JudikaturJustizBsw15924/05

Bsw15924/05 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
01. März 2011

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Welke und Bialek gg. Polen, Urteil vom 1.3.2011, Bsw. 15924/05.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 13 EMRK - Eingeschränkter Zugang der Angeklagten zu den Akten.

Verbindung der Einrede der Regierung mit der Prüfung in der Sache (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK hinsichtlich der Fairness des Verfahrens (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich des Rechts auf eine öffentliche Verhandlung (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der öffentlichen Verkündung der Gerichtsurteile (mehrheitlich).

Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 13 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK und keine Notwendigkeit, die Einrede der Regierung zu prüfen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die beiden Bf. leben in Kielce, Polen. M. B. ist eine Freundin der ErstBf., die in den Niederlanden wohnhaft ist. Bei E. B. handelt es sich um eine Freundin der verstorbenen Mutter von M. B., die ebenfalls in Kielce lebt.

Im Jänner 2003 benachrichtigten die deutschen Behörden die polnische Kriminalpolizei über ein Paket, das in Brasilien aufgegeben worden war, in dem sich Kokain befinden solle. Adressiert war das Paket an E. B. Der Oberste Polizeikommandant bewilligte im Februar 2003 die Kontrolle des Pakets und ordnete eine verdeckte Ermittlung an. Die Kriminalpolizei fing das Paket ab und entdeckte darin 14 Plastikbeutel, deren Inhalt sich als Kokain herausstellte. Die Polizeibeamten ersetzten die Drogen durch ähnlich aussehende Substanzen und plazierten offenbar ein Aufnahmegerät in dem Paket.

Als E. B. das Paket am 6.2.2003 erhielt, informierte sie die ErstBf. darüber, dass sie ein Paket aus Brasilien erhalte habe, das M. B. gehöre. Die ErstBf. nahm das Paket an sich und öffnete es zu Hause mit ihrem Lebenspartner, dem ZweitBf. Beide verließen später die Wohnung, um M. B. von einer Telefonzelle aus anzurufen. Die ErstBf. versteckte den Inhalt des Pakets in ihrem Zimmer.

Am selben Tag wurden die beiden Bf. verhaftet. Die ErstBf. übergab der Polizei auf deren Anfrage den Inhalt des Pakets. Die Bf. wurden des Drogenhandels beschuldigt. Das Kreisgericht Kielce ordnete am 8.2.2003 die Untersuchunghaft der Bf. an. Am 23.6.2003 entschied das Bezirksgericht Kielce, sie auf Kaution freizulassen. Ein erheblicher Teil der erhobenen Beweise wurde als vertraulich eingestuft. Die Parteien konnte diese jedoch am 9.4.2003 einsehen.

Am 18.4.2003 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen die Bf. wegen illegalen Handels mit 971 Gramm Kokain. Ein Teil der Akte und die Begründung der Anklageschrift wurden unter Verschluss genommen. Der Staatsanwalt beantragte erfolgreich, dass die Bf. und ihre Anwälte Einsicht in die Begründung der Anklageschrift erhielten und die gesamte Verhandlung aufgrund der involvierten wichtigen Staatsinteressen in camera geführt werde. Die Anwälte der Bf. nahmen im Mai 2003 Einsicht. Den Bf., ihren Anwälten und dem Staatsanwalt wurde erlaubt, den Bericht über die Öffnung des Pakets, das Transkript der geheimen Tonaufnahmen und fotographische Beweismittel einzusehen.

Während sechs mündlicher Verhandlungen in camera wurden mehrere Zeugen vernommen, darunter auch in die Ermittlungen involvierte Polizeibeamte. Am Tag der fünften Verhandlung beantragte die ErstBf. erfolglos die Aufhebung der Entscheidung, die den Ausschluss der Öffentlichkeit vom Verfahren festlegte.

Am 15.10.2003 verurteilte das Bezirksgericht Kielce die Bf. zu Freiheits- und Geldstrafen, da sie der Teilnahme bei der Durchfuhr des Kokains durch Polen für schuldig befunden wurden. Das Bezirksgericht hatte die verdeckten Tonaufnahmen als Beweismittel ausgeschlossen, da diese nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von einem Gericht genehmigt worden waren. Das Urteil stützte sich auf die verbliebenen Beweise. Die schriftliche Begründung des Urteils wurde als vertraulich eingestuft, die Bf. wurden jedoch von ihrem Recht auf Einsichtnahme verständigt. Sie legten Berufung ein, ohne jedoch von diesem Recht Gebrauch zu machen.

Die Bf. rügten in der Berufung eine willkürliche Beweiswürdigung, eine Missachtung des Prinzips in dubio pro reo und eine Einschränkung ihrer Verteidigungsrechte, da der Zugang zu den unter Verschluss gehaltenen Beweismitteln sehr schwierig und es ihnen und ihren Anwälten nicht erlaubt gewesen sei, von den schriftlichen Begründungen des Urteils Kopien oder Notizen anzufertigen. Das Appellationsgericht beschloss, das Beweismaterial zu ergänzen und hielt eine mündliche Verhandlung in camera ab. Es änderte das Urteil der Unterinstanz ab, indem es die rechtliche Klassifizierung des Delikts zu einer "versuchten" Durchfuhr von Drogen umwandelte und die Strafen herabsetzte. Die wichtigsten Gründe für das Urteil wurden mündlich vorgetragen. Die schriftliche Urteilsbegründung konnte wiederum nur vertraulich eingesehen werden.

Bezüglich der Verletzung von Verfahrensrechten führte das Appellationsgericht vor allem aus, dass den Anwälten der Bf. das gleiche Einsichtsrecht zugekommen sei wie dem Staatsanwalt, wobei letzterer den gleichen Einschränkungen unterlegen habe. Die Beschwerde der Bf., dass die Verurteilung auf Basis der ausgeschlossenen Beweise erfolgt sei, lehnte das Appellationsgericht ab.

Der Kassationsantrag der Bf. beim Obersten Gericht blieb erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen die Verletzung ihrer Rechte unter verschiedenen Aspekten von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren, öffentliche Verkündung des Urteils) und unter Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK – Fairness des Verfahrens

Die Bf. beschweren sich darüber, dass sie aufgrund rechtswidrig erlangter Beweise verurteilt worden seien, obwohl diese vom Bezirksgericht ausgeschlossen worden waren. Außerdem seien ihre Verteidigungsrechte gravierend beeinträchtig worden, da sie nur eingeschränkten Zugang zu den Akten und den schriftlichen Begründungen der Urteile erhalten hätten und es ihnen nicht erlaubt gewesen sei, Notizen zu deren Inhalt zu machen.

1. Zur Zulässigkeit

Die Regierung rügt, die Bf. hätten den nationalen Instanzenzug bezüglich des beschränkten Zugangs zu den Akten nicht ausgeschöpft, da sie den Verfassungsgerichtshof anrufen hätten können. Der GH merkt an, dass diese Einrede mit seinen Feststellungen in Hinblick auf die Fairness des Verfahrens zusammenhängt, und verbindet sie daher mit der diesbezüglichen meritorischen Prüfung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig). Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen Gründen unzulässig und wird daher für zulässig erklärt (einstimmig).

2. In der Sache

Art. 6 EMRK enthält keine Regeln in Bezug auf die Zulässigkeit von Beweisen, da dies vorrangig Sache der nationalen Gesetzgebung ist. Es ist daher prinzipiell nicht Aufgabe des GH, zu entscheiden, welche Art von Beweisen zulässig ist. Es ist vielmehr die Frage zu beantworten, ob das Verfahren als Ganzes – und somit auch die Art und Weise, wie Beweise erlangt wurden – fair war. In diesem Rahmen ist auch zu beurteilen, ob die Verteidigungsrechte respektiert wurden. Da die in Art. 6 Abs. 3 EMRK enthaltenen Anforderungen in Bezug auf Verteidigungsrechte einen speziellen Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellen, wird der GH die Beschwerdepunkte unter diesen beiden Bestimmungen zusammen prüfen.

Die durch die verdeckten Tonaufnahmen erlangten Beweise wurden vom Bezirksgericht ausgeschlossen, da die rechtzeitige Genehmigung durch ein Gericht nicht vorlag. Das Appellationsgericht lehnte die Beschwerde über den Umstand, dass unzulässige Beweise am Beginn des Verfahrens vorgebracht worden seien, überzeugend ab. Es stellte fest, dass die Tonaufnahmen nicht Teil der Beweise seien, auf die sich die Verurteilung stützte. Die Bf. selbst gaben zu, dass die Aufnahmen keinen belastenden Inhalt aufwiesen. Das Vorgehen des Bezirksgerichts beeinträchtigte daher in keiner Weise die Fairness des Verfahrens. Selbst unter der Annahme, dass die ausgeschlossenen Beweise Einfluss auf die Verurteilung der Bf. hatten, wurde jede Unregelmäßigkeit durch das Appellationsgericht beseitigt, das sich in seiner Entscheidung in keiner Weise auf die strittigen Aufnahmen bezog und diese Beweise auch nicht aufnahm. Aus diesen Gründen ist der GH überzeugt, dass das Recht der Bf. auf ein faires Verfahren durch die anfängliche Einbeziehung der verdeckten Tonaufnahmen in die Beweisaufnahme nicht beeinträchtigt wurde.

Bezüglich der Verletzung von Verteidigungsrechten stellt der GH fest, dass die Entscheidung der Gerichte, in verdeckten Ermittlungen erlangte Beweise unter Verschluss zu halten, nicht willkürlich oder ungerechtfertigt war. Es besteht ein öffentliches Interesse, derartig erlangte Beweise im Rahmen der Verfolgung von Drogendelikten geheim zu halten. Die Bf. und ihre Vertreter hatten Zugang zu allen Beweisen sowie Gelegenheit, die Beweismittel anzufechten. Der Umstand, dass die Bf. die Akten nur in der für Verschlusssachen zuständigen Gerichtskanzlei und unter den erwähnten Einschränkungen einsehen konnten, kann in den speziellen Umständen des Falls als zulässig unter Art. 6 Abs. 1 EMRK bezeichnet werden, da dies "erforderliche" Einschränkungen der Verteidigungsrechte im Sinn dieser Bestimmung waren. Die Zulässigkeit der Einschränkungen, einschließlich des Verbots, Notizen über den Inhalt der vertraulichen Beweismittel anzufertigen, wurde des Weiteren vom Appellationsgericht geprüft, das keine Verletzung von Verteidigungsrechten feststellte. Der GH erachtet es außerdem für maßgebend, dass Verteidigung und Anklage den gleichen Einschränkungen unterlagen.

Der GH betont jedoch, dass sich seine Entscheidung lediglich auf die besonderen Umstände des vorliegenden Falls beschränkt, da ein Verbot, Notizen anzufertigen und sich auf diese zu stützen, zu Unfairness führen kann, auch wenn dies für beide Seiten gilt. Es würde der Fairness Genüge getan, wenn ein Strafverteidiger Notizen anfertigen dürfte, die er nach der Verhandlung der Gerichtskanzlei aushändigt. In diesem Zusammenhang kann der GH nur auf die vom Appellationsgericht erwähnte Möglichkeit hinweisen, in dieser Hinsicht den Verfassungsgerichtshof anzurufen. Die Bf. haben von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht.

Aufgrund der Feststellung, dass im vorliegenden Fall die Fairness des Verfahrens nicht beeinträchtigt wurde, sieht der GH keine Notwendigkeit, die Einrede der Regierung bezüglich der Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs zu prüfen (einstimmig).

Das Verfahren war in seiner Gesamtheit fair, sodass keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK festzustellen ist (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Bratza).

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK – Recht auf ein öffentliches Verfahren

Die Bf. bringen vor, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit von den Verhandlungen nicht "erforderlich" iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK gewesen sei.

Die teilweise oder gänzliche Abhaltung von Verhandlungen in camera ist nur zulässig, wenn dies unter den Umständen des Einzelfalls unbedingt erforderlich ist. Vorliegend wurde die gesamte Verhandlung in camera abgehalten, wobei der Anwalt der ErstBf. keinen Einspruch erhob und jener des ZweitBf. die Entscheidung dem Gericht überließ. Das Bezirksgericht begründete seine Entscheidung zwar nicht genauer, der GH geht jedoch davon aus, das dies aufgrund der Notwendigkeit erfolgte, bestimmte Polizeimethoden der Ermittlung geheim zu halten. Das Appellationsgericht entschied ebenso und gab dabei an, die Verhandlung in camera sei nötig, da vertrauliche Beweismittel geprüft würden. Die Gerichte konnten begründet annehmen, dass eine öffentliche Verhandlung »die Interessen der Rechtspflege« iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK beeinträchtigen würde.

In allen Verhandlungen – außer der ersten – wurden vertrauliche Beweismittel geprüft bzw. Polizeibeamte bezüglich der verdeckten Ermittlungen befragt. Entgegen der Meinung der Bf. bemerkt der GH, dass nur ein Teil der vertraulichen Beweismittel im Zuge des Verfahrens ausgeschlossen wurde. Das Vorliegen vertraulicher Informationen allein rechtfertigt zwar nicht den automatischen Ausschluss der Öffentlichkeit, vorliegend war dies jedoch aufgrund der vertraulichen Beweismittel und des gerechtfertigten Interesses des Staates, Drogendelikte zu verfolgen, nötig. Des Weiteren war der Ausschluss der Öffentlichkeit durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, Ermittlungsmethoden der Polizei geheim zu halten und Aussagen von Polizeibeamten zu hören, die an den verdeckten Ermittlungen teilgenommen haben. Zuzüglich wurden den Bf. keine Beweismittel vorenthalten, das Verfahren war fair und die Anwälte der Bf. erhoben keinen Einspruch gegen die Verhandlung in camera. Der Ausschluss der Öffentlichkeit war daher "erforderlich".

Gemäß der Strafprozessordnung hat der Angeklagte außerdem das Recht, eine Vertrauensperson zu benennen, die an der Verhandlung in camera teilnehmen kann. Die Bf. machten von diesem Recht jedoch keinen Gebrauch.

Die Beschwerde ist offensichtlich unbegründet und wird gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen (einstimmig).

III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK – öffentliche Verkündung

Die Bf. rügen, dass die Entscheidungen des Bezirksgerichts und des Appellationsgerichts nicht öffentlich verkündet wurden.

Der GH hat festgestellt, dass es gerechtfertigt war, die Öffentlichkeit von den Verhandlungen auszuschließen. Gemäß der Strafprozessordnung kann in solchen Situationen ein Urteil auch in camera mündlich verkündet werden. Die rechtswirksamen Teile der Entscheidungen wurden außerdem öffentlich verkündet. Die Beschwerde wird wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK für unzulässig erklärt (mehrheitlich).

IV. Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK

Die Bf. rügen das Fehlen eines effektiven Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung der Gerichte, die Öffentlichkeit von den Verhandlungen auszuschließen.

Da die Beschwerde bezüglich des Ausschlusses der Öffentlichkeit für unzulässig erklärt wurde, haben die Bf. keinen "vertretbaren Anspruch", der für eine Geltendmachung dieser Konventionsbestimmung nötig wäre. Die Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und wird gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK für unzulässig erklärt (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Matyjek/PL v. 24.4.2007.

Gäfgen/D v. 1.6.2010 (GK), NL 2010, 173; EuGRZ 2010, 417.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 1.3.2011, Bsw. 15924/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 70) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_2/Welke und Bialek.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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