JudikaturJustiz4Ob142/21t

4Ob142/21t – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. Januar 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat Hon.-Prof. PD Dr. Rassi als Vorsitzenden und die Hofräte und Hofrätinnen Dr. Schwarzenbacher, Dr. Kodek, MMag. Matzka sowie Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G* G*, vertreten durch Viehböck Breiter Schenk Nau Rechtsanwälte OG in Mödling, gegen die beklagte Partei A*ges.m.b.H., *, vertreten durch Celar Senoner Weber Wilfert Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Herausgabe eines Buchauszugs (Streitwert 4.000 EUR) und 41.049,64 EUR sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei, gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 28. Mai 2021, GZ 5 R 162/20k 66, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 30. September 2020, GZ 48 Cg 28/19f 59, bestätigt wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben .

1. Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die hinsichtlich des Zuspruchs von Schadenersatz an die klagende Partei in Höhe von 2.425,86 EUR sA und der Abweisung des Schadenersatzmehrbegehrens von 11.477,76 EUR in Rechtskraft erwachsen sind, werden hinsichtlich des Begehrens auf Herausgabe des Buchauszugs mittels Teilurteils dahin abgeändert, dass es wie folgt zu lauten hat:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei zu Handen der Klagevertreterin über sämtliche Geschäfte im Zeitraum 1. 10. 2015 bis 31. 8. 2020, die zugunsten der klagenden Partei provisionspflichtig sind oder provisionspflichtig sein könnten, einen vollständigen und richtigen Buchauszug mit folgendem Inhalt zu übermitteln sowie alle Auskünfte zu diesen Geschäftsfällen zu erteilen:

Name/Firma und Anschrift des Kunden, Kundennummer, Datum der Auftragserteilung bzw des Vertragsabschlusses, Umfang des erteilten Auftrags, Preis, Datum der Auftragsbestätigung, Datum der Lieferungen, Umfang der (Teil-)Lieferungen, Nachbestellungen, Datum und Nummer der Rechnung bzw Teilrechnungen, Rechnungsbetrag netto/brutto, gewährte Nachlässe, Skonti, Rabatte, Datum der Zahlung (Anzahlung/Vorauszahlung/Teilzahlung), Nichtleistung des Kunden und Angaben über Betreibungsmaßnahmen, Höhe der bezahlten Beträge/Anzahlungen/Vorauszahlungen, Nichtausführung eines Geschäfts und die Gründe dafür, Storni

Die Entscheidung über die auf diesen Teil des Begehrens entfallenden Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen wird dem Endurteil vorbehalten.“

2. Im Übrigen, also im Umfang der Entscheidung über die Folgeprovisionen (27.146,02 EUR) und der Kostenentscheidung, werden die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Rechtssache wird insoweit zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die auf diesen Teil des Begehrens entfallenden Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger schloss am 9. 9. 2015 mit dem nunmehrigen Geschäftsführer der später gegründeten beklagten Gesellschaft eine Vereinbarung über die Vermittlung von Energielieferverträgen für ein Energieversorgungsunternehmen. Die Beklagte übernahm diesen Vertrag mit Vereinbarung vom 26. 9. 2016. Mit Schreiben vom 1. 2. 2018 beendete sie das Vertragsverhältnis mit dem Kläger durch fristlose Auflösung.

[2] Die Vereinbarung hatte auszugsweise wie folgt gelautet:

1. Präambel, Vertragsgegenstand

1.1. Der Vertriebspartner [Der Kläger] ist ein selbständiger Vertriebsunternehmer. Ihm ist bekannt, dass [Beklagte] mit der Vermittlung von Energielieferverträgen für [Energieversorgungsunternehmen] (Lieferant) beauftragt ist.

Der Vertriebspartner erhält weder ein fixes Entgelt noch Spesenersatz. Er ist hinsichtlich des Ortes und der Zeit ihrer Tätigkeit nach Maßgabe dieses Vertrags sowie des sonstigen auf seine Arbeit bezogenen Verhaltens völlig frei und in die Organisation von [Beklagte] nicht eingebunden. Es trifft sie keine persönliche Arbeitspflicht.

[...]

In Folge der erfolgreichen Vermittlung schließt ein Kunde einen Energielieferungsvertrag mit dem Lieferanten ab. Dieses Rechtsgeschäft ist im Sinne dieses Vertrags provisionsanspruchsbegründend. Dieses Vertragsverhältnis wird mit den Lieferanten und dem Kunden auf Basis der Vereinbarung mit [Beklagte] abgeschlossen. […]

[…]

3.4. Das vom Vertriebspartner zu bearbeitende Kundensegment umfasst primär Kunden bis zu einem Jahresverbrauch von 10.000 MWh Strom und 10.000 MWh Gas. [...]

[…]

6. Provision

6.1. Dem Vertriebspartner steht eine Provision für seine Tätigkeit dann zu, wenn

1. ein Vertragsabschluss auf die überwiegende Vermittlungstätigkeit des Vertriebspartners zurückzuführen ist und

2. der Vertrag des Kunden mit dem Lieferanten unter einer mindestens einjährigen Bindung des Kunden abgeschlossen wurde und

3. sobald die erste Teilbetragsvorschreibung bzw. Monatsrechnung des Lieferanten an den Kunden von diesem bezahlt worden ist. […]

Die Abrechnung der Provisionen erfolgt monatlich im Nachhinein auf Basis des tatsächlich gemessenen Verbrauches des Kunden. […]

6.5. [Beklagte] übermittelt 4 Wochen nach Ende des Kalendermonats eine Provisionsabrechnung. Der Vertriebspartner ist verpflichtet, bei sonstigem Verlust aller Ansprüche binnen zwei Wochen nach Erhalt der Provisionsabrechnung schriftlich konkrete Einwendungen zu erheben. Nach Klärung eventueller Streitfragen stellt der Vertriebspartner [Beklagte] eine Rechnung für die ihm zustehenden Provisionen aus. [Beklagte] wird diese bis maximal 14 Tage nachdem [Beklagte] die betreffenden Provisionszahlungen für diese Kunden erhalten hat, zur Überweisung bringen. […]

6.6. Spätere Forderungen des Vertriebspartners zu bereits abgeschlossenen Provisionsabrechnungen können nicht mehr geltend gemacht werden und gelten als verfristet; […]

6.8. Die Provisionen des Vertriebspartners lt. diesem Punkt und Anlage ./1 regeln dessen Ansprüche abschließend. Darüber hinaus stehen dem Vertriebspartner keinerlei wie auch immer geartete Ansprüche, etwa aus Aufwandsentschädigungen sowie insbesondere Ausgleichsansprüchen nach § 24 HVertrG, zu. Der Provisionsanspruch endet, sobald [Beklagte] für den vom Vertriebspartner vermittelten Vertrag selbst den Provisionsanspruch verliert, beziehungsweise keine Provisionen erhält. […]

9. Einhaltung rechtlicher Bestimmungen

[...]

Zwischen [Beklagte] und dem Vertriebspartner entsteht durch diese Vereinbarung weder ein Gesellschafts- noch ein Handelsvertreterverhältnis. […]

10. Dauer dieser Vereinbarung

11.1. Der Vertrag tritt mit Unterzeichnung durch beide Parteien in Kraft und wird auf unbestimmte Dauer abgeschlossen. Der Vertrag kann unter Einhaltung einer dreimonatigen Kündigungsfrist aufgekündigt werden. Die Kündigung hat schriftlich zu erfolgen.

11.2. Unabhängig davon besteht für jeden Vertragspartner die Möglichkeit der außerordentlichen, fristlosen Kündigung aus wichtigen Gründen. Als wichtige Gründe gelten insbesondere Zahlungsunfähigkeit, Insolvenzeröffnung, Auflösung oder Liquidation des Unternehmens eines Vertragspartners, Abweisung eines Antrags auf Insolvenzeröffnung mangels kostendeckenden Vermögens sowie fortgesetzte oder gravierende Pflichtverletzungen des Vertragspartners in Bezug auf diesen Vertrag. […] Aus dem Umstand einer ordentlichen oder außerordentlichen Vertragsauflösung durch [Beklagte] oder den Vertriebspartner stehen dem Vertriebspartner keine Ansprüche gegen [Beklagte] oder die Lieferanten zu, erworbene Provisionsansprüche erlöschen. […]

[3] Ein Mindestumsatz wurde zwischen den Streitteilen nicht vereinbart. Der Kläger engagierte sich in erster Linie für die Vermittlung von Verträgen an Groß- und Gewerbekunden. Dabei ging es um den Abschluss von Direktverträgen (zwischen den Kunden und dem Energieversorgungsunternehmen), wobei die Vertragsdauer (innerhalb welcher vom Stromanbieter ein bestimmter Preis garantiert wurde) bei Stromlieferverträgen mit höchstens drei Jahren, bei Gaslieferverträgen mit höchstens zwei Jahren festgelegt werden konnte. Nicht gekündigte Verträge liefen automatisch weiter. Die durch die Kunden unterfertigten Verträge leitete der Kläger an seinen Teamleiter weiter. Die Beklagte reichte die Verträge sodann beim Energieversorgungsunternehmen ein. Die Provisionsabrechnung erfolgte über die Beklagte, die einmal im Monat eine anhand der einzelnen Kunden und Werte aufgeschlüsselte Liste mit der Höhe der zustehenden Provisionsansprüche übermittelte, welche der Kläger jeweils überprüfte und anhand derer er eine Rechnung an die Beklagte ausstellte. Die Höhe der Provision des Klägers ergab sich aus dem tatsächlichen Energieverbrauch der Kunden, wobei er einen bestimmten Prozentsatz vom Differenzbetrag zwischen dem Verkaufs- und Einkaufspreis erhielt. Neben dieser Tätigkeit, die etwa die Hälfte seiner Arbeitszeit einnahm, war der Kläger weiterhin im Biervertrieb sowie im Vertrieb von Lernsystemen tätig. Darüber hinaus fungierte er als Handelsvertreter für ein Unternehmen, welches Tankstellen für Elektroautos betreibt. In der Zeit seiner Tätigkeit für die Beklagte konnte der Kläger rund 34 Kunden vermitteln. Er lukrierte im Jahr 2015 Provisionen von 516,82 EUR, im Jahr 2016 4.910,24 EUR und im Jahr 2017 7.014,54 EUR (jeweils netto). Unter Berücksichtigung seiner weiteren Vertriebstätigkeiten erzielte der Kläger in diesem Zeitraum ein monatliches Nettoeinkommen von insgesamt 5.000 bis 6.000 EUR. Für das Jahr 2018 hätte der Provisionsanspruch des Klägers aus der Tätigkeit für die Beklagte insgesamt 8.483,13 EUR (netto) betragen.

[4] Der Kläger begehrte die Herausgabe eines Buchauszugs für den Zeitraum 1. 10. 2015 bis 31. 8. 2020 sowie die Zahlung der sich daraus ergebenden Provisionen. Weiters begehrte er Zahlung von 41.049,64 EUR sA, davon 2.103,40 EUR an Schadenersatz wegen der unberechtigten vorzeitigen Kündigung, 11.800,22 EUR an Schadenersatz wegen der durch die vorzeitige Kündigung vereitelten Provisionen für Vertragsverlängerungen mit bestehenden Kunden, sowie 27.146,02 EUR an Folgeprovisionen für den Zeitraum Jänner 2018 bis August 2020. Ein wichtiger Grund für die fristlose Auflösung des Vertragsverhältnisses sei nicht gegeben gewesen. Auf den Vertrag sei das Handelsvertretergesetz (HVertrG) anzuwenden. Die gegenteilige Regelung in Punkt 9. des Vertrags könne daran nichts ändern. Der in Punkt 11.2. des Vertrags vorgesehene Ausschluss der Provisionsfortzahlungen sei nach § 879 Abs 1 und Abs 3 ABGB sittenwidrig. Dem Kläger stünden weiterhin die Provisionen aus den von ihm vermittelten Dauerverträgen zu.

[5] Die Beklagte wendete ein, der Kläger verfüge ohnehin über sämtliche Abrechnungslisten, sodass ein Anspruch auf Übermittlung von Buchauszügen schon deshalb nicht zu Recht bestehe. Nach dem Vertrag seien Einwendungen gegen die Provisionsabrechnungen bei sonstigem Verlust aller Ansprüche binnen zwei Wochen nach deren Erhalt zu erheben. Die Beklagte habe den Vertrag mit dem Kläger deswegen fristlos gekündigt, weil dieser unter anderem versucht habe, bereits gewonnene Kunden für ein anderes Unternehmen abzuwerben. Die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche seien überdies weit überhöht. Im Übrigen habe der Kläger eine Pönalstrafe von insgesamt 97.500 EUR zu zahlen (wegen Vertriebsverweigerung, Verletzung von Geheimhaltungspflichten, Unruhestiftung im Team, Kontaktaufnahme mit der Konkurrenz, Abwerben von Kunden und Verletzung der Vertraulichkeitsvereinbarung), welcher Betrag aufrechnungsweise als Gegenforderung geltend gemacht werde.

[6] Das Erstgericht erkannte die Klagsforderung mit 2.425,86 EUR als zu Recht bestehend und die Gegenforderung der Beklagten als nicht zu Recht bestehend. Die 2.425,86 EUR setzten sich aus 848,31 EUR an Folgeprovision für den Monat Jänner 2018 und aus 1.577,55 EUR an Schadenersatz für entgangene Provisionen wegen der nicht eingehaltenen dreimonatigen Kündigungsfrist zwischen 1. 2. und 1. 5. 2018 zusammen. Das Buchauszugsbegehren sowie das Zahlungsmehrbegehren (11.477,76 EUR Schadenersatz und 27.146,02 EUR Folgeprovisionen) wies das Erstgericht ab. Der vereinbarte Ausschluss von (Provisions-)Ansprüchen nach Vertragsbeendigung halte der Inhaltskontrolle nach § 879 Abs 3 ABGB stand. Es liege auch keine Nichtigkeit nach § 879 Abs 1 ABGB vor. Für die Zeit nach Vertragsbeendigung bestehe daher kein Anspruch des Klägers auf Auszahlung von Folgeprovisionen. Für den Zeitraum davor und das gesamte Jahr 2018 stehe dem Anspruch auf Herausgabe eines Buchauszugs entgegen, dass der Kläger die von der Beklagten unter gleichzeitiger Vorlage entsprechender Datenblätter bekannt gegebenen Provisionsansprüche nicht weiter bestritten, sondern sogar seinen eigenen Berechnungen zugrundegelegt habe. Der Kläger habe allerdings keine Handlungen im Sinne eines wichtigen Grundes für die fristlose Kündigung des Vertragsverhältnisses gesetzt. Neben der offenen Provision für Jänner 2018 stehe dem Kläger daher (nur) Schadenersatz für entgangene Provisionen wegen der nicht eingehaltenen dreimonatigen Kündigungsfrist zu. Der Kompensationseinwand der Beklagten sei unschlüssig.

[7] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

[8] Gegen die Abweisung des Buchauszugsbegehrens und der Folgeprovisionen (27.146,02 EUR) richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers mit dem Antrag, der Klage auch insoweit Folge zu geben; in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Die Beklagte beantragt (nach Freistellung) mit ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen bzw ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist mangels höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage der Sittenwidrigkeit von Vorausverzichtsklauseln von nicht arbeitnehmerähnlichen Handelsvertretern zulässig ; sie ist auch berechtigt.

[11] 1. Die Revision richtet sich gegen die von den Vorinstanzen ausgesprochene Verneinung der Frage, ob der Vorausverzicht eines Handelsvertreters auf sogenannte „Überhangprovisionen“ auch dann sittenwidrig nach § 879 Abs 1 oder Abs 3 ABGB ist, wenn dieser selbstständiger Unternehmer und nicht arbeitnehmerähnlich ist bzw der Verlust dieser Folgeprovisionen keine Existenzgefährdung bedeutet. Das Berufungsgericht stützte seine Rechtsansicht auf die Entscheidungen 3 Ob 138/14m und 9 ObA 19/17k.

[12] 1.1. Die Entscheidung 3 Ob 138/14m erging zu einem Versicherungsvermittler. Dabei definierte der 3. Senat zunächst Überhangprovisionen als solche, die für vor Vertragsbeendigung abgeschlossene, jedoch erst nach Beendigung ausgeführte Geschäfte gebühren und vor allem bei der Vermittlung von Dauerschuldverhältnissen typisch sind. Nach der dispositiven Regelung des § 8 Abs 2 HVertrG hat der Handelsvertreter auch auf solche Provisionen Anspruch. Regelmäßig seien solche Folgeprovisionen zumindest zum Großteil zeitlich auf die Vertragslaufzeit verteilte Abschlussprovisionen und nur zum geringen Teil eine Vergütung für die laufende Kundenbetreuung (Pkt 2). Im Weiteren stellt die Entscheidung darauf ab, dass der dortige Kläger arbeitnehmerähnlich war. Sie nimmt Bezug auf Vorjudikatur, wonach bei arbeitnehmerähnlichen Handelsvertretern Sittenwidrigkeit darin erkannt wurde, dass dieser bei der Vorwegverzichtsklausel bereits verdientes Entgelt wieder verliert und so in seiner Beendigungsfreiheit eingeschränkt wird (Pkt 4). Diese Erwägungen trügen auch im dort vorliegenden Fall einer unbegründeten Eigenkündigung. In diesem Fall stünde dem Kläger kein Ausgleichsanspruch zu, sodass er auf die Folgeprovisionen zur Sicherung seiner Existenz dringend angewiesen sei. Aber auch der Zeitpunkt des Verzichts sei zu berücksichtigen, denn zu diesem Zeitpunkt habe er den Erfolg seiner Tätigkeit und damit den möglichen Verlust nicht voraussehen können, während die Beklagte nur davon profitieren könnte. Dies stelle eine einseitige Benachteiligung des Klägers dar (Pkt 5).

[13] 1.2. Ebenfalls einen arbeitnehmerähnlichen Kläger betraf die Entscheidung 9 ObA 19/17k. Auch dort wurde die Sittenwidrigkeit (§ 879 Abs 1 ABGB) einer Provisionsverzichtsklausel bei vorzeitigem Austritt eines arbeitnehmerähnlichen Versicherungsvertreters angenommen.

[14] 1.3. Beide Entscheidungen betrafen somit arbeitnehmerähnliche Versicherungsvertreter. Sie stellen in ihrer Begründung auch ganz wesentlich darauf ab, dass gerade aufgrund der Arbeitnehmerähnlichkeit durch den Verlust der Folgeprovisionen eine Existenzgefährdung der Kläger eintreten konnte, weil diese auf das Einkommen zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts insoweit angewiesen waren. Daraus folgt aber nicht, dass der Oberste Gerichtshof die Sittenwidrigkeit derartiger Vorwegverzichtsklauseln bei einem selbstständigen Handelsvertreter ohne Arbeitnehmerähnlichkeit (implizit) abgelehnt hätte.

[15] 2.1. Die Entscheidung 3 Ob 138/14m hat (entgegen einem Teil der Literatur, der sich für die grundsätzliche Zulässigkeit solcher Klauseln ausspricht [vgl etwa Nocker , HVertrG², § 8 Rz 43 ff; ders , Der Ausgleichsanspruch des Versicherungsvertreters „analog“ § 24 HVertrG, wbl 2004, 53; Petsche/Petsche-Demmel , Handelsvertretergesetz² § 8 Rz 23]) Sittenwidrigkeit nach § 879 Abs 1 ABGB bejaht. Fraglich ist, ob die dort dargestellten Erwägungen auch für andere Fälle gelten.

[16] 2.2. Hohl (Anmerkungen zum höchstgerichtlichen Urteil 3 Ob 138/14m – Folgeprovisionsanspruch des Versicherungsagenten bei [grundloser] Selbstkündigung des Agenturvertrags – Darstellung der praktischen Auswirkungen, ZFR 2015, 166) geht zwar – irrig – davon aus, 3 Ob 138/14m habe die Unwirksamkeit der Klausel nach § 879 Abs 3 ABGB bejaht (während es tatsächlich Abs 1 war), nimmt jedoch erkennbar an, dass die Arbeitnehmerähnlichkeit notwendige Bedingung für das Ergebnis war, wenn er die Unanwendbarkeit der Rechtsprechung für Mehrfachagenten fordert.

[17] 2.3. Breiter (Provisions- und Ausgleichsanspruch des Handelsagenten für Dauerverträge nach österreichischem Recht, IHR 2015, 45) hebt als Kriterium die Art der vermittelten Verträge hervor. Vermittle der Handelsagent Dauerverträge, sei seine Situation unter Umständen mit einem Versicherungsagenten vergleichbar. Könne es durch die Provisionsverzichtsklausel von Anfang an aber nur zu unwesentlichen Provisionsverlusten kommen, könne die Kündigungsfreiheit des Handelsagenten nicht spürbar eingeschränkt worden sein; einseitig bleibe die Klausel aber allemal. Darüber hinaus gelte für Formularverträge, dass Sittenwidrigkeit nach § 879 Abs 3 ABGB bereits dann vorliege, wenn ohne sachlichen Grund von dispositivem Recht – hier von der Fortzahlung von Überhang- und nachvertraglichen Provisionen – abgegangen werden solle (vgl auch Breiter , Zum Anspruch auf Folgeprovisionen von Versicherungsagenten – eine Replik zu Hohl , ZFR 2015/80, 166).

[18] 2.4. Körber (Provisionsverzichtsklauseln in Verträgen mit selbstständigen Versicherungsvertretern, wbl 2006, 406) stellt entscheidend auf die Arbeitnehmerähnlichkeit ab. Bei unabhängigen Mehrfachagenten fehle das Element der verdünnten Willensfreiheit, sodass der Vorwegverzicht als einseitige Unterwerfung unter den Willen des Vertragspartners zulässig sei. Sittenwidrig könne dann nur die unbillige Ausübung dessen Ermessens sein, insbesondere dann, wenn er den Vertrag unberechtigt aufkündige, etwa um bald anstehende, größere Provisionszahlungen zu vermeiden.

3. Sittenwidrigkeit nach § 879 Abs 1 ABGB

[19] 3.1. Die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts ist unter Berücksichtigung aller Umstände, unter denen es geschlossen wurde, anhand der von der Gesamtrechtsordnung geschützten Interessen zu beurteilen, wobei es auf Inhalt, Zweck und Beweggrund des Geschäfts, also auf den Gesamtcharakter der Vereinbarung ankommt (RS0113653; RS0022884). Sittenwidrigkeit liegt insbesondere dann vor, wenn der Vertrag eine krasse einseitige Benachteiligung eines Vertragspartners enthält. Im Hinblick auf den Grundsatz der Privatautonomie wird die Rechtswidrigkeit wegen eines Verstoßes gegen die guten Sitten nur dann bejaht, wenn die Interessenabwägung eine grobe Verletzung rechtlich geschützter Interessen ergibt oder wenn bei einer Interessenkollision ein grobes Missverhältnis zwischen den durch die Handlung verletzten und den durch sie geförderten Interessen besteht (RS0045886). Bei den durch die guten Sitten umschriebenen Schranken der Rechtsausübung geht es letztlich darum, die zwischen den Parteien bestehenden Interessenlagen zu würdigen und die im Hinblick darauf angemessenen Rechtsfolgen in Abweichung von den Regelungsmustern der einschlägigen speziellen Rechtsnormen zu finden (RS0016478).

[20] 3.2. Während der arbeitnehmerähnliche Handelsvertreter zur Bestreitung seines Lebensunterhalts auf das Einkommen aus einem einzigen Vertragsverhältnis besonders angewiesen ist (vgl RS0086136), ist dies bei Mehrfachagenten – wie hier beim Kläger – nicht der Fall. Das entgangene Einkommen des Klägers aus den verfallenen Provisionen war nach den Feststellungen auch kein wesentliches. Doch ist der Revision insoweit Recht zu geben, als dies bei Vertragsabschluss (vgl RS0017936) nicht vorhersehbar war.

[21] 3.3. Hinzu kommt, dass 3 Ob 138/14m wesentlich darauf abgestellt hat, dass der Kläger wegen seiner unberechtigten Eigenkündigung keinen Ausgleichsanspruch nach § 24 HVertrG geltend machen konnte. Tatsächlich wird der Ausgleichsanspruch in der Literatur als zentrales Argument für die Zulässigkeit von Provisionsverzichtsklauseln angeführt ( Körber , Provisionsverzichtsklauseln in Verträgen mit selbstständigen Versicherungsvertretern, wbl 2006, 406 [411 f]; Thume in Küstner/Thume , Handbuch des gesamten Vertriebsrechts I5, Kap V Rz 171 ff, insb 172; vgl auch Graf v. Westphalen , Die Provisionsverzichtsklausel im Spannungsverhältnis zum Ausgleichsanspruch des Versicherungsvertreters, DB 2003, 2319 [2322 f]), weil die (entgangene) Provision bei der Bemessung des Ausgleichsanspruchs berücksichtigt und der Verlust derart gemindert werden könne (so auch Ströbl im MüKomm zum HGB 5 , § 89b Rz 103; Nocker , HVertrG², § 8 Rz 46). Gerade diesen Ausgleichsanspruch hat die Beklagte hier aber in Punkt 6.8 des Vertrags ebenfalls ausgeschlossen.

[22] 3.4. Die hier vereinbarte Verzichtsklausel erfasst auch die unberechtigte vorzeitige Vertragsauflösung des Geschäftsherrn. Dieser (die Beklagte) hat es damit einseitig in der Hand, dem Handelsvertreter (dem Kläger) seine für den Vertragsabschluss ausgelobten Überhangprovisionen zu nehmen, ohne dass dieser dafür irgendeine Form des Äquivalents, etwa im Rahmen eines Ausgleichsanspruchs, erhält. Eine derartige Vereinbarung ist als grobe Verletzung rechtlich geschützter Interessen des Klägers und somit als sittenwidrig im Sinn von § 879 Abs 1 ABGB zu qualifizieren. Auf die Prüfung nach § 879 Abs 3 ABGB kommt es damit nicht weiter an.

[23] 4.1. Das (im Wege der Stufenklage [RS0035140] geltend gemachte) Buchauszugsbegehren besteht daher zu Recht. Der Revision des Klägers ist daher insoweit Folge zu geben und dem Buchauszugsbegehren mittels Teilurteils stattzugeben.

[24] 4.2. Die Entscheidung über die Folgeprovisionen (27.146,02 EUR) ist noch nicht spruchreif. Insoweit ist der Revision des Klägers im Sinne seines eventualiter gestellten Aufhebungsbegehrens Folge zu geben und die Entscheidungen der Vorinstanzen sind in diesem Umfang aufzuheben.

[25] 4.3. Im fortgesetzten Verfahren über die Folgeprovisionen wird mit den Parteien auch zu erörtern sein, ob und gegebenenfalls welcher Teil der Folgeprovisionen auf Bestandspflege entfiel. Insoweit wird der Anspruch zu kürzen sein, weil dem keine Leistungen des Klägers mehr gegenüberstanden.

[26] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 und Abs 4 ZPO.

Rechtssätze
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