JudikaturJustizBsw20688/04

Bsw20688/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
17. Dezember 2013

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Nikolova und Vandova gg. Bulgarien, Urteil vom 17.12.2013, Bsw. 20688/04.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 und 2, 8 EMRK - Keine Öffentlichkeit von Verfahren und Entscheidungen, weil Teile der Fallakte geheime Informationen enthielten.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK im Bezug auf die fehlende öffentliche verhandlung und die fehlende Öffentlichkeit der Urteile (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der fehlenden öffentlichen Verhandlung vor dem Obersten Verwaltungsgericht (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der fehlenden Öffentlichkeit der Urteile (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 2.400,- für immateriellen Schaden, € 1.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei der ErstBf. handelt es sich um eine ehemalige polizeiliche Ermittlerin. Zur Zeit der Ereignisse war sie in einer auf Straftaten gegen das geistige Eigentum spezialisierten Abteilung des Innenministeriums beschäftigt. Die ErstBf. wurde am 19.12.2001 wegen Verdachts der Annahme von Bestechungsgeldern und der Behinderung der Justiz in Haft genommen. Davon wurde auch in den Medien berichtet.

Die ZweitBf., eine Anwältin, übernahm die rechtliche Vertretung der ErstBf.

Am 4.3.2003 befand das Militärgericht Sofia die ErstBf. der Korruption in mehreren Fällen und der Behinderung der Justiz für schuldig und verurteilte sie zu fünf Jahren Haft und zur Zahlung einer Geldstrafe. Das Gericht schloss sie auch von einer weiteren Beschäftigung im Innenministerium aus. Im Hinblick auf einen Anklagepunkt wurde sie freigesprochen.

Das Militärberufungsgericht Sofia hob dieses Urteil am 19.6.2003 hinsichtlich der Schuldsprüche aufgrund von Verfahrensmängeln auf und verwies den Fall an die Ermittlungsbehörden zurück. Der zuständige Richter stellte das Verfahren am 28.7.2005 ein, da der Staatsanwalt gegen die ErstBf. nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist Anklage erhoben hatte.

Nach der strafrechtlichen Verfolgung der ErstBf. wurde auch ein disziplinarrechtliches Verfahren gegen sie eingeleitet. Gemäß einer Anordnung des Innenministers vom 26.2.2002 wurde sie aus ihrem Posten entlassen, weil sie am 28.3.2001 von einer Person, gegen die ermittelt wurde, Geld verlangt hätte, damit sie keine Untersuchung durchführte. Nach Erhalt des Geldes hätte sie es unterlassen, die Ermittlung zu vervollständigen wie vom Staatsanwalt verlangt. Der Minister begründete die Entlassung damit, dass ihre Handlungen eine Verletzung ihrer Dienstpflicht darstellten, unmoralisch und in Anbetracht der medialen Berichterstattung schädlich für den Ruf der Dienststelle seien.

Am 11.3.2002 brachte die ErstBf. gegen diese Anordnung des Ministers eine Beschwerde beim Obersten Verwaltungsgericht (OVwG) ein und beauftragte die ZweitBf., sie zu vertreten. Das Innenministerium übersandte dem Gericht am 2.4.2002 die die Entlassung der ErstBf. betreffenden Dokumente und ersuchte darum, den Fall unter Ausschluss der Öffentlichkeit (»in camera«) zu verhandeln, da einige der Dokumente als geheim eingestuft seien. Infolge dieses Antrags wurde auch die Fallakte als geheim eingestuft. Aus dem dem GH vorgelegten Material ergibt sich, dass die Kennzeichnung als geheim zwei Dokumente betraf, nämlich einen Ereignisbericht an die Personalabteilung des Innenministeriums über die Anklage und Inhaftierung der ErstBf. und einen internen Prüfbericht der Abteilung, in welcher die ErstBf. beschäftigt gewesen war, der sich mit der Organisation der Abteilung, ihren Mitarbeitern und Arbeitsmethoden, der Zahl und Art der laufenden Verfahren und den festgestellten Problemen und Mängeln befasste.

Als die ZweitBf. um Erlaubnis ersuchte, die Akte zu konsultieren, wurde ihr das verweigert, da diese geheim sei und sie nicht die für die Konsultation von geheimer Information notwendige Genehmigung habe. In der Verhandlung vom 28.5.2002 beantragte die ZweitBf. die Vertagung des Falles, da sie keinen Zugang zur Akte hätte. Das OVwG gab diesem Antrag statt. Die ZweitBf. entschied sich jedoch in der Folge dazu, nicht um Genehmigung für den Zugang zum geheimen Material anzusuchen, da sie sich nicht einer Sicherheitsüberprüfung durch den Nationalen Sicherheitsdienst unterziehen wollte.

Die ErstBf. erschien daraufhin alleine bei der Verhandlung am 25.6.2002. Das OVwG wies ihren Antrag auf eine weitere Vertagung des Verfahrens ab, um vom Verfassungsgericht klären zu lassen, ob die Unterwerfung ihrer Anwältin unter die Sicherheitsüberprüfung rechtmäßig war. Am 25.6.2003 bestätigte es die Entlassung der ErstBf.

Gegen diese Entscheidung legte die ErstBf. Berufung ein. Das OVwG wies diese jedoch am 9.12.2003 ab. Da die Akte als geheim eingestuft worden war, war es der ErstBf. zuerst unmöglich, eine Kopie der Urteile zu erhalten, die auf der Homepage des Gerichts auch nicht veröffentlicht waren. Ihr wurde erlaubt, den Text der Urteile in der Kanzlei des Gerichts einzusehen. Der Fall wurde am 6.7.2009 nach Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen fünfjährigen Frist freigegeben.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die ErstBf. rügt mehrere Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), insbesondere dass im Berufungsverfahren gegen ihre Entlassung keine öffentliche Verhandlung stattfand und dass die Urteile des OVwG nicht öffentlich verkündet wurden und für die Öffentlichkeit auch sonst nicht verfügbar waren. Unter Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung) beschwert sie sich weiters darüber, dass die Urteile der nationalen Gerichte, welche ihre Entlassung bestätigten, eine Schuldfeststellung im Bezug auf die Straftat der Korruption bedeuteten, obwohl ihre Schuld im strafrechtlichen Verfahren nicht festgestellt worden sei.

Die ZweitBf. rügt eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) durch das Erfordernis, persönliche Informationen preisgeben zu müssen, um die Genehmigung zum Zugang zu vertraulichen Informationen zu erhalten und ihre Klientin in den Verfahren wegen deren Entlassung wirksam vertreten zu können.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK war zwischen den Parteien nicht strittig. Soweit die ErstBf. behauptet, dass die Bestimmung auch unter ihrem strafrechtlichen Aspekt anwendbar ist und sich insbesondere auf Art. 6 Abs. 3 lit. c stützt, beobachtet der GH, dass die fraglichen Verfahren ihre Entlassung aus disziplinären Gründen betrafen. Angesichts der Natur der Handlungen, deren Begehung sie beschuldigt wurde, nämlich Disziplinarvergehen, ihrer Einordnung im nationalen Recht und der Sanktion, die ihr drohte und die auch gegen sie verhängt wurde, befindet der GH, dass die fraglichen Verfahren sich auf keine »strafrechtliche Anklage« im Sinne des Art. 6 EMRK bezogen.

Zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Aspekt ist festzuhalten, dass im vorliegenden Fall nicht bestritten wurde, dass die fraglichen Verfahren einen echten und ernsthaften Streit über ein Recht betrafen, das die ErstBf. nach dem nationalen Recht besaß, nämlich das Recht, keiner unrechtmäßigen Entlassung unterworfen zu werden, und dass sie unmittelbar entscheidend für dieses Recht waren.

Zur Frage, ob das Recht angesichts der von der ErstBf. besetzten Stelle ein »zivilrechtlicher« Anspruch im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK war, wiederholt der GH, dass Streitigkeiten zwischen dem Staat und seinen Beamten grundsätzlich unter Art. 6 EMRK fallen, außer wenn zwei kumulative Bedingungen erfüllt sind. Erstens muss der Staat in seinem nationalen Recht den Zugang zu einem Gericht für die betreffende Stelle oder Personalgruppe ausdrücklich ausgeschlossen haben. Zweitens muss dieser Ausschluss aus objektiven Gründen im Interesse des Staates gerechtfertigt sein.

Im vorliegenden Fall ist die erste dieser Bedingungen nicht erfüllt, da das nationale Recht explizit eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung zur Entlassung eines Beamten des Innenministeriums vorsieht und die von der ErstBf. erhobene Berufung tatsächlich vom OVwG untersucht wurde. Daraus folgt, dass Art. 6 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Aspekt anwendbar ist.

Keine öffentliche Verhandlung

Diese Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Im vorliegenden Fall wurde das die ErstBf. betreffende Verfahren trotz ihrer Einwände in camera durchgeführt. Der GH muss daher herausfinden, ob der Ausschluss der Öffentlichkeit unter den Umständen des Falles als gerechtfertigt angesehen werden konnte.

Der GH beobachtet zu Beginn, dass das Fehlen einer öffentlichen Verhandlung im vorliegenden Fall nicht auf einen allgemeinen und absoluten Grundsatz zurückzuführen ist, der eine ganze Gattung von Fällen betrifft, sondern auf eine spezifische Entscheidung, die vom Gericht auf Antrag einer der Parteien des Verfahrens, nämlich des Innenministeriums, gefällt wurde, weil einige der Dokumente, die dieses vorlegte, als »geheim« eingestuft worden waren.

Die ErstBf. bestritt die Behauptung, dass die fraglichen Dokumente Staatsgeheimnisse enthielten. In diesem Zusammenhang befindet der GH unter Berücksichtigung der Natur der betreffenden Information, die sich insbesondere auf den internen Dienstablauf und die von der Polizei bei der Verbrechensbekämpfung verwendeten Methoden bezog, dass die Behörden grundsätzlich ein legitimes Interesse an deren Geheimhaltung hatten. Er sieht keinen Beweis dafür, dass die Einstufung der betreffenden Dokumente als geheim auf willkürliche oder nicht korrekte Weise oder mit einem anderen Ziel als dem verfolgten legitimen Interesse erfolgte.

Der GH hat jedoch schon früher festgestellt, dass das bloße Vorhandensein von geheimer Information in der Fallakte nicht automatisch die Notwendigkeit impliziert, einen Prozess von der Öffentlichkeit auszuschließen, ohne diese Notwendigkeit unter Abwägung des Grundsatzes, dass Gerichtsverhandlungen öffentlich abgehalten werden müssen, gegen den Bedarf, die öffentliche Ordnung und nationale Sicherheit zu schützen, zu beurteilen. Die Gerichte müssen daher, bevor sie die Öffentlichkeit von einem bestimmten Verfahrensgang ausschließen, überlegen, ob ein solcher Auschluss unter den besonderen Umständen notwendig ist, um ein öffentliches Interesse zu schützen, und diese Maßnahme auf das beschränken, was absolut notwendig ist, um das verfolgte Ziel zu erreichen.

Wie schon bemerkt, trifft es im vorliegenden Fall zwar zu, dass die Abhaltung von Verhandlungen in camera nicht aus einem allgemeinen Grundsatz resultierte, sondern aus einer Entscheidung des OVwG im speziellen Fall der Bf. Dennoch ist festzustellen, dass das OVwG seine Entscheidung allein darauf gründete, dass die Fallakte geheime Dokumente enthielt. Es berücksichtigte nicht, ob die betreffenden Dokumente mit dem Gegenstand des Verfahrens in Verbindung standen und daher unentbehrlich gewesen sein könnten, noch fasste es Maßnahmen zum Ausgleich der Wirkungen des Fehlens einer öffentlichen Verhandlung ins Auge, wie etwa eine Beschränkung des Zugangs nur auf bestimmte Dokumente oder die Abhaltung von nur einigen Sitzungen in camera, damit die Einschränkung auf das Maß beschränkt blieb, das notwendig war, um die Vertraulichkeit der fraglichen Dokumente zu wahren. Diese Situation scheint von der automatischen Anwendung von Vorschriften herzurühren, wonach Gerichtsverfahren bereits dann als geheim einzustufen sind, wenn eines der Dokumente in der Akte als geheim eingestuft ist. Nach dem nationalen Recht ist das zuständige Gericht nicht verpflichtet, umfassende und spezielle Gründe für den Ausschluss der Öffentlichkeit im betreffenden Fall anzugeben. Unter diesen Umständen ist der GH nicht überzeugt, dass es im vorliegenden Fall absolut notwendig war, die Öffentlichkeit auszuschließen, um die Vertraulichkeit der betreffenden Dokumente zu wahren.

Was letztlich die Natur des Verfahrens anbelangt, die in bestimmten Fällen den Verzicht auf eine Verhandlung oder eine öffentliche Verhandlung rechtfertigen kann, befindet der GH nicht, dass die im gegenständlichen Verfahren diskutierten Gegenstände, nämlich die gegen eine Polizeibeamtin für Handlungen in Verbindung mit Beschuldigungen der Korruption verhängte Disziplinarstrafe, von einer hoch technischen Natur waren und keiner der Kontrolle durch die Öffentlichkeit ausgesetzten Verhandlung bedurften. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil in den betreffenden Verfahren keine öffentliche Verhandlung erfolgte (einstimmig).

#Keine Öffentlichkeit der Urteile

Diese Beschwerde ist ebenfalls weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher auch für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Der GH hat festgestellt, dass in jedem Fall die Form der Veröffentlichung, die für das Urteil nach dem nationalen Recht des betreffenden Staates vorzusehen ist, im Lichte der besonderen Merkmale der betreffenden Verfahren und unter Bezugnahme auf Ziel und Zweck von Art. 6 Abs. 1 EMRK beurteilt werden muss.

Im vorliegenden Fall bemerkt der GH, dass das OVwG aufgrund der Einstufung des Falles der ErstBf. als geheim diesen nicht nur in camera untersuchte, sondern die ergangenen Urteile auch nicht öffentlich verkündete oder in seiner Kanzlei oder auf seiner Internetseite verfügbar machte; auch war es der ErstBf. selbst unmöglich, eine Kopie zu erhalten. Die Akte wurde erst nach Ablauf der gesetzlichen Frist im Juli 2009 freigegeben, also mehr als fünf Jahre nach der Fällung des Urteils des OVwG.

Folglich wurden die Urteile des OVwG im Fall der Bf. nicht öffentlich verkündet und waren für die Öffentlichkeit für eine beträchtliche Zeit nicht verfügbar. Der GH hatte bereits früher die Gelegenheit festzustellen, dass dort, wo ein Prozess den Umgang mit geheimer Information mit sich bringt, Techniken existieren, um ein gewisses Maß an öffentlichem Zugang zu den erfolgten Entscheidungen zu gewähren, dabei aber die Vertraulichkeit von geheimen Informationen aufrechtzuerhalten. Einige Konventionsstaaten haben solche Mechanismen vorgesehen und sich zum Beispiel dafür entschieden, nur den Urteilstenor zu veröffentlichen oder solche Urteile teilweise als geheim einzustufen. Der GH ist nicht überzeugt davon, dass der Schutz der in der Akte enthaltenen vertraulichen Information es im vorliegenden Fall notwendig machte, die Veröffentlichung der Urteile insgesamt zu beschränken, und schon gar nicht für eine derart beträchtliche Zeitspanne. Zudem resultierten die Beschränkungen für die Veröffentlichung des Urteils – wie der GH oben zur Abhaltung einer öffentlichen Verhandlung bemerkte – aus der automatischen Einstufung der gesamten Akte als geheim, ohne dass die nationalen Gerichte eine Beurteilung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme im konkreten Fall vorgenommen hätten. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil die im vorliegenden Fall ergangenen Urteile nicht öffentlich gemacht wurden (einstimmig).

Fairness der Verfahren

Die ErstBf. rügte unter Art. 6 EMRK weiters, dass es ihr nicht – wie von dessen Abs. 3 lit. c vorgesehen – möglich gewesen wäre, sich durch den Anwalt ihrer Wahl vertreten zu lassen. Der GH hält dazu fest, dass die bezeichnete Garantie nur für Personen gilt, die einer »strafrechtlichen Anklage« ausgesetzt sind. Da er bereits oben festgestellt hat, dass Art. 6 EMRK unter seinem strafrechtlichen Aspekt im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da es hier um die Entlassung der ErstBf. aus disziplinären Gründen ging und nicht um strafrechtliche Beschuldigungen, ist dieser Teil der Beschwerde daher ratione materiae mit der Konvention unvereinbar und muss als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Die ErstBf. verweist daneben darauf, dass das OVwG nicht unabhängig und unparteiisch im Sinne des Art. 6 EMRK gewesen sei, als es entschieden habe, den Prozess auf Antrag des Innenministeriums als geheim einzustufen. Der GH befindet, dass die bloße Tatsache, dass ein Gericht eine für den Bf. ungünstige Entscheidung trifft, nicht für sich die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Gerichts in Zweifel ziehen kann. Zudem vermag der GH keinen Beweis dafür zu erkennen, dass das OVwG im vorliegenden Fall nicht unabhängig und unparteiisch gewesen wäre. Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und muss ebenfalls als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Außerdem rügte die ErstBf. eine Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit, da ihre Anwältin die Akte nicht konsultieren konnte, sehr wohl aber der Vertreter des Ministeriums. Ihre Anwältin musste sich zudem einer Prüfung ihrer Zuverlässigkeit durch das Ministerium unterziehen, womit der Gegenpartei ein Vetorecht im Bezug auf die Anwaltswahl der ErstBf. zugekommen sei. Der Vertreter des Ministeriums hätte weiters nicht um Genehmigung ansuchen müssen, um Zugang zu den vertraulichen Informationen zu erhalten.

Der GH beobachtet dazu zunächst, dass die Unmöglichkeit für die ZweitBf., die Fallakte zu konsultieren, im vorliegenden Fall aus ihrer Weigerung resultierte, um eine Genehmigung für den Zugang zu geheimen Informationen zu ersuchen, was sie angesichts des Vorhandenseins von vertraulichen Dokumenten in der Akte verpflichtet gewesen wäre zu tun.

Dass sich ein Anwalt einer Sicherheitskontrolle unterziehen muss, bevor er im Rahmen eines Gerichtsverfahrens Zugang zu Informationen erhält, welche die Staatssicherheit betreffen, scheint für sich nicht den Grundsatz der Waffengleichheit oder allgemeiner die Fairness des Verfahrens zu verletzen. Die Behauptung der ErstBf., der Vertreter des Ministeriums hätte Zugang zur Akte gehabt, ohne um Genehmigung ansuchen zu müssen, scheint durch die dem GH verfügbare Information nicht bestätigt zu werden.

Was das Argument der ErstBf. betrifft, dass dem Innenministerium de facto ein Vetorecht hinsichtlich der Wahl ihres Anwalts zugekommen sei, legt nichts nahe, dass ihrer Anwältin die Genehmigung verweigert worden wäre, wenn sie darum angesucht hätte. Die diesbezüglichen Behauptungen der ErstBf. scheinen daher auf Spekulationen zu beruhen.

Der GH beobachtet außerdem, dass die ErstBf. einen anderen Anwalt beauftragen hätte können, als sich ihre Anwältin weigerte, sich einer Sicherheitskontrolle zu unterziehen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die ErstBf. diesbezüglich gehindert worden wäre.

Letztlich behauptete die ErstBf., die sich selbst vertrat, nachdem ihre Anwältin die Sicherheitskontrolle verweigert hatte, nicht, vor oder nach den Verhandlungen keinen ausreichenden Zugang zur Akte gehabt zu haben, um es ihr zu ermöglichen, ihre Verteidigung vorzubereiten, oder dass die andere Partei einen Vorteil gehabt hätte. Dieser Teil der Beschwerde ist daher gleichfalls offensichtlich unbegründet und muss ebenfalls als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK

In zum vorliegenden Fall vergleichbaren Fällen hat der GH festgestellt, dass es weder Zweck noch Folge von Art. 6 Abs. 2 EMRK ist, dass Disziplinarbehörden daran gehindert werden, gegen einen Beamten für Handlungen Sanktionen zu verhängen, wegen derer dieser in einem Strafverfahren angeklagt ist, wenn diese Handlungen ausreichend nachgewiesen werden. Dennoch kann es dann, wenn eine nationale Entscheidung über die Disziplinarsanktionen eine Aussage enthält, die dem Betroffenen eine strafrechtliche Verantwortlichkeit unterstellt, zu einer Frage unter Art. 6 Abs. 2 EMRK kommen.

Im vorliegenden Fall bemerkt der GH, dass die ErstBf. nicht aus disziplinären Gründen entlassen wurde, weil sie eine Straftat begangen hatte, sondern wegen Handlungen, die – obwohl sie auch alle Bestandteile einer Straftat enthielten – ein berufliches Fehlverhalten darstellten. Die Gegebenheiten wurden vor den Verwaltungsgerichten ausreichend festgestellt. Diese stützten ihre Entscheidungen nicht auf die im Strafverfahren erfolgten Feststellungen. Die ErstBf. hatte auch die Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt der Behauptungen anzufechten. Nichts zieht zudem in den Feststellungen oder der Sprache der Entscheidungen der Verwaltungsgerichte die Unschuld der ErstBf. in Zweifel oder würde andeuten, dass sie der Straftaten schuldig wäre, deren sie im Strafverfahren angeklagt war. Weiters nahm das OVwG auf dieses Verfahren nur Bezug, als es auf das Vorbringen der ErstBf. antwortete und befand, dass die Verwaltungsbehörde nicht verpflichtet war, auf den Ausgang des Strafverfahrens zu warten, bevor sie disziplinarrechtliche Sanktionen verhängte. Diese Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und muss als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Der GH bemerkt, dass – sofern die ZweitBf. sich über die Verpflichtung beschwerte, einen Fragebogen ausfüllen zu müssen, um die Genehmigung erhalten zu können, die sie für die Konsultation der Akte ihrer Klientin brauchte – aus den Fakten klar hervorgeht, dass das OVwG die Verhandlung im Fall der ErstBf. vom 28.5.2002 verschob, damit die ZweitBf. um die nötige Genehmigung ansuchen konnte. Als sich die ZweitBf. weigerte, sich der Sicherheitskontrolle zu unterziehen, entschied das Gericht am 25.6.2002, die Untersuchung des Falles ohne die ZweitBf. fortzusetzen. Die ZweitBf. schien der Ansicht zu sein, dass im nationalen Recht kein Rechtsmittel im Bezug auf ihre Beschwerde betreffend ihr Recht auf Achtung des Privatlebens existierte, und brachte diese Frage jedenfalls nicht vor den nationalen Gerichten vor. Die Zivilverfahren wegen der Entlassung der ErstBf. können zumindest nicht als Teil des normalen Verfahrens zur Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs im Bezug auf die Beschwerde der ZweitBf. unter Art. 8 EMRK angesehen werden.

Unter diesen Umständen befindet der GH, dass die Frage rund um das Erfordernis für die ZweitBf., den Sicherheitsfragebogen auszufüllen, endgültig durch die Anordnung des OVwG vom 25.6.2002 entschieden wurde und dass unter Annahme, dass es keine innerstaatlichen Rechtsmittel gab, die erschöpft werden mussten, die sechsmonatige Frist an diesem Tag zu laufen begann. Die Beschwerde wurde aber erst am 8.6.2004 eingebracht, ist daher verfristet und als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 2.400,– für immateriellen Schaden, € 1.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

B. und P./GB v. 24.4.2001 = ÖJZ 2002, 571

Moullet/F v. 13.9.2007 (ZE)

Belashev/RUS v. 4.12.2008

A. u.a./GB v. 19.2.2009 (GK) = NL 2009, 46

Welke und Bialek/PL v. 1.3.2011 = NL 2011, 70

Çelik (Bozkurt)/TR v. 12.4.2011

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.12.2013, Bsw. 20688/04

entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 448) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_6/Nikolova.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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