JudikaturJustiz7Ob188/21d

7Ob188/21d – OGH Entscheidung

Entscheidung
24. November 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der gefährdeten Partei E***** G*****, vertreten durch Mag. Vinzenz Fröhlich und andere, Rechtsanwälte in Graz, gegen den Gegner der gefährdeten Partei F***** S*****, vertreten durch die Stenitzer Stenitzer Rechtsanwälte OG in Leibnitz, wegen Erlassung einer einstweiligen Verfügung gemäß § 382e EO aF, über den Revisionsrekurs des Gegners der gefährdeten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssagen Graz als Rekursgericht vom 3. August 2021, GZ 2 R 189/21k 17, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Graz Ost vom 25. Juni 2021, GZ 248 C 22/21x 12, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts insgesamt wiederhergestellt wird.

Die gefährdete Partei ist schuldig, dem Gegner der gefährdeten Partei die mit 616,18 EUR (darin enthalten 102,70 EUR an USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

[1] Die gefährdete Partei (in Hinkunft Antragstellerin ) stellte am 9. 6. 2021 beim Erstgericht den Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach § 382e EO aF gegen den Gegner der gefährdeten Partei (in Hinkunft Antragsgegner).

[2] Das Erstgericht trug dem Antragsgegner am 10. 6. 2021 unter Anschluss des Antrags eine schriftliche Äußerung bis 17. 6. 2021, 11:00 Uhr bei Gericht einlangend, auf, wobei es auf die Rechtsfolgen des § 56 EO hinwies.

[3] Am 18. 6. 2021 erstattete der nunmehr anwaltlich vertretene Antragsgegner im ERV eine schriftliche Äußerung, in der er darauf hinwies, dass der Beginn der Abholfrist am 17. 6. 2021 war und er zum Zeitpunkt der tatsächlichen Abholung an diesem Tag habe erkennen müssen, dass die ihm eingeräumte Äußerungsfrist bereits abgelaufen gewesen sei. Ohne sein Verschulden sei es ihm nicht möglich gewesen, die Äußerungsfrist einzuhalten. Weiters erstattete er Vorbringen zur Sache.

[4] Das Erstgericht wies nach einem – unter Beachtung der Äußerung des Antragsgegners – durchgeführten Bescheinigungsverfahrens den Antrag auf Erlassung der einstweiligen Verfügung ab. Der Antragsgegner habe kein die Erlassung rechtfertigendes Verhalten gesetzt.

[5] Über Rekurs der Antragstellerin, in dem sie ausschließlich relevierte, dass der Antragsgegner infolge der Versäumung der ihm gesetzten Frist als dem Antrag zustimmend anzusehen sei, erließ das Rekursgericht die beantragte einstweilige Verfügung. Aufgrund der – infolge der Versäumung der Frist zur Äußerung – eingetretenen Fiktion der Zustimmung sei die begehrte einstweilige Verfügung antragsgemäß zu erlassen.

[6] Gegen diesen Beschluss wendet sich der Revisionsrekurs des Antragsgegners mit einem Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[7] Die Antragstellerin begehrt, den Revisionsrekurs zurückzuweisen; hilfsweise ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[8] Der Revisionsrekurs ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig, er ist auch berechtigt.

[9] 1. Aus Anlass der Einbringung des Revisionsrekurses führte das Rekursgericht zum Zeitpunkt der Zustellung der Aufforderung des Erstgerichts zur schriftlichen Äußerung ein Erhebungsverfahren durch. Nach den – den Parteien zugestellten – Ergebnissen wurde am 14. 6. 2021 der erste und am 16. 6. 2021 der zweite Zustellversuch vorgenommen. Da diese erfolglos blieben, wurde die Postsendung hinterlegt und ab 17. 6. 2021, 9:00 Uhr, für den Antragsgegner zur Abholung bereit gehalten.

[10] 2.1 Wenn der Verhandlung oder Einvernehmung ein Antrag einer Partei oder ein von Amts wegen in Aussicht genommenes Vorgehen des Gerichts zugrunde liegt, so sind nach § 56 Abs 2 EO, falls das Gesetz nichts anderes bestimmt, diejenigen Personen, die trotz gehöriger Ladung nicht erscheinen, als diesem Antrag oder diesem Vorgehen zustimmend zu behandeln; der wesentliche Inhalt des Antrags oder des von Amts wegen in Aussicht genommenen Vorgehens und die mit dem Nichterscheinen verbundenen Rechtsfolgen sind in der Ladung anzugeben. Diese Bestimmungen gelten nach § 56 Abs 3 EO auch für die Versäumung von Fristen, die für schriftliche Erklärungen oder Äußerungen der Parteien oder sonstigen Beteiligten gegeben werden.

[11] 2.2 Damit die Nichtbeachtung einer Ladung zur Verhandlung oder zur Einvernehmung bzw die Versäumung der Frist zur schriftlichen Erklärung oder Äußerung die in § 56 Abs 2 und 3 EO normierte Fiktion der Zustimmung zur Folge hat, müssen die in § 56 Abs 2 EO genannten Voraussetzungen kumulativ gegeben sein. Es muss einerseits der Partei oder dem Beteiligten der wesentliche Inhalt des Antrags oder des von Amts wegen in Aussicht genommenen Vorgehens mit der Ladung bzw mit der Aufforderung zur Stellungnahme bekanntgegeben worden sein, und andererseits muss die Säumnisfolge der fingierten Zustimmung für den Fall des Nichterscheinens bzw der Versäumung der gesetzten Frist in der Ladung bzw in der Aufforderung zur Stellungnahme angedroht werden. Die Ladung bzw Aufforderung zur Stellungnahme muss überdies der Partei oder dem Beteiligten ordnungsgemäß zugestellt worden sein ( Jakusch in Angst/Oberhammer , EO 3 § 56 EO [Stand 1. 7. 2015, rdb.at] § 56 Rz 4 mwN). Die mit dem fruchtlosen Ablauf der Äußerungsfrist eingetretenen Säumnisfolgen werden durch eine verspätete Stellungnahme nicht aufgehoben. Andernfalls hätte die Erteilung einer Frist keine Bedeutung und würde es von der früheren oder späteren Erledigung des Antrags abhängen, ob auf Einwendungen des Gegners einzugehen ist (RS0002096).

[12] 3.1 Aufgrund der Entscheidung des EGMR vom 15. 10. 2009, Micallef gegen Malta , 17056/06, sind nunmehr im Regelfall auch im Provisorialverfahren die Garantien des Art 6 MRK voll anwendbar (RS0074799 [T11] = RS0028350 [T8], vgl auch RS0127445). In Ausnahmefällen, etwa dann, wenn die Effektivität der Maßnahme von einer raschen Entscheidung abhängt, wird aber weiterhin die einseitige Erlassung einer einstweiligen Verfügung ohne vorherige Anhörung des Gegners zulässig sein, weil der nachfolgend mögliche Widerspruch das rechtliche Gehör sicherstellt (2 Ob 140/10t mwN, 4 Ob 119/14z).

[13] 3.2 Das rechtliche Gehör im Sinn des Art 6 Abs 1 MRK wird nicht nur dann verletzt, wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt genommen wird, sondern auch dann, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten (vgl RS0005915, RS0006048, RS0074920). Geht – wie hier – das Erstgericht nicht vom Vorliegen des oben genannten Ausnahmefalls aus und setzt dem Antragsgegner eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme an deren Versäumung es die Zustimmungsfiktion nach § 56 EO knüpft, dann ist es zur Wahrung des rechtlichen Gehörs jedenfalls geboten, den Antragsgegner vom Inhalt der Eingabe, der Aufforderung zur Stellungnahme und den Säumnisfolgen so rechtzeitig Kenntnis zu verschaffen, dass für ihn noch vor Ablauf der gesetzten Frist auch die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung besteht (vgl 5 Ob 50/17i).

[14] 3.3 Hier setzte das Erstgericht dem unvertretenen Antragsgegner eine Frist für das Einlangen seiner schriftlichen Äußerung bis 17. 6. 2020, 11:00 Uhr. Die durch Hinterlegung zugestellte Postsendung konnte frühestens ab 17. 6. 2020, 9:00 Uhr, von ihm abgeholt werden, sodass ihm bestenfalls zwei Stunden für eine mögliche Reaktion blieben. Dieser Zeitraum ist jedenfalls als zu kurz für die Wahrung des rechtlichen Gehörs anzusehen. Die auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zurückzuführende objektive Säumnis mit der schriftlichen Äußerung kann keine Zustimmung fingieren.

[15] 3.4 Davon ging das Erstgericht, das die schriftliche Äußerung des Antragsgegners berücksichtigte, offenbar ohnedies aus. Der erstgerichtliche Beschluss war daher wiederherzustellen.

[16] 4. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 393 Abs 2 EO iVm §§ 50, 41 ZPO. Der Streitwert im Sicherungsverfahren beträgt nach §§ 13, 14 lit c RATG 1.000 EUR; die Ansätze nach TP 3 B bzw TP 3 C für Rekursbeantwortung bzw Revisionsrekurs des Antragsgegners betragen daher 144,80 EUR bzw 173,50 EUR.

Rechtssätze
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