JudikaturJustizBsw140/10

Bsw140/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
04. September 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Trabelsi gg. Belgien, Urteil vom 4.9.2014, Bsw. 140/10.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 34 EMRK - Auslieferung bei drohender lebenslanger Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Entlassung.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 34 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der weiteren behaupteten Verletzungen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 60.000,– für immateriellen Schaden, € 30.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde am 30.9.2003 vom Brüsseler Gericht erster Instanz wegen des Versuchs eines Sprengstoffanschlags auf einen Militärstützpunkt, Urkundenfälschung und krimineller Verschwörung zum Angriff auf Personen und Eigentum zu zehn Jahren Haft verurteilt. Diese Verurteilung wurde vom Berufungsgericht Brüssel am 9.6.2004 bestätigt.

Im Anschluss an seine bis 13.9.2011 verbüßte Strafe blieb der Bf. wegen zwei weiterer, 2007 erfolgter Verurteilungen bis 23.6.2012 in Haft.

Im April 2008 beantragten die USA die Auslieferung des Bf., dem in einer Anklage eines US-Gerichts insbesondere zur Last gelegt wurde, an einer Verschwörung zur Tötung von US-Bürgern im Ausland beteiligt gewesen zu sein und eine ausländische terroristische Organisation unterstützt zu haben. Er habe geplant, zusammen mit Mitgliedern der Al-Kaida in Europa Sprengstoffanschläge auf Einrichtungen zu verüben, die von Einrichtungen der USA benutzt wurden. In einer weiteren diplomatischen Note versicherten die US-Behörden, dass der Bf. nicht vor einer Militärkommission angeklagt und ausschließlich in zivilen Einrichtungen innerhalb der USA angehalten würde.

Das Gericht erster Instanz von Nivelles erklärte den in den USA ausgestellten Haftbefehl am 19.11.2008 für vollstreckbar, schränkte ihn allerdings auf jene Straftaten ein, für die der Bf. nicht bereits in Belgien verurteilt worden war. Die Anklagekammer des Berufungsgerichts Brüssel bestätigte diese Entscheidung. Eine Berufung an den Kassationshof wurde am 24.6.2009 abgewiesen. In der Begründung verneinte das Gericht die vom Bf. behauptete Gefahr der Verhängung einer nicht herabsetzbaren lebenslangen Freiheitsstrafe, da es wegen einer unrichtigen Auskunft des belgischen Bundesanwalts irrtümlich davon ausging, dass die ihm vorgeworfenen Delikte nicht mit lebenslanger Haft bedroht wären.

Daraufhin teilte das US-Justizministerium den belgischen Behörden mit, dass für zwei der dem Bf. zur Last gelegten Delikte sehr wohl eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt werden könnte und gegebenenfalls eine vorzeitige Entlassung ausgeschlossen wäre.

In einer neuen Stellungnahme erklärte die Anklagekammer des Berufungsgerichts Brüssel die Auslieferung unter der Voraussetzung für zulässig, dass der Bf. nicht zum Tod verurteilt und im Fall der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe eine Umwandlung der Strafe möglich sein müsse. Nach einer weiteren diplomatischen Note vom 10.8.2010, wonach eine lebenslange Freiheitsstrafe gegebenenfalls vom Präsidenten der USA im Gnadenweg herabgesetzt werden könnte, gestattete der Justizminister per Dekret vom 23.11.2011 die Auslieferung des Bf. an die USA.

Der Conseil d’Etat wies das dagegen gerichtete Rechtsmittel am 23.9.2013 ab. Er verneinte eine drohende Verletzung von Art. 3 EMRK, weil eine über den Bf. verhängte Freiheitsstrafe gegebenenfalls de jure und de facto herabsetzbar sein würde.

Bereits am 6.12.2011, dem Tag der Zustellung des Dekrets des Justizministers, beantragte der Bf. beim GH die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme nach Art. 39 VerfO. Noch am selben Tag empfahl der GH der belgischen Regierung, den Bf. nicht an die USA auszuliefern. Die Regierung beantragte wiederholt die Aufhebung der Maßnahme, was der GH aber ablehnte.

Im Anschluss an die Verbüßung der Haftstrafen wurde der Bf. am 24.6.2012 in Auslieferungshaft genommen. Wiederholte Anträge auf Entlassung blieben erfolglos.

Am 3.10.2013 wurde der Bf. zu einem Militärflughafen gebracht, wo er von Beamten des FBI übernommen und in die USA gebracht wurde. Der Bf. befindet sich derzeit in einem Gefängnis in Virginia in Einzelhaft.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet insbesondere eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe) und Art. 34 EMRK (Individualbeschwerderecht).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

(84) Der Bf. bringt vor, die Entscheidung [...], ihn den USA zu übergeben, habe Art. 3 EMRK verletzt.

Zur Zulässigkeit

(85) [...] Die Regierung erhob eine Einrede, wonach die Beschwerde wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe unzulässig wäre. Sie behauptet, die Beschwerde wäre offensichtlich verfrüht gewesen, weil sie am 23.12.2009 und damit vor Abschluss des Verfahrens über die Beantwortung des Auslieferungsersuchens erhoben wurde. [...]

(90) Wie der GH feststellt, beschwert sich der Bf. über das am 24.6.2009 ergangene Urteil des Kassationshofs, mit dem seine Berufung gegen die Zulassung der Vollstreckung des von den US-Gerichten ausgestellten Haftbefehls abgewiesen worden war. Dies war eine endgültige Entscheidung, die nicht angefochten werden konnte.

(91) Die Situation ist insofern eigenartig, als die Gerichte in der Phase der gerichtlichen Vollstreckung nicht über die Auslieferung selbst entscheiden, die eine Angelegenheit der Exekutive unter der Kontrolle des Conseil d’Etat ist. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Entscheidungen in der Phase der gerichtlichen Vollstreckung nicht zu Beschwerden nach der Konvention führen können. Dementsprechend brachte der Bf. vor dem Kassationshof vor, die Vollstreckung des in den USA ausgestellten Haftbefehls wäre aus Sicht des Art. 3 EMRK problematisch. Später brachte er dieselben Argumente vor dem GH vor.

(92) Der GH erachtet diese Faktoren als ausreichend für die Schlussfolgerung, dass die Beschwerde nicht verfrüht war und die Einrede der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückzuweisen ist. [...]

(93) Überdies stellt der GH fest, dass dieser Teil der Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(94) Der Bf. bringt vor, seine Auslieferung an die USA hätte ihn einer mit Art. 3 EMRK unvereinbaren Behandlung ausgesetzt, weil ihm eine lebenslange Gefängnisstrafe drohe, die de facto nicht herabsetzbar sei. Im Fall seiner Verurteilung hätte er daher keine Aussicht, jemals aus der Haft entlassen zu werden.

Grundsätze zur lebenslangen Freiheitsstrafe

(112) Die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe über einen erwachsenen Straftäter ist als solche nicht unvereinbar mit Art. 3 EMRK oder einem anderen Artikel der Konvention, vorausgesetzt sie ist nicht grob unverhältnismäßig. Der GH hat jedoch festgestellt, dass die Verhängung einer nicht reduzierbaren lebenslangen Strafe über einen Erwachsenen ein Problem unter Art. 3 EMRK aufwerfen kann.

(113) Der letztgenannte Grundsatz bringt zwei weitere mit sich. Zunächst steht Art. 3 EMRK einer praktischen vollen Verbüßung lebenslanger Freiheitsstrafen nicht entgegen. Was Art. 3 verbietet ist, dass eine lebenslange Strafe de jure und de facto nicht herabsetzbar ist. Zweitens versucht der GH [...] festzustellen, ob der Gefangene irgendeine Aussicht auf Entlassung hat. Wo das innerstaatliche Recht die Möglichkeit einer Überprüfung der Strafe mit der Aussicht auf Umwandlung, Ermäßigung oder Beendigung der Haft oder auf bedingte Entlassung vorsieht, reicht dies aus, um Art. 3 EMRK zu entsprechen.

(114) Bis vor kurzem vertrat der GH die Ansicht, dass die bloße Möglichkeit einer Anpassung einer lebenslangen Haftstrafe ausreichend wäre, um den Anforderungen von Art. 3 EMRK zu genügen, [...] selbst wenn eine solche Entscheidung nur im Ermessen des Staatsoberhaupts lag [...].

(115) In Vinter u.a./GB unterzog der GH das Problem, wie zu entscheiden sei, ob in einem bestimmten Fall eine lebenslange Freiheitsstrafe als herabsetzbar angesehen werden kann, einer Neubewertung. [...] Er führte aus, dass eine lebenslange Haftstrafe, um als herabsetzbar angesehen zu werden, einer Überprüfung unterworfen sein müsse, die es den innerstaatlichen Behörden gestatte zu erwägen, ob irgendwelche Änderungen im Leben des Gefangenen so bedeutend wären und solche Fortschritte auf dem Weg der Rehabilitation gemacht wurden, dass eine fortgesetzte Freiheitsentziehung nicht länger mit legitimen Strafzwecken gerechtfertigt werden könnte. Zudem erklärte der GH zum ersten Mal, dass ein zu lebenslanger Haft verurteilter Gefangener von Anfang an berechtigt wäre zu wissen, was er tun müsse, um für eine Entlassung in Betracht gezogen zu werden und unter welchen Bedingungen diese erfolgen könne, einschließlich der Frage, wann eine Überprüfung seiner Strafe stattfinden würde oder beantragt werden könne. Wo das innerstaatliche Recht keinen Mechanismus oder keine Möglichkeit zur Überprüfung einer lebenslangen Freiheitsstrafe vorsieht, ergibt sich daher die Unvereinbarkeit mit Art. 3 EMRK aus diesem Grund schon im Moment der Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe und nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt der Inhaftierung.

Grundsätze zur Auslieferung von Fremden

(116) Nach ständiger Rechtsprechung ist der Schutz vor einer durch Art. 3 EMRK verbotenen Behandlung absolut. Die Auslieferung einer Person durch einen Konventionsstaat kann Probleme unter dieser Bestimmung aufwerfen und somit die Verantwortlichkeit des betroffenen Staates begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Person im Fall ihrer Auslieferung an den ersuchenden Staat die reale Gefahr droht, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterzogen zu werden. [...]

Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall

(121) Der Bf. wurde an die USA ausgeliefert, wo er wegen von Al-Kaida inspirierten terroristischen Handlungen strafrechtlich verfolgt wird. Im Fall seiner Verurteilung droht ihm eine lebenslange Freiheitsstrafe. Diese Höchststrafe liegt insofern im Ermessen des Richters, als er auch eine mildere Strafe verhängen kann [...].

(122) Die vom GH zu beantwortende Frage ist, ob die Auslieferung des Bf. angesichts des eingegangenen Risikos gegen Art. 3 EMRK verstoßen hat. Der GH hat sich in der Vergangenheit in einigen Fällen mit der Frage des Risikos einer lebenslangen Haftstrafe befasst. Er hat in jedem Fall versucht, anhand der vom ersuchenden Staat gegebenen diplomatischen Zusicherungen zu entscheiden, ob die Auslieferung der betroffenen Personen diese tatsächlich einem solchen Risiko aussetzte und ob gegebenenfalls die lebenslange Haft herabgesetzt werden konnte, so dass sie auf Entlassung hoffen konnten.

(123) Diese Frage wurde in den Fällen Harkins und Edwards/GB und Babar Ahmad u.a./GB erneut aufgeworfen. [...]

(124) Der GH bezog sich darin auf seine Rechtsprechung zur lebenslangen Freiheitsstrafe im innerstaatlichen Kontext, wie er sie in seinem Urteil Kafkaris/CY dargelegt hatte. Demnach wirft eine nicht zwingende Verurteilung zu lebenslanger Haft ohne Aussicht auf Entlassung auf Bewährung – solange sie nicht grob unverhältnismäßig ist – nur dann ein Problem unter Art. 3 EMRK auf, wenn aufgezeigt werden kann, dass die fortgesetzte Inhaftierung des Bf. nicht länger mit einem legitimen Strafzweck gerechtfertigt und die Strafe de facto und de jure nicht herabgesetzt werden kann.

(125) Der GH stellte in der Folge fest, dass die Bf., die noch nicht verurteilt worden waren, geschweige denn eine [...] Strafe angetreten hatten, nicht aufgezeigt hatten, dass ihre Inhaftierung im Fall ihrer Auslieferung an die USA keinem legitimen Strafzweck dienen würde. Er erachtete es als noch weniger gewiss, dass sich die US-Behörden, sollte dieser Punkt je erreicht sein, weigern würden, die verfügbaren Mechanismen zur Herabsetzung der Strafen anzuwenden. Der GH kam daher zum Ergebnis, dass die Gefahr der Verhängung einer lebenslangen Haftstrafe der Auslieferung nicht entgegenstand.

(126) Im vorliegenden Fall befand sich der Bf. vor seiner Auslieferung in einer sehr ähnlichen Situation wie die Bf. im Fall Babar Ahmad u.a./GB.

(127) In Übereinstimmung mit dem in diesem Fall gewählten Zugang erachtet der GH, dass angesichts der Schwere der terroristischen Handlungen, derer der Bf. angeklagt ist, und der Tatsache, dass die Verurteilung erst nach Berücksichtigung aller relevanten mildernden und erschwerenden Umstände durch das Gericht erfolgen kann, eine lebenslange Freiheitsstrafe nicht grob unverhältnismäßig wäre.

(128) Die belangte Regierung brachte vor [...], es gebe keine Rechtfertigung dafür, die Vereinbarkeit mit Art. 3 EMRK anhand der jüngeren, mit Vinter u.a./GB begründeten Rechtsprechung zu prüfen.

(129) Nach Ansicht der Regierung wäre zu berücksichtigen, dass der Bf. [...] noch nicht verurteilt worden sei und es daher unmöglich wäre zu entscheiden, ob der Zeitpunkt, zu dem seine Inhaftierung nicht länger gerechtfertigt wäre, jemals kommen würde. [...]

(130) Der GH muss dieses Argument zurückweisen, weil es darauf hinausläuft, das präventive Ziel des Art. 3 EMRK in Angelegenheiten der Auslieferung Fremder zu unterlaufen [...]. Außerdem muss der GH das dem Bf. drohende Risiko nach Art. 3 EMRK ex ante – im vorliegenden Fall also vor seiner möglichen Verurteilung in den USA – einschätzen und nicht ex post facto, wie die Regierung vorschlägt.

(131) Die Aufgabe des GH besteht darin sich zu vergewissern, dass die Auslieferung des Bf. mit Art. 3 EMRK vereinbar war. Er muss erwägen, ob die dem Bf. drohende lebenslange Freiheitsstrafe die in seiner Rechtsprechung entwickelten Kriterien (siehe Z. 112-115) erfüllt.

(134) Der GH versteht die in der diplomatischen Note vom 10.8.2010 wiedergegebenen Vorschriften dahingehend, dass sie eine mögliche Entlassung auf Bewährung im Fall einer lebenslangen Freiheitsstrafe – egal ob ihre Verhängung zwingend (mandatory) ist oder im Ermessen liegt (discretionary) – nicht vorsehen. Er folgert aus diesen aber, dass mehrere Möglichkeiten zur Herabsetzung einer solchen Strafe bestehen. Die Strafe kann aufgrund einer beträchtlichen Zusammenarbeit des Gefangenen bei der Untersuchung seines Falls und der Verfolgung weiterer Personen herabgesetzt werden. Sie kann auch aus zwingenden humanitären Gründen reduziert werden. Zudem können Gefangene gemäß der Verfassung der USA eine Umwandlung ihrer Strafe oder eine Begnadigung durch den Präsidenten beantragen.

(135) Wie der GH feststellt, [...] gaben die US-Behörden nie eine Zusicherung ab, dass dem Bf. eine lebenslange Freiheitsstrafe erspart bleiben oder eine solche Strafe im Fall ihrer Verhängung mit einer Herabsetzung oder Umwandlung einhergehen würde. Er muss daher nicht prüfen, ob die [...] Zusicherungen ausreichend sind, um zu garantieren, dass der Bf. vor einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Strafe geschützt ist. [...]

(136) Der GH kommt nun zur zentralen Frage des vorliegenden Falls, die sich auf die Feststellung bezieht, [...] ob die Vorschriften der Gesetzgebung der USA über die Möglichkeiten einer Herabsetzung lebenslanger Freiheitsstrafen und über Begnadigungen durch den Präsidenten den Kriterien entsprechen, die er für die Beurteilung der Herabsetzbarkeit einer lebenslangen Freiheitsstrafe und deren Vereinbarkeit mit Art. 3 EMRK entwickelt hat.

(137) Um diese Frage zu beantworten, sind keine langen Abhandlungen notwendig. Zwar deuten die genannten Bestimmungen auf das Bestehen einer »Aussicht auf Entlassung« im Sinne des Urteils Kafkaris/CY hin, selbst wenn Zweifel über das tatsächliche Bestehen einer solchen Aussicht in der Praxis geäußert werden können. Allerdings entspricht keine der vorgesehenen Vorgangsweisen dem geforderten Überprüfungsmechanismus. Denn keine von ihnen verlangt von den innerstaatlichen Behörden, anhand objektiver, festgeschriebener Kriterien, die der Gefangene im Zeitpunkt der Verhängung seiner lebenslangen Freiheitsstrafe genau kennt, festzustellen, ob sich der Gefangene während der Verbüßung seiner Haft geändert und in einem solchen Maße Fortschritte gemacht hat, dass die fortgesetzte Inhaftierung nicht länger mit legitimen Strafzwecken gerechtfertigt werden kann.

(138) Unter diesen Umständen ist der GH der Ansicht, dass die lebenslange Freiheitsstrafe, deren Verhängung dem Bf. droht, nicht im Sinne des Urteils Vinter u.a./GB als herabsetzbar bezeichnet werden kann. Indem die Regierung den Bf. der Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt hat, begründete sie die Verantwortlichkeit des belangten Staates nach der Konvention.

(139) Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Auslieferung des Bf. an die USA eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründete (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Yudkivska).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 34 EMRK

(140) Der Bf. rügt, dass seine Auslieferung an die USA gegen die vom GH nach Art. 39 VerfO empfohlene vorläufige Maßnahme verstoßen und daher eine Verletzung seines Individualbeschwerderechts begründet hätte. [...]

(147) Die Regierung behauptete, die vorläufige Maßnahme wäre voreilig gewesen und ihre Rechtfertigung hätte vom GH nach der Beurteilung der Zulässigkeit der Beschwerde überprüft werden sollen.

(148) Die Empfehlung des GH an die belgische Regierung erging am Tag der Zustellung des Dekrets des Justizministers, mit dem die Auslieferung genehmigt wurde. Zwar hätte der Bf. zu diesem Zeitpunkt eine gerichtliche Überprüfung dieses Dekrets durch den Conseil d’Etat beantragen können, doch fehlte einer solchen Handlung jede aufschiebende Wirkung hinsichtlich der Auslieferung, weshalb sie nicht die Anforderungen des Art. 13 EMRK hinsichtlich der Wirksamkeit erfüllte. Die Tatsache, dass dieses Rechtsmittel nicht erschöpft wurde, ist daher unerheblich.

(149) Die Regierung anerkannte, dass die belgischen Behörden der vom GH empfohlenen vorläufigen Maßnahme zuwider gehandelt hatten. Sie vertrat jedoch die Ansicht, dass dieses Verhalten gerechtfertigt gewesen sei, da zugesichert worden wäre, dass der Bf. keiner gegen die EMRK verstoßenden Behandlung unterzogen würde, und weil angesichts der Gefahr seiner Flucht oder einer gerichtlichen Entscheidung, ihn freizulassen, das Äußerste unternommen werden musste, um seine Übergabe an die US-Behörden sicherzustellen. [...]

(150) Der belangte Staat hat das Schutzniveau der durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte, die der Bf. durch die Erhebung einer Beschwerde an den GH zu wahren versuchte, bewusst und unwiderruflich herabgesetzt. Die Auslieferung hat jede Feststellung einer Verletzung der Konvention müßig gemacht, weil der Bf. an ein Land ausgeliefert wurde, das nicht Vertragspartei ist und wo er behauptet, einer konventionswidrigen Behandlung unterzogen zu werden.

(151) Keines der von der belgischen Regierung vorgebrachten Argumente rechtfertigte die Missachtung der vorläufigen Maßnahme. Obwohl die Regierung vor dem GH nie ihre missliche Situation gegenüber den US-Behörden und ihren Wunsch nach Aufhebung der Maßnahme verborgen hat, erwähnte sie keinen möglichen Versuch, diesen Behörden die Lage zu erklären oder eine Alternative zur Anhaltung des Bf. zu finden, die seine weitere Überwachung durch die belgischen Behörden erlaubt hätte. Überdies war es nicht Sache der belgischen Regierung, die wusste, dass der GH alle von ihr vorgebrachten Argumente für eine Aufhebung der Maßnahme – einschließlich der diplomatischen Zusicherungen der US-Behörden – geprüft und verworfen hatte, ihre eigene Beurteilung an die Stelle der Einschätzung der diplomatischen Zusicherungen und der Berechtigung der Beschwerde durch den GH zu setzen und zu beschließen, die von ihm empfohlene Maßnahme zu missachten.

(152) Der GH erinnert auch daran, dass die wirksame Ausübung des Beschwerderechts verlangt, dass er während seines gesamten Verfahrens die Beschwerde seiner üblichen Vorgangsweise entsprechend prüfen kann.

(153) Im vorliegenden Fall wird der Bf. in einem Gefängnis in den USA in Einzelhaft angehalten und hat nach Angaben seines Anwalts sehr wenig Kontakt zur Außenwelt. Er scheint nicht in der Lage gewesen zu sein, mit seinem Vertreter vor dem GH direkt in Kontakt zu treten. Diese Faktoren reichen für den GH aus um festzustellen, dass die Handlungen der Regierung es für den Bf. schwieriger gemacht haben, sein Beschwerderecht auszuüben und dass damit die Ausübung der durch Art. 34 EMRK garantierten Rechte behindert wurde.

(154) Der GH kommt zu dem Schluss, dass der belangte Staat durch das bewusste Versäumnis, der vom GH empfohlenen vorläufigen Maßnahme zu entsprechen, seinen Verpflichtungen nach Art. 34 EMRK nicht nachgekommen ist. Verletzung von Art. 34 EMRK (einstimmig).

Zu den weiteren behaupteten Verletzungen

(155-158) [...] Soweit sie eine Verletzung von Art. 3 EMRK wegen der Haftbedingungen in Belgien geltend macht, [...] ist die Beschwerde wegen mangelnder Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

(159-161) [...] Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Verfahren über die Vollstreckung des Haftbefehls erinnert der GH daran, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Auslieferungsverfahren nicht anwendbar ist. Dieser Teil der Beschwerde ist daher ratione materiae unvereinbar mit der Konvention und daher als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

(162-166) Der Bf. brachte weiters vor, seine Auslieferung hätte gegen das Verbot der Doppelbestrafung verstoßen. [...] Der GH verweist auf seine Rechtsprechung, wonach Art. 4 7. Prot. EMRK den Grundsatz ne bis in idem nicht hinsichtlich von Strafverfolgungen und Verurteilungen in verschiedenen Staaten garantiert. [...] Dieser Teil der Beschwerde ist daher ratione materiae unvereinbar mit der Konvention oder zumindest offensichtlich unbegründet und somit als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

(167) Schließlich behauptet der Bf., seine Auslieferung an die USA würde in sein Privat- und Familienleben in Belgien eingreifen und gegen Art. 8 EMRK verstoßen.

(169) Der GH erinnert daran, dass das Privat- oder Familienleben einer Person nur in außergewöhnlichen Umständen gegenüber dem mit ihrer Auslieferung verfolgten legitimen Ziel überwiegen kann.

(170) Im vorliegenden Fall brachte der Bf. vor, er wäre von seiner Partnerin getrennt worden, die in Belgien lebt und die er heiraten wolle. Nach Ansicht des GH stellt dies keinen außergewöhnlichen Umstand dar, der seiner Auslieferung entgegensteht. [...] Das öffentliche Interesse an seiner Auslieferung kann als schwerwiegender angesehen werden als alle anderen betroffenen Interessen. [...] Seine Auslieferung verstieß damit nicht gegen Art. 8 EMRK.

(171) Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 60.000,– für immateriellen Schaden; € 30.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Entscheidungsanmerkung

Das vorliegende Urteil der V. Kammer betrifft die in der Vorjudikatur noch anders beantwortete Frage, unter welchen Umständen die drohende Verurteilung zu einer nicht herabsetzbaren lebenslangen Freiheitsstrafe im ersuchenden Staat einer Auslieferung entgegensteht. Die IV. Kammer hatte 2012 in ihren Urteilen Babar Ahmad/GB und Harkins und Edwards/GB, die ebenfalls Auslieferungen an die USA betrafen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK verneint. Die Begründung stützte sich im Kern auf das Argument, eine nicht reduzierbare lebenslange Freiheitsstrafe könne erst in dem Zeitpunkt ein Problem unter Art. 3 EMRK aufwerfen, zu dem die weitere Strafvollstreckung nicht länger durch legitime Strafzwecke gerechtfertigt sei. Da nach dieser Ansicht die Verurteilung als solche nicht gegen Art. 3 EMRK verstoßen kann (sofern die Strafe nicht außer Verhältnis zur Schwere der Tat ist), steht diese Bestimmung auch einer Auslieferung nicht entgegen. Denn der Eintritt eines allfälligen späteren Verstoßes gegen Art. 3 EMRK – wenn die Strafe trotz Wegfalls aller legitimen Strafzwecke weiter vollstreckt wird – ist zu ungewiss, um ein Auslieferungshindernis darzustellen.

Im vorliegenden Urteil folgt die V. Kammer einem anderen Ansatz, den die Große Kammer in Vinter u.a./GB vorgezeichnet hat. Demnach ist die Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe als solche mit Art. 3 EMRK unvereinbar, wenn nicht schon in diesem Zeitpunkt ein Mechanismus besteht, mit dem später die Rechtfertigung der weiteren Anhaltung anhand von Kriterien überprüft werden kann, die dem Verurteilten von Anfang an bekannt sind. In Trabelsi überträgt die V. Kammer diesen Ansatz auf Auslieferungsfälle. Dass ihr die Inkohärenz der Rechtsprechung bewusst war, zeigt sich an ihrem Bemühen, den Fall an die Große Kammer abzutreten. Dies scheiterte am Widerspruch der belgischen Regierung. Sollte sich diese nunmehr dazu entschließen, ihrerseits die Vorlage vor die Große Kammer zu beantragen, stünden die Chancen auf eine neuerliche Entscheidung wohl nicht schlecht. Die Große Kammer hätte dann Gelegenheit, die Geltung ihres in Vinter/GB dargelegten Ansatzes auch für Fälle der Auslieferung zu bestätigen.

Für die österreichische Rechtspraxis ist das vorliegende Urteil insofern relevant, als vor allem bei Auslieferungen an die USA darauf zu achten sein wird, ob der betroffenen Person eine lebenslange Freiheitsstrafe droht. Ist dies der Fall, so wird Art. 3 EMRK bzw. § 20 Abs. 3 ARHG der Auslieferung regelmäßig entgegenstehen, weil derzeit nicht vom Bestehen eines Mechanismus zur Herabsetzung bzw. Umwandlung der Strafe ausgegangen werden kann, der den Anforderungen der jüngsten Rechtsprechung des EGMR entspricht. Dies gilt ungeachtet der Schwere der Straftaten, die der betroffenen Person vorgeworfen werden. Das damit verbundene Problem, Straftäter gerade bei Anklagen bzw. Verurteilungen wegen schwerster Delikte nicht ausliefern zu können, lässt sich wohl nur lösen, indem die USA ihr Strafrecht anpassen oder im Einzelfall diplomatische Zusicherungen abgeben, von Verurteilungen zu lebenslanger Haft abzusehen.

Vom GH zitierte Judikatur:

Soering/GB v. 7.7.1989 = EuGRZ 1989, 314

Kafkaris/CY v. 12.2.2008 (GK) = NL 2008, 24

Othman (Abu Qatada)/GB v. 17.1.2012 = NL 2012, 15

Harkins und Edwards/GB v. 17.1.2012 = NL 2012, 11

Babar Ahmad u.a./GB v. 10.4.2012 = NL 2012, 114

Vinter u.a./GB v. 9.7.2013 (GK) = NL 2013, 241

Anmerkung:

Eine Besprechung des Urteils finden Sie in der Druckfassung des Newsletter Menschenrechte (Heft 5/2014, S. 387).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.9.2014, Bsw. 140/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 383) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_5/Trabelsi.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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