das Gericht zweiter Instanz das Rechtsmittel des Bf. zurück, ohne sich mit seinen Argumenten angemessen auseinander zu setzen. Es ging auch auf einen von mehreren Parlamentariern und vom ukrainischen Ombudsmann unterfertigten Antrag nicht näher ein, den Bf. gegen Kaution zu entlassen, sondern beschränkte sich auf eine Wiederholung der Schlussfolgerungen des Erstgerichts und auf die Zurückweisung der Rügen des Bf. als unbegründet. Dasselbe Gericht verlängerte am 21.4.2011 die Haft des Bf., obwohl er zu diesem Zeitpunkt das Aktenstudium beendet hatte – gerade dessen Fehlen war von den Untersuchungsbehörden als Hauptgrund für den Freiheitsentzug angeführt worden.

Diese Überlegungen reichen aus, um darauf zu schließen, dass dem Bf. keine angemessene gerichtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit seiner Anhaltung gewährt wurde. Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 18 iVm. Art. 5 EMRK

Der Bf. beklagt sich darüber, dass das gegen ihn angestrengte Strafverfahren sowie seine Festnahme bzw. Anhaltung zum Ziel gehabt hätten, ihn vom politischen Leben und von der Teilnahme an den anstehenden Parlamentswahlen auszuschließen.

Der GH wird diesen Beschwerdepunkt unter Art. 18 EMRK (Begrenzung der Rechtseinschränkungen) prüfen.

Die Umstände des vorliegenden Falls deuten darauf hin, dass der Bf. in seiner Eigenschaft als vormaliger Minister und Vorsitzender einer populären Partei kurz nach dem Machtwechsel des Amtsmissbrauchs angeklagt und strafrechtlich verfolgt wurde. Externe Beobachter beschrieben dies als politisch motivierte Verfolgung von Führern der Opposition. Der Fall des Bf. erregte – wie auch jener der frühreren Premierministerin Julia Timoschenko – sowohl national als auch international große Aufmerksamkeit. Die Andeutung des Bf., seine Anhaltung hätte »höheren Motiven« gedient, reicht aus, um sie unter Art. 18 EMRK einer Prüfung zu unterziehen.

Im vorliegenden Fall erregte die Angelegenheit des Bf. beträchtliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Der GH akzeptiert, dass dieser mit Rücksicht auf den Vorwurf des Amtsmissbrauchs einen Anspruch auf Entgegnung gegenüber derartigen Anschuldigungen über die Medien hatte. Die Strafverfolgungsbehörden führten als einen der Gründe für die Festnahme des Bf. ausdrücklich dessen Kommunikation mit den Medien an und warfen ihm vor, die öffentliche Meinung betreffend von ihm begangene Delikte falsch zu informieren, die Strafverfolgungsbehörden in Verruf zu bringen und Einfluss auf das bevorstehende Strafverfahren zu nehmen, um seiner strafrechtlichen Verantwortung zu entgehen.

Nach Ansicht des GH belegen diese Beweggründe klar das Bestreben der Strafverfolgungsbehörden, den Bf. dafür zu bestrafen, dass er sich öffentlich von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen distanziert und seine Unschuld beteuert hatte – was sein gutes Recht war. Unter diesen Umständen erfolgte die unter Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK zulässige Einschränkung der Freiheit nicht nur zum Zweck der Vorführung vor das zuständige Gericht wegen hinreichenden Tatverdachts, sondern auch aus anderen Gründen. Verletzung von Art. 18 EMRK in Verbindung mit Art. 5 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 15.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Gusinskiy/RUS v. 19.5.2004 = NL 2004, 123

Lebedev/RUS v. 25.10.2007 = NL 2007, 264

Ladent/PL v. 18.3.2008 = NL 2008, 70

Kharchenko/UA v. 10.2.2011

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.7.2012, Bsw. 6492/11 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 234) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_4/Lutsenko.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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