JudikaturJustiz6Ob138/01i

6Ob138/01i – OGH Entscheidung

Entscheidung
21. Juni 2001

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schiemer, Dr. Huber, Dr. Prückner und Dr. Schenk als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden und gefährdeten Partei Friedrich K*****, vertreten durch Korn Zöchbauer Frauenberger, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei und Gegnerin der gefährdeten Partei Mag. Johanna M*****, vertreten durch Mag. Werner Suppan, Rechtsanwalt in Wien, wegen Unterlassung, Widerrufs und Veröffentlichung des Widerrufs einer ehrverletzenden Äußerung, über den ordentlichen Revisionsrekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien als Rekursgericht vom 22. Februar 2001, GZ 5 R 17/01h-9, womit über den Rekurs der beklagten Partei die einstweilige Verfügung des Handelsgerichtes Wien vom 19. Dezember 2000, GZ 38 Cg 86/00h-5, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidung der Vorinstanzen wird dahin abgeändert, dass der Antrag der klagenden Partei, der beklagten Partei werde zur Sicherung des Anspruchs auf Unterlassung ehrenrühriger und/oder kreditschädigender Äußerungen die Behauptung und/oder Verbreitung der Äußerung verboten, der Kläger lüge, und der auf die Unterlassung der Behauptung, der Kläger solle nicht auch noch lügen, gerichtete hilfsweise gestellte Sicherungsantrag, abgewiesen werden.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 8.128,80 S (darin 1.354,80 S Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Provisorialverfahrens erster Instanz, die mit 10.161 S (darin 1.693,50 S Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens und die mit 12.195 S (darin 2.032,50 S Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsrekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Die Parteien sind Mitglieder konkurrierender politischer Parteien, die im Landtag und im Nationalrat vertreten sind. Der Kläger ist Bürgermeister einer Gemeinde und Landesrat. Die Beklagte ist Landesgeschäftsführerin ihrer Partei und Abgeordnete zum Nationalrat. In der politischen Auseinandersetzung über die Zulässigkeit der Vorschreibung von Kanaleinmündungsabgaben und Kanalbenützungsgebühren durch die Gemeinde des Klägers betreffend eine im Eigentum der Bundesimmobilien Gesellschaft mbH stehenden Liegenschaft äußerte sich zunächst der Kläger in einer Presseaussendung. Neben Argumenten zur Rechtfertigung der Vorschreibung der Gebühren griff der Kläger den politischen Gegner und namentlich die Beklagte massiv mit Formulierungen wie "... im geistigen Nirwana" und "... an Dummheit nicht mehr zu überbieten" an. Darauf reagierte die Beklagte mit der Presseaussendung vom selben Tag:

"Politik/*****NÖ/Sicherheit/NÖ ***OTS-PRESSEAUSSENDUNG***

M*****: *****-K***** lügt - Kanalgebühren werden ohne rechtliche Grundlagen bezahlt

Utl.: *****-S***** hat sich über Gutachten des eigenen Hauses hinweggesetzt=

St. Pölten (NÖI) 'Wenn man Butter am Kopf hat, sollte man nicht auch noch lügen. Offensichtlich kennt Bürgermeister K***** das Gutachten, das im Innenministerium unter Ex-Minister S***** erstellt wurde nicht. Das Gutachten sagt klipp und klar, dass das Servitutrecht auf dem Areal des Mahnmals sozialistischer Fehlplanung - der Sicherheitsakademie in Traiskirchen, noch immer Gültigkeit hat', stellt LGF NR Mag. Johanna M***** klar. ***

Zur Auffrischung des Informationsstandes von *****-K***** ein Zitat aus dem Gutachten des Innenministeriums vom 18. 1. 2000:

... 'nach Ansicht der Abteilung IV/11 besteht daher - nach wie vor - das Recht der unentgeltlichen Einmündung von Kanälen und der unentgeltlichen Ableitung von Niederschlags- und Schmutzwässern in das nunmehr bestehende Kanalnetz im Bereich des Grundstücks Nummer 854'

Darüber hinaus wurde diese Vereinbarung nie aus dem Grundbuch gelöscht. Und wer sich auch nur ein bisschen in juristischen Belangen auskennt weiß, dass das, was im Grundbuch steht gilt. 'Seitenlange Rechtfertigungen *****-K***** können das gültige Recht auch nicht umgehen. Was bei einer derartigen Missachtung des gültigen Rechts heraus kommt ist bekannt: Ein nachhaltiger Griff S***** und K***** in die Staatskasse in der Höhe von 400.000 Schilling pro Jahr', betont M*****.

Rückfragehinweis: ***** Niederösterreich".

Der Kläger begehrt die Unterlassung und den Widerruf des Lügenvorwurfs. Die Beklagte werfe dem Kläger vor, er würde der Republik Österreich als Bürgermeister der Gemeinde entgegen allen rechtlichen Grundlagen Kanalgebühren in Rechnung stellen und dadurch seine Gemeinde bereichern. Dies treffe nicht zu. Die Beklagte müsse sich nach der Unklarheitenregel die ungünstigste Auslegungsvariante ihrer Äußerung zurechnen lassen. Es komme primär auf die Überschrift und Schlagzeile an. Der Vorwurf sei ehrverletzend und rufschädigend.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und des Sicherungsantrages. Zu Gunsten der Liegenschaft bestehe ein Realrecht der Einmündung von Kanälen in den von der Gemeinde erbauten öffentlichen Abwässerungskanal ohne Leistung von Einmündungsgebühren sowie der immerwährenden unentgeltlichen Ableitung der Niederschlags- und Schmutzwässer. Dennoch behaupte der Kläger, zur Einhebung von Kanalgebühren berechtigt zu sein. Die Äußerung der Beklagten sei gerechtfertigt.

Das Erstgericht erließ die beantragte einstweilige Verfügung. Es stellte das von der Beklagten behauptete Realrecht der Einmündung von Kanälen in den von der Stadtgemeinde erbauten öffentlichen Abwässerungskanal ohne Leistung von Einmündungsgebühren sowie der immerwährenden unentgeltlichen Ableitung der Niederschlags- und Schmutzwässer fest und gab den Inhalt der beiden Presseaussendungen der Parteien vom 18. 10. 2000 wörtlich wieder. In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Auffassung, dass der Vorwurf der Lüge anspruchsbegründend im Sinne des § 1330 Abs 1 und Abs 2 ABGB sei. Mit dem Vorwurf der Lüge werde ein Verhaltensvorwurf im Sinn des § 111 Abs 1 StGB erhoben. Der Vorwurf unterstelle dem Kläger, dass er bewusst unwahre Tatsachen verbreite. Dies sei nicht bescheinigt. Schon aus der Presseaussendung der Beklagten ergebe sich, dass der Kläger nicht bewusst die Unwahrheit gesagt habe, weil er in Unkenntnis wesentlicher Unterlagen gewesen sei.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Beklagten nicht Folge. Der Vorwurf der Lüge sei nach dem normalen Sprachgebrauch des Begriffs zu verstehen. Aus dem Text der Presseaussendung der Beklagten ergebe sich nicht, dass die Beklagte dem Kläger nicht vorgeworfen hätte, bewusst die Unwahrheit zu sagen. Auf die sogenannte Entrüstungsbeleidigung des § 115 Abs 3 StGB könne sich die Beklagte nicht berufen. Der Lügenvorwurf sei nicht eine Beschimpfung im Sinne des § 115 StGB, sondern eine üble Nachrede im Sinne des § 111 Abs 1 StGB.

Das Rekursgericht änderte auf Antrag der Beklagten seinen ursprünglichen Ausspruch über die Unzulässigkeit des Rechtsmittels dahin ab, dass der ordentliche Revisionsrekurs für zulässig erklärt wurde.

Mit ihrem ordentlichen Revisionsrekurs beantragt die Beklagte die Abänderung dahin, dass der Sicherungsantrag abgewiesen werde.

Der Kläger beantragt, den Revisionsrekurs als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.

Der Lügenvorwurf der Beklagten kann nicht schon damit gerechtfertigt werden, dass die Äußerung eine unmittelbare Reaktion auf ehrverletzende Äußerungen des Klägers gewesen sei. Der im § 115 Abs 2 StGB normierte Entschuldigungsgrund ("Entrüstungsbeleidigung") steht beim verschuldensunabhängigen Unterlassungsanspruch nach § 1330 ABGB nicht zur Verfügung (vgl 6 Ob 2393/96x = MR 1997, 83).

Die Entscheidung der Vorinstanzen beruht auf der Definition des Begriffs "Lüge" als bewusst (wissentlich) falsche Tatsachenbehauptung. Der Lügner behauptet wider besseres eigenes Wissen etwas Falsches. Zu Recht rügt die Rekurswerberin die Vernachlässigung des Gesamtzusammenhangs, in dem die Äußerung fiel. In die Ehre eines anderen eingreifende Äußerungen sind stets nach dem Gesamtzusammenhang, in dem die Äußerung fielen und dem dadurch vermittelten Gesamteindruck zu beurteilen (MR 1995, 16; 6 Ob 212/98i mwN). Der Einwand des Klägers, es komme nur auf den im Titel der Presseaussendung erhobenen Lügenvorwurf und damit nur auf die reine Begriffsdefinition an, isoliert den bekämpften Vorwurf aus dem Zusammenhang und steht im Gegensatz zur zitierten Rechtsprechung. Die vom Kläger für seine Rechtsmeinung ins Treffen geführten Zitate stammen aus anderen Rechtsbereichen. Bei Brandstetter/Schmid, MedienG2 § 9 Rz 10 geht es um die Gegendarstellung. Bei Hager/Zöchbauer, Persönlichkeitsschutz4 E 35 werden Entscheidungen von Strafgerichten zitiert. Bei Korn/Neumayr, Persönlichkeitsschutz 40 wird die Entscheidung MR 1990, 226 zu § 78 UrhG zitiert. Im gewerblichen Rechtsschutz mag der blickfangartigen Herausstellung im Titel wegen des flüchtigen Lesens etwa von Werbeaussagen in der Eile des Geschäftsverkehrs eine Bedeutung zukommen. Die dort maßgeblichen Argumente sind auf Presseaussendungen von Politikern im politischen Meinungskampf nicht ohne weiteres übertragbar. Triftige Gründe, warum ein im Titel schlagwortartig erhobener Vorwurf nicht durch den erläuternden Text gerechtfertigt werden dürfte, bringt der Kläger nicht vor. Der Bedeutungsinhalt des Lügenvorwurfs der Beklagten ist nach dem gesamten Text der Presseaussendung zu ermitteln.

Selbst wenn man nur die Presseaussendung der Beklagten heranzieht und die thematisch und zeitlich in engstem Zusammenhang stehende vorangehende Presseaussendung des Klägers sowie den Umstand außer Acht lässt, dass der Adressat beider Äußerungen derselbe war, hat der Lügenvorwurf die offengelegte Sachverhaltsgrundlage, dass der Kläger eine rechtliche Grundlage für die Vorschreibung von Kanalgebühren bejaht, die Beklagte aber verneint und dem Kläger vorwirft, ein seinem Standpunkt entgegenstehendes Gutachten nicht zu kennen und eine einfache Rechtslage nach dem Grundbuchsstand nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen. Auf dieser Basis verliert der Lügenvorwurf aber die Schärfe, wie sie sich bei einer isolierten Auslegung im Sinne der Bedeutung des Begriffs nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ergibt. Die Behauptung der Beklagten reduziert sich nach dem Zusammenhang ihrer Äußerung auf den Vorwurf, dass der Kläger lüge, wenn er ohne Rechtsgrundlage und ohne Kenntnis der juristischen Grundlagen eine Gemeindeabgabe fordere und dazu eine Rechtsgrundlage behaupte. Damit stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit von wertenden Äußerungen im politischen Meinungskampf. Auch massiv in die Ehre eines anderen eingreifende Werturteile können gerechtfertigt sein. Wertungen gegenüber Politikern genießen in höherem Maße den Schutz des Grundrechts der freien Meinungsäußerung nach Art 10 MRK. Insbesondere in Wahlkampfzeiten werden die Äußerungen von Politikern nicht auf die "Goldwaage" gelegt. Dazu kann auf die immer wiederkehrende notorische Tatsache nicht erfüllter Wahlversprechen und die danach regelmäßig vom politischen Gegner erhobenen Lügenvorwürfe verwiesen werden. Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist die freie und offene Diskussion politischer Fragen das Herzstück der Konvention. Politiker, die sich freiwillig in das Licht der Öffentlichkeit stellten und ihre Anliegen mit Hilfe der Medien durchzusetzen versuchten, müssten deutlich weitere Grenzen annehmbarer Kritik dulden. Dazu kann auf die bekannten Entscheidungen des EGMR "Lingens" (= MR 1986, 11) und "Oberschlick 1 und 2" (= ÖJZ 1991, 641 und ÖJZ 1997, 956) verwiesen werden. In der zuletzt zitierten Entscheidung stellte der EGMR fest, dass sogar die Titulierung eines Politikers als "Trottel" verhältnismäßig sein könne, wenn diese Äußerung im Rahmen einer politischen Diskussion gefallen sei, die vom Kritisierten selbst ausgelöst und mit provokanten Aussagen geführt worden sei. Die Parallele zum vorliegenden Fall ist unverkennbar. Die gebotene Güterabwägung schlägt in solchen Fällen im Interesse der für eine funktionierende Demokratie unbedingt erforderlichen freien Diskussion zu Gunsten des Grundrechts der Meinungs- und Redefreiheit aus. Dies kann zwar - wie die hier festgestellten Äußerungen der Prozessparteien belegen - zu der oft beklagten "Verrohung" der Sprache im politischen Alltag führen, ist aber wegen höherwertiger anderer Interessen in Kauf zu nehmen. Ein Abgehen von dieser zuletzt ständig vertretenen Rechtsansicht stünde im Widerspruch zur zitierten Judikatur des EGMR.

Die Entscheidung über die Kosten des Provisorialverfahrens beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO iVm den §§ 78 und 402 EO.

Rechtssätze
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