JudikaturJustizBsw16330/02

Bsw16330/02 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. Mai 2008

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Gülmez gegen die Türkei, Urteil vom 20.5.2008, Bsw. 16330/02.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 6 EMRK, Art. 8 EMRK - Besuchsverbot durch Disziplinarstrafe ohne rechtliches Gehör.

Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 3 EMRK (einstimmig).

Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig)

Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 7 und Art. 18 EMRK

(einstimmig).

Anordnung genereller Maßnahmen zur Umsetzung des Urteils nach Art. 46 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.000,- für immateriellen Schaden, € 1.500,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. verbüßt zur Zeit eine Gefängnisstrafe im Hochsicherheitsgefängnis Sincan in Ankara. Am 2.1.2001 befand die Disziplinarkammer des Gefängnisses den Bf. für schuldig, Gefängniseinrichtung beschädigt zu haben, und entzog ihm – gestützt auf die Regelungen über die Verwaltung von Strafvollzugsanstalten und den Stafvollzug – für drei Monate das Recht, Besuch zu empfangen. Die Entscheidung wurde vom Staatssicherheitsgericht Ankara bestätigt, das sich dabei auf die Prozessakten stützte. Die Strafe wurde von 25.1. bis 25.4.2001 vollzogen.

Am 13.3.2001 verhängte die Disziplinarkammer wegen der Weigerung des Bf., sich von Gefängniswärtern durchsuchen zu lassen, und weil er Parolen ausgerufen hatte erneut ein Besuchsverbot für zwei Monate, das wiederum vom Staatssicherheitsgericht bestätigt wurde. Der vom Bf. dagegen erhobene Einspruch wurde vom Staatsanwalt abgewiesen und die Disziplinarstrafe vollstreckt.

Am 17.5.2001 entzog die Kammer dem Bf. wegen mehrerer Verstöße gegen seine Verpflichtungen als Häftling ein weiteres Mal für drei Monate das Recht, Besuch zu empfangen. Zwischenzeitlich trat das Gesetz Nr. 4675 in Kraft, das die Überprüfung der Entscheidungen der Disziplinarkammer durch den Strafvollzugsrichter anordnet. Diesem entsprechend wurde die Entscheidung vom 17.5. überprüft und bestätigt. Der Richter stützte sich dabei auf die Aktenlage. Die Strafe wurde von 31.7. bis 30.10.2001 vollstreckt.

Am 29.5.2001 erließ die Kammer wegen Beschädigung von Gefängniseinrichtung und Ausrufens von Parolen ein einmonatiges Verbot für den Bf., Besuch zu empfangen und Briefe zu senden oder zu erhalten. Auch dieses wurde vollstreckt, nachdem es vom Strafvollzugsrichter bestätigt und ein Einspruch des Bf. abgewiesen worden war.

Am 18.6.2001 sprach die Disziplinarkammer ein weiteres Mal ein Besuchsverbot für die Dauer von drei Monaten aus, weil der Bf. auf das Fenstergitter geklettert sei. Auch dieses Verbot wurde vom Vollzugsrichter bestätigt und dessen Entscheidung dem Bf. am 1.11.2001 zugestellt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf Gehör), Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege) und Art. 18 EMRK (Begrenzungen der Rechtseinschränkungen).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK:

Der Bf. behauptet, die Bedingungen, unter denen er seine Haft verbüßen musste, würden auf eine Verletzung von Art. 3 EMRK hinauslaufen. Er sei in einer Zelle in Isolationshaft gehalten worden.

Nach der Rechtsprechung des GH muss eine Misshandlung ein Mindestmaß an Schwere aufweisen, um unter Art. 3 EMRK zu fallen. Der GH hat immer wieder betont, dass das durch die vermeintliche Verletzungshandlung ausgelöste Leid und die Erniedrigung in jedem Fall über das bei legitimer Behandlung oder Strafe unvermeidliche Maß hinausgehen müssen. Freiheitsentziehende Maßnahmen können in vielen Fällen ein solches Element aufweisen. Deshalb muss der Staat dafür Sorge tragen, dass diese unter mit der Menschenwürde vereinbaren Bedingungen stattfinden, jedes über das Unvermeidbare hinausgehende Leid verhindert wird und das Wohl und die Gesundheit des Betroffenen angemessen gesichert sind.

Der GH hat bereits vergleichbare Beschwerden zurückgewiesen. Er kann im vorliegenden Fall keine besonderen Umstände erkennen, die eine unangemessene Behandlung aufzeigen und ein Abweichen von dieser Rechtsprechung erfordern würden.

Die Beschwerde ist in diesem Punkt nicht vertretbar und daher wegen offensichtlicher Unbegründetheit nach Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK für unzulässig zu erklären (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 6 EMRK und behauptet, die Disziplinarstrafen seien willkürlich verhängt worden, da ihm das Recht genommen worden sei, sich selbst vor den Behörden zu verteidigen.

1. Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK:

Im Disziplinarverfahren ging es nicht um eine strafrechtliche Anklage gegen den Bf. Daher stimmt der GH der Regierung zu, dass der strafrechtliche Aspekt von Art. 6 EMRK keine Anwendung findet. Jedoch muss geprüft werden, ob eine zivilrechtliche Angelegenheit vorliegt, da dem Bf. insgesamt für beinahe ein ganzes Jahr das Besuchsrecht entzogen wurde. Es stellt sich die Frage, ob eine Streitigkeit über einen vertretbaren innerstaatlichen Rechtsanspruch vorgelegen hat und ob dieser Anspruch ein zivilrechtlicher war.

Art. 6 EMRK ist anwendbar, wenn es sich um einen wirklichen und ernsthaften Streit über

zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen handelt. Dieser muss sich nicht unbedingt auf die Existenz des Anspruchs, sondern kann sich auch auf dessen Tragweite oder die Art seiner Ausübung beziehen. Der Ausgang des Verfahrens muss unmittelbar entscheidend für das fragliche Recht sein. Außerdem bezieht sich Art. 6 EMRK auf Streitigkeiten über Rechte, die in vertretbarer Weise einen innerstaatlichen, nicht notwendigerweise einen von der Konvention geschützten Anspruch gewähren.

Im konkreten Fall ermöglicht das innerstaatliche Recht Häftlingen, Rechtsmittel gegen Disziplinarstrafen zu ergreifen, womit der Bf. einen Rechtsanspruch hatte, die verhängten Strafen vor nationalen Gerichten anzufechten. Weiters stellt der GH fest, dass der Entzug des Besuchsrechts offensichtlich in die Sphäre der persönlichen Rechte des Bf. reicht und deshalb zivilrechtlicher Natur ist. Aus diesen Gründen ist Art. 6 EMRK anwendbar (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Mularoni und Richterin Tsotsoria).

2. Vereinbarkeit mit Art. 6 EMRK:

Die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen bildet einen der fundamentalen Grundsätze des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die Abhaltung in der Öffentlichkeit trägt dazu bei, ein faires Verfahren zu gewährleisten. Es besteht aber kein absolutes Recht auf eine öffentliche mündliche Verhandlung. Diese kann unter besonderen Umständen entfallen, z.B. wenn eine angemessene Klärung des Falles auf Grundlage der Akten und der schriftlichen Stellungnahmen der Parteien möglich ist. In diesem Punkt verweist der GH auf Art. 59 European Prison Rules, der bestimmt, dass Strafgefangene, gegen die eine Disziplinarstrafe verhängt wurde, die Möglichkeit haben sollten, sich selbst oder durch einen rechtlichen Beistand zu verteidigen, wenn die Gerechtigkeit dies erfordert.

Im vorliegenden Fall stellt der GH fest, dass nach den Regelungen über den Strafvollzug keine Disziplinarstrafe verhängt werden darf, solange nicht die Stellungnahme des Häftlings zu seiner Verteidigung aufgenommen wurde. Gemäß dem neu in Kraft getretenen Gesetz Nr. 4675 wurden die Rechtsmittel der Inhaftierten vom Strafvollzugsrichter und vom Assisengericht aber nur auf Grundlage der Akten überprüft. Somit fand im konkreten Fall keine öffentliche mündliche Verhandlung statt. Die Stellungnahme des Bf. fand nur vor der Disziplinarkammer Berücksichtigung. Außerdem gab es für den Bf. keine Möglichkeit, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen. Aus diesen Gründen konnte der Bf. das Verfahren gegen ihn nicht effektiv verfolgen. Es liegt somit eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Mularoni und Richterin Tsotsoria).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der Bf. bringt vor, der Entzug des Besuchsrechts für die Dauer von annähernd einem Jahr stelle eine Verletzung von Art. 8 EMRK dar.

1. Zulässigkeit von Art. 8 EMRK:

Dem Bf. wurde mittels mehrerer aufeinanderfolgender Disziplinarstrafen das Besuchsrecht für beinahe ein Jahr entzogen. Der GH meint, die Strafen sollten zusammen betrachtet und der Zeitpunkt der letzten Strafverhängung als maßgeblich für die Einhaltung der Beschwerdefrist herangezogen werden. Danach wurde die Beschwerde innerhalb der Frist von sechs Monaten erhoben. Die Frage über die Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges klärt der GH wegen des engen Zusammenhangs mit der Sache gemeinsam mit der Prüfung in der Hauptsache.

2. In der Sache selbst:

Häftlinge genießen grundsätzlich alle von der Konvention garantierten Rechte, abgesehen vom Recht auf persönliche Freiheit, wenn sich der gesetzlich vorgesehene Freiheitsentzug im Rahmen des Art. 5 EMRK hält. So steht ihnen etwa das Recht auf Achtung des Familienlebens und das Recht auf Briefverkehr zu. Jede Einschränkung dieser Rechte muss gerechtfertigt sein, auch wenn eine solche Rechtfertigung leicht in Sicherheitsüberlegungen gefunden werden kann, die sich unvermeidlich aus den Umständen der Haft ergeben.

Ein Eingriff in Art. 8 EMRK stellt nur dann keine Verletzung dar, wenn er gesetzlich vorgesehen ist, einem in Abs. 2 aufgelisteten legitimen Ziel entspricht und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, also verhältnismäßig zu den verfolgten Zielen ist. Im vorliegenden Fall stellen die Beschränkungen des Besuchsrechts jedenfalls einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens dar. Um festzustellen, ob dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen war, muss der GH die innerstaatliche Rechtslage zum Zeitpunkt des Eingriffs untersuchen. Der Begriff „gesetzlich vorgesehen" bezieht sich auf die Qualität der Rechtsgrundlage. Die Norm muss mit ausreichender Klarheit jegliches Ermessen der Behörden determinieren und die Art und Weise der Durchführung bestimmen, um ein willkürliches Vorgehen der Exekutive zu verhindern. Sie muss hinreichend bestimmt sein, damit der Einzelne die Umstände erkennen kann, unter denen die Behörden die umstrittene Maßnahme ergreifen können.

Im vorliegenden Fall basierte der Entzug des Besuchsrechts auf den Regelungen über den Strafvollzug, die kundgemacht und für den Bf. zugänglich waren. Das strafbare Verhalten und die damit verbundenen Strafen werden darin jedoch nicht genau determiniert. Nach Meinung des GH bleibt den Behörden dabei ein weiter Ermessensspielraum bezüglich der Verhängung von Disziplinarstrafen. Im Fall des Bf. wurde für annähernd ein Jahr ein Besuchsverbot verhängt. Der GH macht diesbezüglich auf die European Prison Rules aufmerksam, die vorsehen, dass keine Disziplinarstrafe die totale Versagung des familiären Kontakts beinhalten sollte.

Der GH ist nicht überzeugt, dass die Regelungen über den Strafvollzug im Jahr 2001 ausreichend determiniert waren, um einen angemessenen Schutz gegen einen unrechtmäßigen Eingriff der Behörden in das Recht des Bf. auf Familienleben zu gewährleisten. Er schließt daraus, dass der Eingriff auf einer Rechtsgrundlage basierte, die nicht der von der Konvention geforderten Qualität entsprach. Der GH muss nicht weiter prüfen, ob der Eingriff ein legitimes Ziel verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Die Einrede der Regierung wegen Nichtausschöpfung des Instanzenzuges ist zurückzuweisen. Es liegt daher eine Verletzung von Art. 8 EMRK vor (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Mularoni und Richterin Tsotsoria).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 und Art. 18 EMRK:

Der GH kann keine Anhaltspunkte für eine Verletzung dieser Artikel erkennen und weist die Beschwerde daher in diesem Punkt als offensichtlich unbegründet nach Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurück (einstimmig).

Zu Art. 46 EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile):

Nach Ansicht des GH beruht die Verletzung des Rechts des Bf. auf eine öffentliche mündliche Verhandlung auf einem aus der nationalen Rechtslage resultierenden Problem, das etliche Inhaftierte betraf. Mehrere diesbezügliche Beschwerden sind vor dem GH anhängig. Die obigen Tatsachen lassen auf ein systembedingtes Problem schließen. Obwohl das mit 1.1.2005 in Kraft getretene Gesetz Nr. 5275 über die Durchführung von Strafen und vorbeugenden Maßnahmen eine Liste von Unrechtshandlungen und damit verbundenen Disziplinarstrafen enthält, bleibt das Verfahren bei Disziplinarstrafen unverändert und ist es Inhaftierten daher weiterhin nicht möglich, sich selbst in eigener Person oder durch einen Rechtsbeistand zu verteidigen. Es ist Praxis des GH, in solchen Fällen systematische Probleme und ihre Ursachen aufzuzeigen, um so den Staaten bei der Urteilsumsetzung und dem Ministerkomitee bei deren Überwachung behilflich zu sein. Der GH meint, generelle Maßnahmen auf nationaler Ebene wären wünschenswert, um einen effektiven Schutz des Rechts auf Gehör zu gewährleisten. Daher soll der verantwortliche Staat seine Rechtsordnung mit den Prinzipien der European Prison Rules in Einklang bringen (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Mularoni und Richterin Tsotsoria).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 1.000,– für immateriellen Schaden, € 1.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Silver u.a./GB v. 25.3.1983, A/61, EuGRZ 1984, 147.

Ploski/PL v. 12.11.2002, NL 2002, 260.

Ezeh und Connors/GB v. 9.10.2003 (GK), NL 2003, 260. Hirst/GB (Nr. 2) v. 6.10.2005 (GK), NL 2005, 236.

Scordino/I (Nr. 1) v. 29.3.2006 (GK), NL 2006, 83; ÖJZ 2007, 382. Jussila/FIN v. 23.11.2006, NL 2006, 303.

Vilho Eskelinen u.a./FIN v. 19.4.2007 (GK), NL 2007, 94; ÖJZ 2008,

35.

Dickson/GB v. 4.12.2007 (GK), NL 2007, 313.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.5.2008, Bsw. 16330/02 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 142) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_3/Guelmez.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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