JudikaturJustiz2Ob101/15i

2Ob101/15i – OGH Entscheidung

Entscheidung
02. Juli 2015

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé und den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei U***** AG, *****, vertreten durch Dr. Annemarie Stipanitz-Schreiner und andere Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagten Parteien 1. DI M***** G*****, 2. M***** GmbH, *****, und 3. A***** Aktiengesellschaft, *****, alle vertreten durch Dr. Karin Prutsch, Rechtsanwältin in Graz, wegen 32.441,88 EUR sA, über die Revision der beklagten Parteien (Revisionsinteresse 18.673,91 EUR sA) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 16. Jänner 2015, GZ 3 R 202/14x 32, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 25. September 2014, GZ 19 Cg 22/13g 25, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 1. Oktober 2014, GZ 19 Cg 22/13g 26, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagten Parteien sind schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 1.286,81 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin 214,47 EUR USt) zu ersetzen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Die Parteien streiten über das Verschulden an einem Unfall auf einer unübersichtlichen Kreuzung. Beide beteiligten Fahrzeuge hatten die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h eingehalten. Der Erstbeklagte hatte als Lenker des von der Zweitbeklagten gehaltenen und bei der Drittbeklagten haftpflichtversicherten Beklagtenfahrzeugs den Rechtsvorrang des bei der Klägerin kaskoversicherten Klagsfahrzeugs verletzt.

Die Klägerin macht einen nach § 67 VersVG auf sie übergegangenen Schadenersatzanspruch geltend. Sie stützt sich auf die Vorrangverletzung des Erstbeklagten.

Die Beklagten wenden ein Mitverschulden von einem Drittel ein. Die Lenkerin des Klagsfahrzeugs sei relativ zu schnell gefahren, weil sie ihrerseits mit einem von links kommenden und damit ihr gegenüber bevorrangten Fahrzeug rechnen habe müssen. Weiters sei die Kreuzung wegen hoher Hecken unübersichtlich gewesen, weswegen ein Verkehrsspiegel angebracht gewesen sei. Die Lenkerin des Klagsfahrzeugs hätte darin die Annäherung des Beklagtenfahrzeugs erkennen und unfallvermeidend anhalten können.

Das Erstgericht verneinte ein Mitverschulden. Es stellte fest, dass sowohl der Erstbeklagte als auch die Lenkerin des Klagsfahrzeugs den Unfall hätten vermeiden können, wenn sie in den Spiegel geblickt hätten. Zu einem Blick in den Spiegel sei die Lenkerin des Klagsfahrzeugs aber nicht verpflichtet gewesen. In Bezug auf eine (allenfalls) relativ überhöhte Geschwindigkeit des Klagsfahrzeugs fehle der Rechtswidrigkeitszusammenhang.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die Revision zunächst nicht zu. Die Lenkerin des Klagsfahrzeugs hätte selbst dann, wenn sie das Beklagtenfahrzeug im Spiegel wahrgenommen hätte, darauf vertrauen dürfen, dass dessen Lenker ihren Vorrang beachten würde. Zudem würde ein geringfügiges Verschulden gegenüber der Vorrangverletzung des Erstbeklagten nicht ins Gewicht fallen. Auf die wegen der Möglichkeit eines von rechts kommenden Fahrzeugs (allenfalls) relativ überhöhte Geschwindigkeit des Klagsfahrzeugs komme es nicht an, weil nur das Fahrverhalten der Lenkerin des Klagsfahrzeugs in Bezug auf das Beklagtenfahrzeug zu beurteilen sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich eine mit einem Antrag nach § 508 ZPO verbundene ordentliche Revision der Beklagten . Sie stehen weiterhin auf dem Standpunkt, dass die Lenkerin des Klagsfahrzeugs zu einem Blick in den Verkehrsspiegel und zu einer „entsprechenden“ Anpassung der Fahrgeschwindigkeit verpflichtet gewesen wäre. Zudem hätte die Lenkerin des Klagsfahrzeugs schon deswegen langsamer fahren müssen, weil sie ihrerseits mit einem von rechts kommenden Fahrzeug rechnen habe müssen.

Das Berufungsgericht ließ die Revision nachträglich zu, weil dem „in § 20 StVO verankerten Verbot des Einhaltens einer auch bloß relativ überhöhten Geschwindigkeit […] in der Rechtsprechung schon ein umfassender Schutzzweck zugestanden [wurde] (es soll alle Gefahren verhindern helfen, die erhöhte Geschwindigkeiten mit sich bringen [ZVR 1997/45 allerdings dort bezogen auf eine dem Lärmschutz dienende absolute Geschwindigkeitsbeschränkung])“.

Die Klägerin beantragt in der Revisionsbeantwortung , die Revision der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Die Revision ist unzulässig .

1. Die vom Berufungsgericht bezeichnete Rechtsfrage hat keine erhebliche Bedeutung iSv § 502 Abs 1 ZPO.

1.1. Zwar hat der Oberste Gerichtshof bisher soweit überblickbar noch nicht zur Frage Stellung genommen, ob eine wegen der Möglichkeit eines von rechts kommenden (bevorrangten) Fahrzeugs relativ überhöhte Geschwindigkeit im Rechtswidrigkeitszusammenhang mit der Beschädigung eines von links kommenden (benachrangten) Fahrzeugs steht. Auch in einem solchen Fall liegt aber dann keine erhebliche Rechtsfrage vor, wenn der Streitfall mit Hilfe vorhandener Leitlinien höchstgerichtlicher Rechtsprechung gelöst werden kann ( Zechner in Fasching/Konecny 2 § 502 ZPO Rz 70 mwN; RIS-Justiz RS0042656 [T48]).

1.2. Das trifft hier zu:

(a) Nach ständiger Rechtsprechung dient § 20 Abs 1 StVO dazu, die Gefährdung und Verletzung solcher Personen und Sachen zu vermeiden, die als Hindernisse wahrnehmbar oder zu erwarten sind; der Schutzzweck erfasst nicht auch Hindernisse, die plötzlich, unvermutet und für den Lenker nicht vorhersehbar auftauchen (2 Ob 277/74; RIS Justiz RS0027564; zuletzt etwa 2 Ob 32/10k). Die Frage, ob ein Hindernis vorhersehbar oder unvorhersehbar war, kann typischerweise nur aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (2 Ob 32/10k).

(b) Auf dieser Grundlage stellt sich hier die Frage, ob das in die Kreuzung einfahrende Beklagtenfahrzeug für die Lenkerin des Klagsfahrzeugs ein „vorhersehbares Hindernis“ war. Das konnte vom Berufungsgericht in vertretbarer Weise verneint werden, weil die Lenkerin des Klagsfahrzeugs nicht mit der Vorrangverletzung eines von links kommenden Fahrzeugs rechnen musste (§ 3 StVO; RIS Justiz RS0073271 [T2]).

(c) Die zur Begründung der Revisionszulassung angeführte Entscheidung 2 Ob 2028/96 (= ZVR 1997/45) betraf, wie das Berufungsgericht ohnehin richtig erkannte, nicht eine relativ überhöhte Geschwindigkeit, sondern den Verstoß gegen eine nach § 43 Abs 1 lit b und Abs 2 lit a StVO verordnete Geschwindigkeitsbeschränkung und gegen die höchstzulässige Bauartgeschwindigkeit iSv § 58 Abs 1 Z 1 lit a KDV. Solche absolute Geschwindigkeitsbeschränkungen dienen regelmäßig der Verhinderung aller Gefahren im Straßenverkehr, die eine erhöhte Geschwindigkeit mit sich bringt (vgl RIS-Justiz RS0102780 [Höchstgeschwindigkeit während der Nacht]; RS0065754, RS0075478 [höchstzulässige Bauartgeschwindigkeit]). Der Schutzzweck des § 20 Abs 1 StVO ist demgegenüber auf wahrnehmbare oder zu erwartende Hindernisse beschränkt (RIS-Justiz RS0027564).

2. Auch sonst zeigt die Revision keine erhebliche Rechtsfrage auf.

2.1. Es kann offen bleiben, ob die Lenkerin des Klagsfahrzeugs zu einem Blick in den Verkehrsspiegel verpflichtet war. Zwar hätte sie dann die Annäherung des Beklagtenfahrzeugs sehen und unfallvermeidend reagieren können. Allerdings fiele ein allfälliges Mitverschulden nach der vertretbaren Auffassung des Berufungsgerichts nicht entscheidend ins Gewicht, weil die Lenkerin des Klagsfahrzeugs grundsätzlich darauf vertrauen durfte, dass von links kommende Fahrzeuge gerade wegen des Verkehrsspiegels ihren Vorrang beachten würden. Zudem hätte sie auch bei einem Blick in den Spiegel angesichts der geringen Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs (20 bis 25 km/h) annehmen dürfen, dass der Erstbeklagte den Vorrang beachten würde (RIS-Justiz RS0073423). Sie wäre daher auch in diesem Fall nicht zu bremsbereitem Fahren verpflichtet gewesen.

2.2. Die in der Revision für die gegenteilige Auffassung zitierte (unveröffentlichte) Entscheidung 2 Ob 92/77 betraf einen untypischen Fall: Der Erstbeklagte hatte dort eine Einbahn gegen die Fahrtrichtung befahren. Daran traf ihn jedoch kein Verschulden, weil an jener Kreuzung, an der er in die Einbahn eingefahren war, kein entsprechendes Verkehrszeichen angebracht gewesen war. Daher hatte er an der nächsten Kreuzung Rechtsvorrang gegenüber dem Klagsfahrzeug, dessen Lenkerin allerdings annahm, dass aus der Einbahn kein Fahrzeug kommen würde. Die Kreuzung war wie im vorliegenden Fall unübersichtlich, der Erstbeklagte hätte das Klagsfahrzeug über einen Verkehrsspiegel wahrnehmen können.

Unter diesen besonderen Umständen nahm der Oberster Gerichtshof ein Verschulden des dort bevorrangten Erstbeklagten von einem Viertel an, weil er nicht auf das im Spiegel erkennbare Klagsfahrzeug reagiert habe. Das beruhte jedoch offenkundig auf der Prämisse, dass das Verschulden des dort wartepflichtigen Klägers trotz seiner Vorrangverletzung eher gering war: Zwar durfte er nicht darauf vertrauen, dass die Verhältnisse seit seinem letzten Befahren der Verkehrsfläche, insbesondere im Hinblick auf die aufgestellten Verkehrszeichen, gleich geblieben wären (RIS-Justiz RS0073303). Sein Verschulden wog aber wegen seines Wissensstandes (grundsätzliches Bestehen der Einbahn) subjektiv deutlich geringer als jenes des im vorliegenden Fall wartepflichtigen Erstbeklagten, dem jedenfalls bewusst sein musste, dass Fahrzeuge von rechts kommen konnten und dann ihm gegenüber Vorrang hätten. Dieses unterschiedliche Gewicht des den Wartepflichtigen treffenden Verschuldensvorwurfs muss bei der Beurteilung eines allfälligen (Mit-)Verschuldens des Lenkers des bevorrangten Fahrzeugs berücksichtigt werden.

Selbst wenn daher in 2 Ob 92/77 ein nicht ganz zu vernachlässigendes Verschulden des bevorrangten Lenkers anzunehmen war, ist im vorliegenden Fall die Verneinung eines relevanten Mitverschuldens des Erstbeklagten jedenfalls vertretbar.

3. Aus diesen Gründen ist die Revision der Beklagten mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen.

4. Da die Klägerin auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen hat, sind die Beklagten zum Ersatz der Kosten der Revisionsbeantwortung verpflichtet (§§ 50, 41 ZPO).

Rechtssätze
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