JudikaturJustiz7Ob1/23g

7Ob1/23g – OGH Entscheidung

Entscheidung
21. Februar 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. A* R*, 2. Mag. J* R*, beide *, vertreten durch Dr. Lins Dr. Öztürk KG in Bludenz, gegen die beklagte Partei Dr. G* S*, vertreten durch Dr. Sabine Prantner, Rechtsanwältin in Innsbruck, wegen 135.540 EUR sA und Feststellung, über die außerordentliche Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 24. November 2022, GZ 2 R 116/22h 48, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1.1 Zwischen dem Arzt und dem Patienten liegt ein zivilrechtliches Verhältnis vor, der sogenannte ärztliche Behandlungsvertrag. Es handelt sich dabei um ein im Gesetz nicht näher typisiertes Vertragsverhältnis, welches Elemente des Beratungsvertrags umfasst (RS0021335). Als Gegenstand des jeweiligen Behandlungsfalls ist im Regelfall grundsätzlich ein bestimmter „Krankheitsfall“ des Patienten anzusehen und nicht bloß ein einzelner Behandlungsabschnitt (RS0123378).

[2] 1.2 Im Rahmen des ärztlichen Behandlungsvertrags schuldet der Arzt Diagnostik, Aufklärung und Beratung nach den aktuell anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst (RS0123136).

[3] 1.3 Die ärztliche Aufklärungspflicht umfasst die Pflicht, den Patienten über mögliche Gefahren und schädliche Folgen einer Behandlung oder ihrer Unterlassung zu unterrichten. Aufklärungspflichten und Belehrungspflichten bestehen nicht nur dann, wenn die Einwilligung des Patienten zur Durchführung einer ärztlichen Heilbehandlung erreicht werden soll, sondern auch dann, wenn dem Patienten eine sachgerechte Entscheidung zu ermöglichen ist, ob er eine (weitere) ärztliche Behandlung unterlassen kann. Wenn der Arzt erkennt, dass bestimmte ärztliche Maßnahmen erforderlich sind, dann hat er den Patienten auf deren Notwendigkeit und die Risken ihrer Unterlassung hinzuweisen (RS0026578 [T4]; RS0026413 [T5]). Der Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht, die grundsätzlich anzunehmen ist, ist eine Frage des Einzelfalls (RS0026529).

[4] 2.1 Der beklagte Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe betreute die Erstklägerin in ihrer Schwangerschaft medizinisch. Er klärte sie vollständig über sämtliche möglichen Untersuchungsmethoden zur pränatalen Erkennung von Chromosomenanomalien wie Trisomie 21 unter Anführung der jeweiligen Detektionsraten auf. Er errechnete aufgrund des Alters der Erstklägerin (27 Jahre) für die Möglichkeit des Vorliegens einer Trisomie 21 bei ihrem Kind eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 1.206. Danach führte er mittels Ultraschall eine Messung der Nackentransparenz, des Nasenbeins, des Ductus venosus und der Herzfrequenz des Fötus durch. Dabei ergaben sich keine Auffälligkeiten, insbesondere kein Hinweis auf das Vorliegen einer Trisomie 21. Durch die vom Beklagten bei der Untersuchung gewählte Kombination wurde eine statistische Detektionsrate für Trisomie 21 von 89,2 % erreicht, woraus der Beklagte das Risiko für das Vorliegen einer Trisomie 21 mit 1 zu 12.869 errechnete. Diese – auf Grundlage der lege artis erfolgten Untersuchungen – fachgerecht getroffene Einschätzung und die Messergebnisse waren für die Erstklägerin ausreichend, keine weiteren Abklärungen oder Untersuchungen zu wünschen. Insbesondere sprach sie sich gegen die Vornahme eines NIP Tests (nicht invasiver pränataler Test) und einer Fruchtwasser oder Plazentapunktion aus. Am 27. 2. 2018 wurde der Sohn der Kläger mit Trisomie 21 geboren.

[5] 2.2 Dass die Vorinstanzen – von diesem Sachverhalt ausgehend – eine Haftung des Beklagten verneinten, weil er die Erstklägerin ausreichend aufgeklärt habe und ihm kein Kunstfehler unterlaufen sei, ist nicht zu beanstanden.

[6] 3.1 Die Kläger halten dieser Beurteilung auch nur mehr entgegen, dass Beilage ./7 als Behandlungsvertrag zu werten sei, mit dem der Beklagte beauftragt worden sei, den Combined Test und die Trikuspidalklappen-Untersuchung jedenfalls – sohin ohne ausdrücklichen Wunsch durch die Erstklägerin – vorzunehmen.

[7] 3.2 Die Auslegung des konkreten Behandlungsvertrags hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (RS0044358). Mangels einer über den Anlass hinausreichenden Aussagekraft von Einzelfallentscheidungen steht die Revision für ihre Überprüfung nach § 502 Abs 1 ZPO nicht offen, es sei denn, das Berufungsgericht wäre bei seiner Entscheidung einer krassen Fehlbeurteilung unterlegen, die ausnahmsweise zur Wahrung der Rechtssicherheit einer Korrektur bedürfte.

[8] 3.3 Die Vorinstanzen gingen davon aus, dass es sich bei Beilage ./7 – ausgehend vom konkreten Inhalt und der Überschrift „Informationsblatt“ – nur um eine Information über die unterschiedlichen Untersuchungsmöglichkeiten zur Erkennung von Trisomie 21 handle und sie die Einverständniserklärung der Erstklägerin nur zum Firsttrimester Screening enthalte. Dieses Auslegungsergebnis stellt keine aufzugreifende Fehlbeurteilung dar, wogegen die Kläger auch keine stichhaltigen Argumente bringen. Soweit sie weiters meinen, die Durchführung der vermissten Untersuchungen hätte zu einer weitaus höheren Detektionsrate geführt, übergehen sie die Feststellung, dass diese – im hier konkreten Fall – nahezu gleich geblieben wäre.

[9] 4. Dieser Beschluss bedarf keiner weiteren Begründung (§ 510 Abs 3 ZPO).

Rechtssätze
3
  • RS0123136OGH Rechtssatz

    21. November 2023·3 Entscheidungen

    a) Im Rahmen des ärztlichen Behandlungsvertrags schuldet der Arzt Diagnostik, Aufklärung und Beratung nach den aktuell anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst. Die pränatale Diagnostik dient nicht zuletzt der Ermittlung von Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des ungeborenen Kindes und soll damit auch der Mutter (den Eltern) im Falle, dass dabei drohende schwerwiegende Behinderungen des Kindes erkannt werden, die sachgerechte Entscheidung über einen gesetzlich zulässigen, auf § 97 Abs 1 Z 2 zweiter Fall StGB beruhenden Schwangerschaftsabbruch ermöglichen. Dass in einem solchen Fall die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch auch wegen der erheblichen finanziellen Aufwendungen für ein behindertes Kind erfolgen kann, ist objektiv voraussehbar, weshalb auch die finanziellen Interessen der Mutter (der Eltern) noch vom Schutzzweck des ärztlichen Behandlungsvertrags umfasst sind. b) Wird beim Organscreening im Rahmen pränataler Diagnostik ein Hinweis auf einen beginnenden Wasserkopf als Folge einer Meningomyelozele nicht entdeckt und unterbleibt eine Wiederbestellung der Schwangeren, obwohl diagnoserelevante Strukturen nicht einsehbar waren, dann liegt ein ärztlicher Kunstfehler vor. Hätten sich die Eltern bei fachgerechter Aufklärung über die zu erwartende schwere Behinderung des Kindes und einen deshalb gesetzlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch gemäß § 97 Abs 1 Z 2 zweiter Fall StGB zu Letzterem entschlossen, haftet der Arzt (der Rechtsträger) für den gesamten Unterhaltsaufwand für das behinderte Kind. In einem solchen Fall stünden sowohl die Ablehnung eines Schadenersatzanspruchs mit der Behauptung, es liege kein Schaden im Rechtssinn vor, als auch der bloße Zuspruch nur des behinderungsbedingten Unterhaltsmehraufwands mit den Grundsätzen des österreichischen Schadenersatzrechts nicht im Einklang.