JudikaturJustizBsw54648/09

Bsw54648/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
23. Oktober 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Furcht gg. Deutschland, Urteil vom 23.10.2014, Bsw. 54648/09.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Weiterbestehen der Opfereigenschaft trotz Strafmilderung wegen Tatprovokation.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 8.000,– für immateriellen Schaden, € 8.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Im Oktober 2007 genehmigte das Amtsgericht Aachen verdeckte Ermittlungen gegen S. und fünf weitere Personen, die verdächtigt wurden, an Drogenhandel beteiligt zu sein. Die Polizei entschied sich zu versuchen, über den Bf., der ein guter Freund und Partner von S. bei Immobiliengeschäften war, in Kontakt zu diesem zu treten. Gegen den Bf., der nicht vorbestraft war, bestand zu diesem Zeitpunkt kein Verdacht einer Beteiligung an Suchtgifthandel. Ab 16.11.2007 nahmen zwei verdeckte Ermittler Kontakt zum Bf. auf. Sie besuchten ihn in dem von ihm betriebenen Restaurant und gaben vor, am Erwerb einer Liegenschaft interessiert zu sein.

In weiterer Folge stellte der Bf. zum Zweck der Organisation von Zigarettenschmuggel Kontakt zwischen den Beamten und S. her, nachdem einer der Polizisten vorgegeben hatte, über ein geeignetes Fahrzeug zu verfügen. Als der Beamte am 23.1.2008 gegenüber dem Bf. meinte, das Risiko wäre ihm angesichts des mit Zigarettenschmuggel zu erzielenden geringen Profits zu hoch, vertraute ihm der Bf. an, dass er und S. auch mit Amphetaminen und Kokain handeln würden. Er selbst wolle sich nicht direkt beteiligen, würde aber das Geschäft vermitteln. Am 1.2.2008 erklärte der Bf. einem der Polizisten, der ihn angerufen hatte, nicht länger an irgendwelchen Geschäften interessiert zu sein.

Das Amtsgericht Aachen genehmigte am 7.2.2008 weitere Ermittlungen, die sich auch auf den Bf. erstreckten.

Am 8.2.2008 besuchte einer der Polizisten den Bf. in seinem Restaurant und zerstreute seinen Verdacht über die verdeckten Ermittler und seine Befürchtungen hinsichtlich einer drohenden Freiheitsstrafe, sollte das Drogengeschäft auffliegen. Der Bf. organisierte daraufhin zwei Verkäufe von Kokain und Amphetaminen durch S. an die verdeckten Ermittler im Umfang von 40 Gramm Kokain sowie einmal 10 kg und einmal 250 kg Amphetaminpaste. Anlässlich der zweiten Übergabe wurden S. und der Bf. verhaftet. Für die Vermittlung des zweiten Kaufs hätte der Bf. von S. eine Provision von € 50.000,– erhalten.

Der Bf. wurde am 22.10.2008 vom Landgericht Aachen wegen Drogenhandels in zwei Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Das Landgericht stützte sich auf das Geständnis des Bf. sowie auf die Berichte der beiden verdeckten Ermittler, die in der Hauptverhandlung verlesen worden waren. Bei der Strafbemessung wurde als besonders schwerwiegender Milderungsgrund ausdrücklich die Tatsache genannt, dass der Bf. von Beamten zur Tatbegehung verleitet worden war. Er sei jedoch nicht angestiftet worden, sondern habe von sich aus das Geschäft vorgeschlagen.

Die Revision wurde vom BGH am 8.4.2009 als unbegründet verworfen. Das BVerfG lehnte am 28.5.2009 die Behandlung der Beschwerde ab.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren). Das Strafverfahren gegen ihn sei unfair gewesen, weil er durch verdeckt ermittelnde Polizisten zu den Drogendelikten verleitet worden sei und die Verurteilung im Wesentlichen auf durch die Tatprovokation erlangten Beweisen beruht habe.

Zulässigkeit

(34) Das Landgericht stellte in seinem Urteil, mit dem es den Bf. wegen Drogenhandels verurteilte, fest, dass er von staatlichen Organen zur Tatbegehung verleitet worden war und milderte die Strafe wegen dieser Verleitung. Daher stellt sich die Frage, ob der Bf. iSv. Art. 34 EMRK seinen Status als Opfer einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK verloren hat. Nach Ansicht des GH muss die Angemessenheit der Reaktion der Behörden auf die umstrittene polizeiliche Maßnahme im Licht des Ausmaßes der durch diese verursachten möglichen Unfairness des Verfahrens gegen den Bf. beurteilt werden. Ob der Bf. seine Opfereigenschaft verloren hat, wird daher im Rahmen der Prüfung der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK in der Sache erörtert.

(35) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Verstieß das Strafverfahren gegen Art. 6 EMRK?

(40) [...] Der Bf. bringt vor, das Einschreiten der verdeckten Ermittler sei als ein unzulässiges Verleiten anzusehen, weil die agents provocateurs seine Bereitschaft erst geweckt hätten, sich an den Straftaten zu beteiligen.

Relevante Grundsätze

(46) Der GH erinnert daran, dass die Zulässigkeit von Beweismitteln in erster Linie durch das innerstaatliche Recht geregelt wird und es grundsätzlich Sache der nationalen Gerichte ist, die ihnen vorliegenden Beweise zu würdigen. Der GH muss sich vergewissern, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit fair war, einschließlich der Art, wie Beweise erlangt wurden.

(47) Der Einsatz verdeckter Ermittler kann geduldet werden, wenn er klaren Einschränkungen und Sicherungen unterliegt. [...] Das öffentliche Interesse an der Verbrechensbekämpfung kann nicht die Verwendung von Beweisen rechtfertigen, die als Resultat einer polizeilichen Anstiftung erlangt wurden, da eine solche Vorgangsweise den Angeklagten der Gefahr aussetzen würde, von Anfang an eines fairen Verfahrens beraubt zu werden.

(48) [...] Polizeiliche Tatprovokation findet dann statt, wenn die beteiligten Beamten sich nicht auf eine im Wesentlichen passive Ermittlung strafbarer Aktivitäten beschränken, sondern einen solchen Einfluss auf die Person ausüben, dass diese zur Begehung einer Tat verleitet wird, die ansonsten nicht begangen worden wäre [...]. Der Gedanke hinter diesem Verbot der Tatprovokation liegt darin, dass es Aufgabe der Polizei ist, Straftaten zu verhindern und nicht, zu solchen anzustiften.

(50) Zur Entscheidung, ob die Ermittlungen »im Wesentlichen passiv« waren, wird der GH die Gründe für die verdeckte Ermittlung und das Verhalten der beteiligten Stellen beurteilen. Der GH wird sich darauf stützen, ob objektive Verdachtsmomente dafür bestanden, dass der Bf. an kriminellen Aktivitäten beteiligt oder der Begehung einer Straftat zugeneigt war.

(52) Um legitime Unterwanderung durch verdeckte Ermittler von der Verleitung zu einer Straftat zu unterscheiden, wird der GH überdies prüfen, ob der Bf. Druck ausgesetzt wurde, die Tat zu begehen. In Suchtgiftfällen hat der GH ein Verlassen der passiven Haltung etwa mit folgenden Verhaltensweisen der Ermittlungsbehörden assoziiert: wiederholtes Kontaktieren des Bf. oder Wiederholung des Angebots trotz anfänglicher Weigerung, beharrliche Aufforderungen, Erhöhung des Preises über den Durchschnitt oder Appelle an das Mitgefühl des Bf. durch die Erwähnung von Entzugserscheinungen.

(53) Bei der Anwendung dieser Kriterien liegt die Beweislast bei den Behörden. Es ist Sache der Strafverfolgungsbehörde nachzuweisen, dass keine Anstiftung erfolgt ist, vorausgesetzt die Behauptungen des Angeklagten sind nicht völlig unwahrscheinlich. [...]

Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall

(54) Der GH muss entscheiden, ob der Bf. die Drogendelikte, für die er verurteilt wurde, aufgrund einer polizeilichen Verleitung begangen hat. Dies wäre der Fall, wenn die verdeckten Ermittler seine Aktivitäten nicht nur in einer im Wesentlichen passiven Weise untersucht, sondern einen solchen Einfluss auf ihn ausgeübt haben, dass er zur Begehung von Drogendelikten angestiftet wurde, die er ansonsten nicht begangen hätte.

(55) [...] Als der Bf. im November 2007 erstmals von den verdeckten Ermittlern kontaktiert wurde, bestand kein objektiver Verdacht, dass er an Drogenhandel beteiligt war. Das Amtsgericht Aachen genehmigte am 18.10.2007 verdeckte Ermittlungen nur gegen S. und fünf weitere Personen, unter denen sich der Bf. nicht befand. [...] Die verdeckten Ermittler näherten sich dem Bf. nicht wegen des Verdachts der Beteiligung an Drogenhandel, sondern weil er ein guter Freund des Verdächtigen S. war und daher als Mittel angesehen wurde, Kontakt zu diesem herzustellen.

(56) [...] Wie aus dem Urteil des Landgerichts Aachen klar hervorgeht, nahmen die Strafverfolgungsbehörden, als die verdeckten Ermittler begannen, Kontakt zum Bf. aufzunehmen, nicht an, dass er dem Drogenhandel zugeneigt war. Es spielt daher keine Rolle, dass die Genehmigung des Amtsgerichts, die den Umfang der Ermittlungen auch auf den Bf. ausdehnte, auf der Annahme einer solchen Neigung beruhte. Dies gilt umso mehr, als der Bf. in diesem Moment bereits erklärt hatte, nicht an anderen Geschäften als seinem Restaurant interessiert zu sein. [...]

(57) Was die Frage betrifft, ob seitens der verdeckten Ermittler Druck auf den Bf. ausgeübt wurde, die Straftaten zu begehen, [...] stellt der GH fest, dass die Ermittler darauf achteten, keine konkreten illegalen Geschäfte oder spezifische Arten und Mengen von Drogen vorzuschlagen, bevor S. und der Bf. den ersten Schritt setzten. In diesem Zusammenhang ist relevant, dass es der Bf. war, der die Möglichkeit aufbrachte, den Verkauf von Drogen durch S. zu arrangieren, wenn auch in einem von den verdeckten Ermittlern sorgfältig vorbereiteten Kontext, der darauf abzielte, zu einem Drogengeschäft zwischen ihnen und S. zu gelangen.

(58) Dennoch muss der GH feststellen, dass der Bf. dem Ermittler, der ihn am 1.2.2008 anrief, erklärte, nicht länger an der Teilnahme an einem Drogengeschäft interessiert zu sein. Ungeachtet dessen kontaktierte der Beamte ihn eine Woche später erneut und überredete ihn dazu, den Verkauf des Suchtgifts durch S. an die Ermittler einzufädeln. Durch dieses Verhalten gegenüber dem Bf. verließen die Behörden eindeutig eine passive Haltung und brachten den Bf. dazu, die Straftaten zu begehen. [...]

(59) Angesichts dieser Überlegungen gelangt der GH zum Schluss, dass die verdeckte Maßnahme über die rein passive Ermittlung bestehender strafrechtlicher Aktivitäten hinausging und auf eine polizeiliche Tatprovokation hinauslief, wie sie in der Rechtsprechung des GH zu Art. 6 Abs. 1 EMRK definiert wurde. Die durch die polizeiliche Verleitung erlangten Beweise wurden im folgenden Strafverfahren gegen den Bf. verwendet.

Zum Verlust der Opfereigenschaft des Bf.

(62) [...] Eine Entscheidung oder Maßnahme zugunsten des Bf. reicht für sich grundsätzlich nicht aus, um ihm seinen Status als »Opfer« iSv. Art. 34 EMRK zu nehmen, solange die innerstaatlichen Behörden die Verletzung der Konvention nicht ausdrücklich oder in der Sache anerkannt und Wiedergutmachung geleistet haben.

(64) In Fällen einer gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßenden polizeilichen Tatprovokation betont der GH in ständiger Rechtsprechung, dass das öffentliche Interesse an der Bekämpfung schwerer Straftaten wie Suchtgifthandel nicht die Verwendung von Beweisen rechtfertigen kann, die durch polizeiliche Verleitung erlangt wurden. Damit das Verfahren iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK fair ist, müssen alle durch polizeiliche Verleitung erlangten Beweise ausgeschlossen oder es muss ein Verfahren mit ähnlichen Konsequenzen angewendet werden.

(65) [...] Das Landgericht Aachen anerkannte in seinem Urteil [...], dass der Bf. durch ein staatliches Organ zur Tatbegehung verleitet, aber nicht angestiftet worden war. Das Landgericht stützte diese Feststellung im Wesentlichen auf dieselben Tatsachen, aufgrund derer der GH zum Schluss gelangte, dass die verdeckte Maßnahme auf eine Tatprovokation im Sinne seiner Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK hinauslief. [...]

(66) Der GH bemerkt jedoch, dass dem Vorbringen der Regierung zufolge das Landgericht mit diesen Feststellungen nicht anerkennen wollte, dass eine nach der Rechtsprechung des GH unzulässige Tatprovokation erfolgt wäre. Wie der GH feststellt, bezog sich das Landgericht auch nicht ausdrücklich auf Art. 6 Abs. 1 EMRK, auf entsprechende Garantien des GG oder die ständige Rechtsprechung des BGH zur unzulässigen polizeilichen Tatprovokation, mit der die Begründung des Landgerichts auf einer Linie liegt. Allerdings kann er angesichts des Folgenden die Frage offenlassen, ob das Landgericht durch seine Feststellungen die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK in der Sache anerkannt hat.

(67) Selbst unter der Annahme einer Anerkennung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch das Landgericht muss der GH weiters feststellen, ob dieses Gericht ausreichende Wiedergutmachung für die Konventionsverletzung geleistet hat. Er stellt fest, dass das Landgericht ausdrücklich aussprach, dass die Verleitung zur Tatbegehung durch staatliche Organe ein besonders schwerwiegender Milderungsgrund war.

(68) [...] Damit das Strafverfahren fair ist, müssen alle als Resultat der Tatprovokation erlangten Beweise ausgeschlossen oder es muss ein Verfahren mit ähnlichen Folgen angewendet werden. Angesichts seiner Rechtsprechung muss der GH zum Schluss gelangen, dass jede Maßnahme, die nicht im Ausschluss solcher Beweise im Strafverfahren besteht oder zu ähnlichen Konsequenzen führt, ebenfalls als unzureichend angesehen werden muss, um angemessene Wiedergutmachung für eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu leisten.

(69) Der GH stellt fest, dass im vorliegenden Fall die durch polizeiliche Verleitung erlangten Beweise im Strafverfahren gegen den Bf. verwendet wurden und seine Verurteilung auf diesem Material beruhte. Außerdem ist der GH nicht zuletzt angesichts der Wichtigkeit dieses Materials zum Nachweis der Schuld des Bf. nicht davon überzeugt, dass selbst eine erhebliche Milderung seiner Strafe als Verfahren mit ähnlichen Folgen wie ein Ausschluss der umstrittenen Beweise angesehen werden kann. Daraus folgt, dass dem Bf. keine angemessene Wiedergutmachung für die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK geleistet wurde.

(70) Der GH möchte hinzufügen, dass selbst wenn es plausibel erscheint, dass die über den Bf. wegen Drogenhandels verhängte Strafe erheblich reduziert wurde, das exakte Ausmaß der Herabsetzung im Urteil nicht festgehalten wurde und somit nicht klar messbar war.

(71) Angesichts dieser Feststellungen kann der Bf. weiterhin behaupten, Opfer einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu sein.

(72) Es hat daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 8.000,– für immateriellen Schaden, € 8.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Entscheidungsanmerkung

Der EGMR spricht in diesem Urteil zwei Aspekte der Tatprovokation an. Zum einen verweist er auf seine bereits in früheren Urteilen (insb. Teixeira de Castro/P und Ramanauskas/LT) dargelegten Kriterien zur Abgrenzung zwischen legitimer verdeckter Ermittlung und unzulässiger Tatprovokation. Dass deren Anwendung im vorliegenden Fall zur Feststellung eines unzulässigen Verleitens zur Tat führt, ist wenig überraschend. Schließlich hatte ursprünglich gegen den nicht vorbestraften Bf. gar kein Verdacht bestanden und zudem war er auch nach seiner ausdrücklichen Beteuerung, nicht an illegalen Geschäften interessiert zu sein, weiterhin von den verdeckten Ermittlern kontaktiert worden.

Brisanter ist der zweite Aspekt des Urteils, nämlich die Frage, ob die Berücksichtigung der Tatprovokation bei der Strafbemessung die Opfereigenschaft der verurteilten Person beseitigen kann. Hier geht es nicht nur um die Beurteilung des vorliegenden Einzelfalls, sondern um die generelle Vereinbarkeit der sogenannten Strafzumessungslösung mit der EMRK. Der BGH judiziert in ständiger Rechtsprechung, dass eine unzulässige Tatprovokation weder ein Verfolgungshindernis noch ein Strafausschließungsgrund ist, sondern die darin bzw. in der Beweisverwertung liegende Konventionsverletzung durch eine entsprechende Strafmilderung ausgeglichen werden kann. Insofern ist das Urteil Furcht/D über den Einzelfall hinaus von Bedeutung. Der OGH hat diese Rechtsprechung übernommen und befürwortet ebenfalls diese Strafzumessungslösung. Wird die Verleitung einer nicht tatgeneigten Person zur Begehung des Delikts durch staatliche Organe im Urteil ausdrücklich als Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK anerkannt und eine ausdrückliche und messbare Strafminderung vorgenommen, so ist nach höchstgerichtlicher Ansicht der Gerechtigkeit Genüge getan.

Dieser Zugang der Gerichtsbarkeit wird von Teilen der Lehre heftig kritisiert, wobei nicht zuletzt darauf hingewiesen wird, dass die Judikatur des EGMR ein Beweisverwertungsverbot verlangt. Diese Kritik wird nun durch das vorliegende Urteil bestätigt, das der Strafzumessungslösung eine klare Absage erteilt. Wie der Gerichtshof ausdrücklich festhält, kann eine Maßnahme, die nicht im Ausschluss von durch eine Tatprovokation erlangten Beweisen besteht oder vergleichbare Konsequenzen hat, nicht als ausreichende Wiedergutmachung der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK angesehen werden (Z. 68). Die bloße Strafmilderung bei einer Verurteilung aufgrund der durch polizeiliche Tatprovokation erlangten Beweise lässt der GH nicht ausreichen. Ob das Landgericht die Konventionsverletzung ausdrücklich anerkannt hatte und ob die Strafmilderung messbar war, spielte daher im Ergebnis keine Rolle mehr.

Das vorliegende Urteil wird nicht ohne Auswirkungen auf die Rechtsprechung von BGH und OGH bleiben können. Wurde die Tatbegehung in unzulässiger Weise provoziert – haben sich also die verdeckten Ermittler nicht auf das passive Erforschen eines kriminellen Verhaltens beschränkt, sondern jemanden zur Begehung einer Tat verleitet, die ansonsten unterblieben wäre – so müssen alle durch die Tatprovokation erlangen Beweise unberücksichtigt bleiben. Im Ergebnis wird dies in der Regel wohl darauf hinauslaufen, dass solche Straftaten nicht verfolgt werden können, weil kaum Beweise vorliegen werden, die nicht aus der Provokation folgen. Das sollte allerdings nicht zur Folge haben, dass die Judikatur des EGMR missachtet wird, sondern dass Tatprovokationen durch staatliche Organe vermieden werden.

Vom GH zitierte Judikatur:

Teixeira de Castro/P v. 9.6.1998 = ÖJZ 1999, 434 = EuGRZ 1999, 660

Ramanauskas/LT v. 5.2.2008 (GK) = NL 2008, 21

Gäfgen/D v. 1.6.2010 (GK) = NL 2010, 173 = EuGRZ 2010, 417

Bannikova/RUS v. 4.11.2010

Anmerkung:

Eine Besprechung des Urteils finden Sie in der Druckfassung des Newsletter Menschenrechte (Heft 5/2014, S. 409).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.10.2014, Bsw. 54648/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 406) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_5/Furcht.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
8