JudikaturJustiz1Ob650/86

1Ob650/86 – OGH Entscheidung

Entscheidung
17. November 1986

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schragel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert, Dr. Gamerith, Dr. Hofmann und Dr. Schlosser als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Kinder Vendula M***, geb. am 5. Juni 1979 und Helena M***, geb. am 27. Juni 1982, infolge Revisionsrekurses der Eltern Ilse Romana M***, Hausfrau, und Mag. Zdenek M***, akademischer Maler, beide Linz, Tummelplatz 18, vertreten durch Dr. Peter Wiesauer, Rechtsanwalt in Linz, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Linz als Rekursgerichtes vom 24. Juli 1986, GZ. 13 R 517/86-59, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Linz vom 6. Juni 1986, GZ. 2 P 248/85-49, abgeändert wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung des Erstrichters wiederhergestellt wird.

Text

Begründung:

Die mj. Vendula M***, geb. am 5. Juni 1979, und die mj. Helena M***, geb. am 27. Juni 1982, sind die ehelichen Kinder des Zdenek M*** und der Ilse Romana M***. Die Mutter befand sich wegen Geisteskrankheit in den Jahren 1975 und 1976 in der Psychiatrischen Universitätsklinik Innsbruck und in den folgenden Jahren im Wagner-Jauregg-Krankenhaus Linz, zuletzt vom 4. November bis 29. November 1985 im Landes-Nervenkrankenhaus Hall in Tirol (ON 28). Sie weist keine Geistesschwäche auf, sondern verfügt über eine normale intellektuelle Begabung; es bestehen auch keine Anhaltspunkte für einen Mißbrauch von Alkohol oder Suchtgiften. Die Geisteskrankheit der Mutter, die sogenannte Legierungspsychose, gehört teils dem Formenkreis der Schizophrenie, teils jenem des manisch-depressiven Krankheitsgeschehens an. Aus dem Symptominventar des Spaltungsirreseins treten bei ihr fallweise Beeinträchtigungsideen, Körpergefühlsstörungen und Störungen des Erlebnisvollzuges und aus dem manisch-depressiven Krankheitsgeschehens Veränderungen der Stimmungslage und des Antriebs auf. Bei der Legierungspsychose kommt es zwar auch zu Perioden, in denen die Krankheitssymptome so sehr die Lebensführung beeinflussen, daß ein Anstaltsaufenthalt notwendig werden kann; wenn diese Perioden aber abklingen, hinterlassen sie keinen Defekt, sondern der vordem Kranke ist in den Intervallen ein völlig gesunder Mensch. Die Möglichkeit neuerlicher Schübe ist bei Ilse Romana M*** gegeben; die symptomfreie Periode wird voraussichtlich ein Jahr nicht übersteigen. Derzeit ist die Mutter frei von Krankheitserscheinungen. Bei Auftreten eines Schubs und in der Anpassungsphase nach einem stationären Aufenthalt ist die Erziehungsfähigkeit nicht gegeben. Eine konkrete Selbst- oder Gemeingefährlichkeit besteht bei der Legierungspsychose nicht. Der Vater ist von Beruf freischaffender Künstler; er befand sich fünfmal, am 22. November 1980, vom 21. November bis 9. Dezember 1981, vom 10. April 1982 bis 17. April 1982, vom 13. Dezember bis 14. Dezember 1982 und zuletzt am 2. Februar 1983 in Behandlung des Wagner-Jauregg-Krankenhauses Linz.

Mit einstweiliger Verfügung vom 10. Dezember 1985 (ON 25) verfügte das Erstgericht, daß vorläufig das Recht zur Pflege und Erziehung der Kinder der mütterlichen Großmutter Ilse F*** zustehe. Die Kinder befinden sich seither bei Ilse F***. Die Betreuung erfolgt ordnungsgemäß.

Das Erstgericht nahm mit Beschluß vom 6. Juni 1986 (ON 49) die Zurückziehung des Antrages des Vaters vom 10. Dezember 1985, der Mutter die Elternrechte zu entziehen, zur Kenntnis (Punkt 1) und sprach aus, daß die einstweilige Verfügung vom 10. Dezember 1985 (ON 25) außer Kraft trete, und das Recht, die Minderjährigen zu pflegen und erziehen, den Eltern Ilse Romana und Mag. Zdenek M*** zustehe (Punkt 2). Es machte die Wirksamkeit des Beschlusses vom Eintritt seiner Rechtskraft abhängig (Punkt 3).

Das Erstgericht stellte fest, daß eine Erziehungsuntüchtigkeit des Vaters nicht angenommen werden könne. Die Entziehung oder Einschränkung der elterlichen Rechte komme nur als äußerste Notmaßnahme in Betracht. Eine Entziehung der Elternrechte sei nicht schon bei einer geringfügigen Veränderung der Interessenlage, sondern nur dann zulässig, wenn sie zum Wohle des Kindes aus besonders schwerwiegenden Gründen erforderlich sei. Die Mutter werde voraussichtlich in einem Jahr wieder in eine Krankheitsphase geraten, die sie an der ordnungsgemäßen Betreuung der Kinder hindern werde. Daraus resultiere jedoch keine Gefährdung der Kinder, weil einerseits der eheliche Vater vorhanden sei, der den Gesundheitszustand seiner Ehefrau und die Betreuung der Kinder durch die Mutter überwachen könne und andererseits auch die Großmutter Ilse F*** in Ausübung ihres ihr zuerkannten wöchentlichen Besuchsrechts eine hinreichende Kontrolle über die Kinder und ihren Entwicklungszustand ausüben könne. Es habe sich auch in der letzten Krankheitsphase der Mutter im Jahre 1985 gezeigt, daß der Vater die Situation richtig eingeschätzt und sich selbst für die Überlassung der Kinder an die Großmutter ausgesprochen habe. Den Kindern seien sowohl die Lebensverhältnisse der Eltern als auch die der Großeltern bestens bekannt. Sollte sich in einer künftigen Krankheitsperiode der Mutter wiederum die Notwendigkeit ergeben, die Großmutter mit der Betreuung der Kinder zu befassen, wäre dies für die Kinder nicht völlig ungewohnt und neu.

Das Rekursgericht änderte den Beschluß des Erstrichters, der in seinem Punkt 1 als unangefochten ungerührt geblieben war, über Rekurs der mütterlichen Großmutter Ilse F*** dahin ab, daß es das Recht zur Pflege und Erziehung der mj. Kinder der Großmutter Ilse F*** übertrug.

Maßnahmen gemäß § 176 ABGB seien zu treffen, wenn das Wohl der Kinder gefährdet sei, wenn also besonders wichtige Gründe vorlägen, die eine Änderung der Zuteilung der Elternrechte dringend geboten erscheinen lassen. Die Interessen der Kinder hätten dabei absoluten Vorrang, darauf, ob die Eltern ihre Pflichten schuldhaft vernachlässigen, komme es nicht an; es genüge die objektive Nichterfüllung oder Vernachlässigung elterlicher Pflichten. Bei der Prüfung, was dem Wohl der Kinder entspreche, komme der Kontinuität der Erziehung ein besonderer Stellenwert zu, da es für die gedeihliche Entwicklung der Kinder von besonderer Bedeutung sei, daß sie in einer gewohnten Umgebung belassen werden. Der bisherige Krankheitsverlauf der Mutter habe erwiesen, daß sie praktisch jedes Jahr längere Zeit nicht in der Lage sein werde, für eine ordnungsgemäße Pflege und Erziehung der Kinder zu sorgen. Die in diesen Perioden auftretende Gefährdung des Wohles der Kinder könne auch nicht dadurch abgewendet werden, daß sich der Vater um die Kinder kümmere. Wie er selbst zugestanden habe, sei er als freischaffender Künstler nicht in der Lage, während der Krankheitsphasen der Mutter die Kinder voll zu versorgen. Auch wenn er in der Folge dieses Zugeständnis widerrufen habe und behaupte, daß er ohne weiteres seine Tätigkeit für die Dauer eines Monats unterbrechen und sich in dieser Zeit zur Gänze den Kindern widmen könne, stelle diese Zusicherung doch keine verläßliche Basis für die Annahme dar, daß den Kindern in den Zeitabschnitten, in denen die Mutter erziehungsunfähig sei, kein Schaden drohe. Es habe sich auch gezeigt, daß der Vater mit der Betreuung der Kinder überfordert gewesen sei und die Kinder jeweils zur Großmutter gebracht habe. Demzufolge sei aber im Interesse des Wohls der Kinder deren Pflege und Erziehung der Großmutter Ilse F*** anzuvertrauen.

Rechtliche Beurteilung

Dem gegen den Beschluß des Rekursgerichtes erhobenen Revisionsrekurs der Eltern kommt Berechtigung zu.

Gemäß § 176 ABGB hat das Gericht, wenn Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des mj. Kindes gefährden, die zur Sicherung des Wohles des Kindes erforderlichen Verfügungen zu treffen. Das Gericht darf insbesondere alle oder einzelne aus den persönlichen Beziehungen zwischen Eltern und mj. Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten (§ 144 ABGB) entziehen. § 145 ABGB sieht vor, daß, wenn einem Elternteil das Recht zur Pflege und Erziehung entzogen wurde, dieses Recht dem andern Elternteil zusteht. Sind beide Eltern betroffen, so hat das Gericht, erforderlichenfalls nach Anhörung der Verwaltungsbehörde, zu entscheiden, ob und welchem Großelternteil die Pflege und Erziehung zustehen soll. Eine Einschränkung der elterlichen Rechte ist nur dann zu verfügen, wenn dies unbedingt erforderlich ist und eine konkrete ernste Gefahr für das Kindeswohl besteht (EFSlg. 45.846, 43.326 u.a.). Die Entziehung oder Einschränkung elterlicher Rechte ist nur als äußerste Notmaßnahme zulässig (EFSlg. 45.849; SZ 51/112; SZ 51/136; SZ 47/137). Es hat daher auch bei der Entscheidung darüber, ob die Pflege und Erziehung bei einem Elternteil oder den Großeltern besser gewährleistet ist, eine Interessenabwägung nicht stattzufinden, vielmehr hat das Elternrecht Vorrang (EFSlg. 40.867; SZ 51/112). Einem Großelternteil kann Pflege und Erziehung des mj. Kindes daher nur dann übertragen werden, wenn die Eltern aus einem der in § 145 Abs. 1 ABGB genannten Gründe dazu selbst nicht in der Lage sind (EvBl. 1978/127).

Die Geisteskrankheit der Mutter ist dadurch gekennzeichnet, daß bei Auftreten eines Krankheitsschubes die voll ausgeprägte Symptomatik des Spaltungsirreseins mit Verfolgungsideen, Denkstörungen und Beeinträchtigungen des Erlebnisvollzuges gegeben sind, daß diese Symptome aber nach dem Abklingen des Krankheitszustandes vollständig verschwinden. Es ist daher auch nur während eines Krankheitsschubes die Erziehungsfähigkeit nicht gegeben (Gutachten des Sachverständigen Univ.Prof. Dr. Kaiser, S 169 d.A.). Selbst wenn die Krankheitsschübe voraussichtlich jährlich auftreten und einen ca. dreiwöchigen Krankenhausaufenthalt erforderlich machen sollten und die Erziehungsfähigkeit auch in der darauffolgenden Anpassungsphase nicht gegeben ist (Gutachten S 169 d.A.), reicht dies allein nicht aus, der Mutter das Recht zur Pflege und Erziehung vollständig zu entziehen. Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, daß der Vater, der den Beruf eines freischaffenden Künstlers ausübt, voraussichtlich doch in dieser Zeit die Pflege und Erziehung der Kinder übernehmen kann. Daß auch der Vater mehrmals, wenn auch stets nur kurze Zeit, in psychiatrischer Behandlung war - die letzte Behandlung liegt allerdings schon Jahre zurück - rechtfertigt gleichfalls nicht die Annahme seiner Erziehungsuntüchtigkeit und damit eine Maßnahme gemäß § 176 ABGB. Es liegen insgesamt keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, daß es dem Vater - gegebenenfalls unter Mithilfe der Großmutter - nicht möglich sein sollte, während eines Krankenhausaufenthaltes der Mutter die Erziehung der Kinder zu besorgen. Da den Kindern die Verhältnisse bei der Großmutter vertraut sind, wird ein Wechsel des Erziehungsberechtigten für sie mit keinen größeren psychologischen Belastungen verbunden sein, so daß dem Argument des Rekursgerichtes, die Stetigkeit der Erziehung erfordere, daß der Großmutter das Recht zur Pflege und Erziehung der Kinder dauernd eingeräumt werde, die getroffene Maßnahme nicht rechtfertigen kann.

Demzufolge ist spruchgemäß zu entscheiden.

Rechtssätze
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