JudikaturJustiz6Ob142/22h

6Ob142/22h – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. Juli 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Nowotny, Dr. Hofer Zeni Rennhofer, Dr. Faber und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei „S*“ * GmbH, *, vertreten durch Dr. Thomas Wiesinger, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Mag. C*, vertreten durch Themmer, Toth und Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 49.000 EUR und Feststellung, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 19. Mai 2022, GZ 16 R 91/22b-41, mit dem die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 11. Oktober 2021, GZ 59 Cg 35/19d 28, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung über die Berufung unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 2.286 EUR (darin 381 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

[1] Die Klägerin nimmt den Beklagten aus dem Titel des Schadenersatzes in einem Prozess mit absoluter Anwaltspflicht in Anspruch. Das klagsabweisende Urteil des Erstgerichts wurde ihrem frei gewählten Rechtsvertreter am 2. 11. 2021 zugestellt.

[2] Mit Eingabe vom 23. 11. 2021 beantragte die Klägerin selbst (ohne anwaltliche Vertretung) die Bewilligung der Verfahrenshilfe „in vollem Umfang laut ZPO“ für eine beabsichtigte Berufung. Der Beschluss, mit dem das Erstgericht den Verfahrenshilfeantrag abwies, wurde (nur) der Klägerin selbst zugestellt. Ihr selbst verfasster Rekurs blieb erfolglos; die darüber ergangene Entscheidung des Rekursgerichts wurde dem bis zur Stellung des Verfahrenshilfeantrags für sie eingeschrittenen Rechtsvertreter der Klägerin sowie dem Beklagtenvertreter am 25. 2. 2022 und (erst in einem nachfolgenden Schritt) überdies der Klägerin selbst am 9. 3. 2022 zugestellt.

[3] Die von der (Rechtsvertretung namens) der Klägerin am 6. 4. 2022 beim Erstgericht eingebrachte Berufung ist bei Berechnung des Fristenlaufs mit Zustellung an die Klägerin selbst rechtzeitig; bei Annahme des Beginns schon mit Zustellung an die im Prozess bis dahin aufgetretene Rechtsvertretung verspätet.

[4] Das Berufungsgericht wies die Berufung als verspätet zurück. Es ging davon aus, dass – wiewohl der Antrag einer Partei auf Bewilligung der Verfahrenshilfe unter Umständen als Anzeige des Erlöschens des bisherigen Vollmachtsverhältnisses zu werten sei – eine Partei, die die Gewährung der Verfahrenshilfe – wie hier – erfolglos begehrt habe, im weiteren Verfahren (dennoch) so zu behandeln sei, als hätte sie keinen Antrag auf Verfahrenshilfe gestellt. Daher hätten – solange die Partei nach rechtskräftiger Abweisung ihres Verfahrenshilfeantrags die Anzeige der Bestellung eines anderen Rechtsanwalts unterlasse – alle Zustellungen an den letzten Prozessbevollmächtigten zu erfolgen. Auch wenn im Hinblick auf die Ausnahmen von der Anwaltspflicht (sogar im Rechtsmittelverfahren) in Verfahrenshilfesachen die Zustellung des den Antrag auf Verfahrenshilfe abweisenden Beschlusses auch an den Kläger selbst erfolgen könne, bedeute dies für den vorliegenden Fall (dennoch), dass bereits die zeitlich frühere Zustellung der Rekursentscheidung über den Verfahrenshilfeantrag an den (früheren und auch derzeit noch tätigen) Klagevertreter die Berufungsfrist ausgelöst habe.

Rechtliche Beurteilung

[5] Der vom Beklagten beantwortete Rekurs der Klägerin, mit dem sie die Aufhebung des Zurückweisungsbeschlusses anstrebt, ist gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO jedenfalls zulässig (RS0098745 [T3]); er ist auch berechtigt.

[6] 1. § 93 Abs 1 ZPO ordnet für Zustellungen im Zivilprozess an, dass bis zur Aufhebung der Prozessvollmacht alle diesen Rechtsstreit betreffenden Zustellungen an den namhaft gemachten Bevollmächtigten zu geschehen haben. Grundsätzlich dürfen (vgl Stumvoll in Fasching/Konecny ³ II/2 § 93 ZPO Rz 6: „müssen und können“) Zustellungen im Rahmen des § 93 ZPO aber nur soweit an den Vertreter erfolgen, als dies durch den Umfang der Vollmacht gedeckt ist.

[7] Zur Prozessvollmacht bestimmt wiederum § 36 Abs 1 ZPO, dass deren Widerruf oder Kündigung in Verfahren mit absoluter Anwaltspflicht erst dann rechtliche Wirksamkeit erlangt, wenn die Bestellung eines anderen Rechtsanwalts von dieser Partei angezeigt wird. Diese Bestimmung hat – nicht nur gegenüber dem (ausdrücklich im Gesetz erwähnten) Prozessgegner, sondern – wegen des Zwecks der Vorschrift, den Fortgang des Verfahrens ohne Schwierigkeiten zu ermöglichen, auch gegenüber dem Gericht (3 Ob 211/97v; Zib in Fasching / Konecny ³ II/1 § 36 ZPO Rz 14) die Wirkung, dass ohne Anzeige eines neuen Vertreters das Vertretungsverhältnis des (letzt )bevollmächtigten Parteienvertreters bis zum Abschluss des Verfahrens aufrecht bleibt.

[8] 2. Im Antrag auf Gewährung der Verfahrenshilfe (durch Beigebung eines Rechtsanwalts), den eine durch einen Rechtsanwalt vertretene Partei stellt, liegt (es sei denn, das Gericht hätte sie ausdrücklich über die Auflösung des Vollmachtsverhältnisses befragt und die Partei hätte dies verneint) die Anzeige des Erlöschens des Vollmachtsverhältnisses (aufgrund Widerrufs oder Kündigung iSd § 36 Abs 1 ZPO) zu ihrem bisherigen Rechtsvertreter (RS0035752 [T3]; vgl RS0035624; Fucik in Rechberger/Klicka , ZPO 5 § 36 Rz 30).

[9] 3. Wiewohl diese Auflösung im Rechtsstreit mit Anwaltspflicht (grundsätzlich) erst mit Bekanntgabe eines neuen Vertreters Wirkungen entfaltet, ist – weil der Schutzzweck dieser Bestimmung es erfordert – nach ganz herrschender Rechtsprechung § 464 Abs 3 ZPO (über die Unterbrechung der Rechtsmittelfrist durch Stellung eines Antrags auf Beigebung eines Verfahrenshelfers) auch im Verfahren mit Anwaltspflicht auf eine Partei, die (bisher) durch einen frei gewählten Anwalt vertreten war, anzuwenden (RS0035752). Dies hat zur Konsequenz, dass die bei rechtzeitiger Antragstellung unterbrochene Rechtsmittelfrist entweder mit Zustellung des Bestellungsbescheids (samt der zu bekämpfenden Entscheidung) an den Verfahrenshelfer oder mit Eintritt der Rechtskraft des abweisenden Beschlusses über die Verfahrenshilfe neu zu laufen beginnt.

[10] Gegenteiliges hätte (systemwidrig) zur Konsequenz, dass eine Partei, die sich ursprünglich noch eine Rechtsvertretung leisten konnte, im Verlauf des Verfahrens aber so mittellos geworden ist, dass die Voraussetzungen für die Gewährung einer Verfahrenshilfe bei ihr (behauptetermaßen) auch im Umfang der Beigebung eines Rechtsanwalts vorliegen (und sie sich daher die Kosten des Anwalts bei Fortführung des Rechtsstreits nicht leisten kann), rechtsschutzlos wäre. Ginge man in dieser Situation davon aus, dass die Partei (formal) weiterhin durch einen Anwalt vertreten ist und es durch den Verfahrenshilfeantrag nicht zu einer Unterbrechung der Rechtsmittelfrist kommt, liefe diese ab, obwohl die Partei (womöglich) nicht mehr in der Lage ist, das rechtzeitige Tätigwerden eines Anwalts zu erreichen (und zu bezahlen).

[11] 4. Bei Erfolg ihres Verfahrenshilfeantrags ist der bestellte Verfahrenshelfer in Hinkunft ihr Parteienvertreter und die Auflösung der dem zuvor gewählten Anwalt erteilten Vollmacht – nun auch – gegenüber Prozessgegner und Gericht wirksam.

[12] Hat die Partei die Beigebung eines Rechtsanwalts dagegen erfolglos begehrt und unterlässt sie nach rechtskräftiger Abweisung ihres Verfahrenshilfeantrags die Anzeige der Bestellung eines anderen Rechtsanwalts, haben (wegen § 36 Abs 1 ZPO) alle (zukünftigen) Zustellungen an ihren letzten Prozessbevollmächtigten zu erfolgen (vgl RS0106741). Diese Aussage, auf die sich das Rekursgericht stützte, vermag aber noch nichts dazu beizutragen, wie es zur rechtskräftigen Abweisung des Verfahrenshilfeantrags (durch wirksame Zustellung) kommt.

[13] 5. Darauf kommt es aber entscheidend an, wenn eben erst die Rechtskraft der (abweisenden) Entscheidung im Inzidenzverfahren über die Verfahrenshilfe den Neubeginn des Fristenlaufs auslöst.

[14] Für den Fall, dass die Partei den Verfahrenshilfeantrag durch einen (etwa auch den zuletzt bevollmächtigten) Rechtsvertreter stellte, ist dies unproblematisch. Dieser tritt dann als Vertreter im Inzidenzverfahren auf und es ist daher zweifelsohne dem Anwalt zuzustellen. Ansonsten stellt sich aber die Frage, ob an die Partei selbst oder den ehemaligen Rechtsvertreter zuzustellen ist (was in den zu RS0106741 aufgenommenen Entscheidungen aber nicht thematisiert wird), mit anderen Worten ob sich die in § 36 Abs 1 ZPO angeordnete (Fiktion der) Aufrechterhaltung der Prozessvollmacht (im Prozess mit Anwaltspflicht) trotz deren Widerrufs oder Kündigung auch auf das Inzidenzverfahren über die beantragte Verfahrenshilfe erstreckt und Zustellungen von Beschlüssen betreffend die Verfahrenshilfe unter „alle diesen Rechtsstreit betreffenden Zustellungen“ iSd § 93 Abs 1 ZPO fallen, die weiterhin als durch die Prozessvollmacht gedeckt anzusehen sind.

[15] 6. Dies ist – schon betrachtet unter dem Gesichtspunkt des Schutzzwecks der Vorschriften über die Verfahrenshilfe – zu verneinen: Liegt im Verfahrenshilfeantrag im Zweifel die Anzeige der Auflösung des Vollmachtsverhältnisses, dann ist zu vermuten, dass dieses tatsächlich nicht mehr besteht (und der Anwalt über 14 Tage hinaus auch nicht mehr verpflichtet ist, Rechtshandlungen zum Schutz des [ehemaligen] Mandanten vorzunehmen [§ 36 Abs 2 ZPO]). Die Partei muss sich demnach nach Ablehnung der Verfahrenshilfe an einen neuen (oder etwa auch den vorhergehenden) Anwalt wenden. Dass ihr – obwohl sie überhaupt erst (erneut) einen Anwalt bevollmächtigen und beauftragen muss (und damit im Vergleich zu einer noch vertretenen Partei weitergehende Schritte setzen muss) – nach der Absicht des Gesetzes eine faktisch verkürzte Frist zur Verfügung stehen sollte (weil zwar die Zustellung an den ehemaligen Rechtsvertreter schon für sie wirksam wäre, sie aber bis zu ihrer [allfälligen] Verständigung durch diesen noch keine Kenntnis vom neuerlichen Beginn des Fristenlaufs hat), widerspräche dem Ziel des Schutzes der (vermeintlich) mittellosen Partei und ist nicht nachvollziehbar.

[16] 7. Im Hinblick auf die Ausnahmen von der Anwaltspflicht in Verfahrenshilfeangelegenheiten schlechthin (auch im Rechtsmittelverfahren; § 72 Abs 3 ZPO) ist im Einklang mit bereits ergangener Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs die Zustellung des den Antrag auf Verfahrenshilfe abweisenden Beschlusses an die Partei selbst geboten. Auch wenn zum Rechtssatz RS0110717 formuliert wurde, es „kann“ (wegen der Ausnahme von der Anwaltspflicht im Verfahrenshilfeverfahren) die Zustellung an den Kläger erfolgen, folgt schon aus dem Volltext des Beschlusses 10 ObS 276/98f und völlig eindeutig aus dem zu 3 Ob 130/05x gebildeten Beisatz „Wurde der den Antrag abweisende oder zurückweisende Beschluss sowohl der Partei als auch deren bisherigem Rechtsvertreter zugestellt, so wird der Lauf der Berufungsfrist (§ 464 Abs 3 ZPO) durch die Zustellung an die Partei ausgelöst.“, dass es nur auf die an die Partei selbst bewirkte Zustellung ankommt. Beiden Fällen lagen Verfahren mit Anwaltspflicht zugrunde, in denen von der anfänglich durch frei gewählte Anwälte rechtlich vertretenen Partei später erfolglos Verfahrenshilfe beantragt worden war. Vom 10. Senat wurde in 10 ObS 276/98f für die (wirksame) Zustellung des Beschlusses des Rekursgerichts über die Verfahrenshilfe (mit der mangels weiterem Rechtszug gleichzeitig die Rechtskraft der Entscheidung eintritt) weder die Bestellung eines Zustellkurators als zulässig angesehen noch eine Zustellung an den bisher bevollmächtigten Vertreter aufgetragen, sondern auf die Vorgangsweise der Hinterlegung nach § 8 iVm § 23 ZustG zurückgegriffen. Ebenso sah der 3. Senat im Verfahren 3 Ob 130/05x – nach Verweis auf die insoweit wirksame Auflösung des Vollmachtsverhältnisses – allein die Zustellung an die Verfahrenshilfe beantragende Partei als wirksam an. Wenn in dieser Entscheidung erläutert wird, dass es auf die Zustellung an den (bisherigen) Rechtsvertreter nicht ankommt, ist bereits damals die vom Berufungsgericht herangezogene gegenteilige Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien vom 28. 12. 1982, 12 R 119/82 (= WR 34, auf die sich auch Stumvoll [aaO Rz 3] beruft), vom Obersten Gerichtshof abgelehnt worden.

[17] 8. Die für den Prozess mit Anwaltspflicht in § 36 Abs 1 ZPO angeordnete (Fiktion der) Aufrechterhaltung der Prozessvollmacht erstreckt sich bei deren (im Zweifel aufgrund eines Antrags auf Beigebung eines Verfahrenshelfers anzunehmendem) Widerruf oder Kündigung nicht (auch) auf das Inzidenzverfahren über die beantragte Verfahrenshilfe. Zustellungen von Beschlüssen betreffend die Beigebung eines Verfahrenshelfers fallen daher in diesem Fall nicht unter die in § 93 Abs 1 ZPO gebrauchte Wendung „alle diesen Rechtsstreit betreffenden Zustellungen“ in § 93 Abs 1 ZPO und sind an die Partei selbst vorzunehmen, weil für das Inzidenzverfahren von einer für diesen Bereich erfolgten Aufhebung der Vollmacht auszugehen ist.

[18] 9. Im vorliegenden Fall wurde folglich erst mit der Zustellung am 9. 3. 2022 der Lauf der Berufungsfrist in Gang gesetzt. Die am 6. 4. 2022 eingebrachte Berufung der Klägerin ist somit rechtzeitig.

[19] 10. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO. Durch die gegenläufigen Anträge im Rechtsmittelverfahren über den Zurückweisungsbeschluss ist ein Zwischenstreit entstanden, für den der Beklagte kostenersatzpflichtig ist (8 Ob 94/20m).

Rechtssätze
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