JudikaturJustiz16Ok1/23t

16Ok1/23t – OGH Entscheidung

Entscheidung
02. Mai 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Kartellobergericht durch die Hofrätin Dr. Faber als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Kartellrechtssache der Antragstellerin Bundeswettbewerbsbehörde, Wien 3, Radetzkystraße 2, gegen die Antragsgegnerinnen 1. P* AG, 2. P* GmbH, 3. T* GmbH, 5. T* Bau GmbH, jeweils *, und 6. G. *gesellschaft m.b.H., *, alle vertreten durch die Wolf Theiss Rechtsanwälte GmbH Co KG in Wien, wegen Verhängung einer Geldbuße gemäß § 29 KartG, über den Antrag der Einschreiterin Gemeinde *, vertreten durch die Brand Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Akteneinsicht, über den Rekurs der Einschreiterin gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Kartellgericht vom 31. Jänner 2023, GZ 26 Kt 5/21m-43, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

[1] Mit Beschluss vom 17. 2. 2022 verhängte das Erstgericht über die Antragsgegnerinnen wegen Zuwiderhandlungen gegen § 1 KartG und Art 101 AEUV durch Preisabsprachen, Marktaufteilungen sowie unzulässigen Informationsaustausch in Bezug auf öffentliche und private Ausschreibungen im Bereich Hoch- und Tiefbau im Zeitraum von Juli 2002 bis Oktober 2017 eine Geldbuße von 62,35 Mio EUR. Diese Entscheidung des Kartellgerichts wurde am 25. 7. 2022 in der Ediktsdatei veröffentlicht. Von der V eröffentlichung wurden Angaben zu prognostizierten (Konzern-)Umsätzen der Erstantragsgegnerin betreffend das Jahr 2021 sowie bestimmte Verweise auf Urkunden zu Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen ausgenommen.

[2] Mit Schriftsatz vom 6. 12. 2022 beantragte die Einschreiterin Akteneinsicht in den Akt des Kartellgerichts, nämlich in den Antrag und die weiteren Schriftsätze der Antragstellerin sowie in die von ihr vorgelegten Urkunden, in die Schriftsätze der Antragsgegnerinnen und die von ihnen vorgelegten Urkunden, in die Schriftsätze und Urkunden des Bundeskartellanwalts sowie in Verhandlungsprotokolle, Beschlüsse und Verfügungen des Kartellgerichts, insbesondere in den Beschluss vom 17. 2. 2022 über die Verhängung einer Geldbuße. Von der Akteneinsicht auszunehmen seien nur Vergleichsausführungen und Kronzeugenerklärungen.

[3] Die Einschreiterin habe erstmals durch die Veröffentlichung der Entscheidung des Kartellgerichts Kenntnis davon erlangt, dass sie durch ein wettbewerbswidriges Verhalten der Antragsgegnerinnen, denen sie „gutgläubig“ Bauaufträge erteilt und dafür ein überhöhtes Entgelt gezahlt habe, geschädigt worden sei. Es stünden ihr daher zivilrechtliche Ersatzansprüche gegen diese zu. Aus der veröffentlichten Entscheidung ergebe sich zwar, dass die Einschreiterin von den wettbewerbswidrigen Absprachen betroffen gewesen sei. Darüber hinausgehende – für eine erfolgreiche Geltendmachung von Ersatzansprüchen aufgrund der festgestellten Wettbewerbsverstöße erforderliche – Informationen seien daraus jedoch nicht ableitbar. Diese würden sich jedoch aus dem Akt des Kartellgerichts ergeben, weshalb der Einschreiterin eine Einsichtnahme in diesen zu bewilligen sei. Eine solche Akteneinsicht sei die einzige Möglichkeit zur Erlangung der für eine Klageerhebung erforderlichen Tatsachenkenntnisse.

[4] Von der Veröffentlichung der Entscheidung seien außerdem bestimmte Informationen ausgenommen worden. Die veröffentlichte Fassung stelle daher ein „qualitatives Minus“ gegenüber dem ungekürzten Beschluss des Kartellgerichts dar. Für die Einschreiterin sei mangels Akteneinsicht nicht feststellbar, welche Informationen nicht veröffentlicht worden seien. Möglicherweise habe das Kartellgericht auch für eine zivilrechtliche Haftung der Antragsgegnerinnen maßgebliche Beweise aufgenommen, aber in seiner Entscheidung nicht verwertet. Im Haftungsprozess bestünde daher ohne Möglichkeit der Einschreiterin, in den Kartellakt Einsicht zu nehmen, ein erhebliches Informationsungleichgewicht, was sowohl dem Gebot eines fairen Verfahrens als auch dem europarechtlichen Effektivitätsgrundsatz widerspräche.

[5] Die an den wettbewerbswidrigen Absprachen beteiligten Unternehmen würden der Einschreiterin auch solidarisch haften. Der veröffentlichten Entscheidung sei aber nicht zu entnehmen, welche Unternehmen an diesen Absprachen neben den Antragsgegnerinnen beteiligt waren. Auch deshalb sei eine Einsicht in den Akt des Kartellgerichts unumgänglich. Die Bestimmungen über die Vorlage von Beweismitteln durch den Schädiger im Verfahren zur Geltendmachung von Schäden wegen Wettbewerbsverletzungen (§§ 37j, 37k KartG) setzten ein bereits eingeleitetes Zivilverfahren voraus und würden daher keine gemeinsame Inanspruchnahme mehrerer – teilweise unbekannter – Schädiger mit einer Klage ermöglichen.

[6] Zusammengefasst habe die Einschreiterin ein rechtliches Interesse an der angestrebten Akteneinsicht, weil sie ohne diese keine Kenntnis davon erlangen könne, „wann, wie und wodurch sie durch welche Teilnehmer an den wettbewerbswidrigen Absprachen in welchem Umfang geschädigt worden sei und inwieweit in einem Schadenersatzprozess eine Bindung an im Kartellverfahren getroffene Feststellungen bestehe“. Die Geltendmachung von Ersatzansprüchen wäre ihr ohne eine solche Einsicht praktisch unmöglich, jedenfalls aber übermäßig erschwert. Da die Einschreiterin keine Mitbewerberin der Antragsgegnerinnen sei, habe sie kein Interesse an der Verwertung allfälliger Geschäftsgeheimnisse außerhalb des angestrebten Haftungsprozesses. Der Wettbewerbsverstoß als solcher begründe kein Geschäftsgeheimnis.

[7] Die Antragstellerin sprach sich nicht gegen die Akteneinsicht in ihrem Antrag ON 1 aus, „sofern daran ein hinreichend konkretes rechtliches Interesse bestehe“. Privilegierte Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen seien jedenfalls von einer Akteneinsicht auszunehmen.

[8] Auch der Bundeskartellanwalt stimmte der Akteneinsicht durch die Einschreiterin hinsichtlich jener Aktenbestandteile, die nicht als Kronzeugenerklärungen oder Vergleichsausfertigungen bezeichnet worden seien, zu.

[9] Die Antragsgegnerinnen sprachen sich gegen die beantragte Akteneinsicht aus.

[10] Die Veröffentlichung des Beschlusses des Kartellgerichts entspreche „mehr oder weniger“ dessen nicht veröffentlichter Fassung. Sie reiche für die Einbringung einer schlüssigen Haftungsklage aus, weil ihr sämtliche Informationen entnommen werden könnten, welche die Einschreiterin für die rechtliche Prüfung ihres behaupteten Ersatzanspruchs benötige. Liege – wie hier – eine umfassende und detaillierte Entscheidungsveröffentlichung vor, müsse der durch einen Wettbewerbsverstoß (angeblich) Geschädigte konkrete Umstände benennen, aus denen ihm die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs ohne Akteneinsicht unmöglich oder übermäßig erschwert sei. Diesem Erfordernis habe die Einschreiterin mit ihren pauschalen Behauptungen zum rechtlichen Interesse an einer Einsicht in den Akt des Kartellgerichts nicht entsprochen. Ihr stünden umfassende andere Möglichkeiten für eine weitere Informationsgewinnung zu, nämlich (insbesondere) im Zivilprozess die Möglichkeit, eine Offenlegung von Beweismitteln nach den §§ 37j und 37k KartG zu erlangen; weiters Informationen aus veröffentlichten Bußgeldentscheidungen in anderen Verfahren betreffend andere Beteiligte an den auch hier zu beurteilenden wettbewerbswidrigen Absprachen; aus einer Einsicht in den Ermittlungsakt der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, welche der Einschreiterin ohnehin bereits gewährt worden sei; sowie letztlich Informationen aufgrund der medialen Berichterstattung zu den Wettbewerbsverstößen. Eine rechtliche Grundlage für eine Pre-Trial Discovery , also eine Offenlegung von Informationen aus dem Kartellverfahren vor Einleitung eines zivilrechtlichen Haftungsprozesses, bestehe nicht.

[11] Die Einschreiterin replizierte, dass sie im Ermittlungsakt der Wirtschafts und Korruptionsstaatsanwaltschaft nicht als Geschädigte aktenkundig sei.

[12] Das Erstgericht wies den Antrag der Einschreiterin auf Akteneinsicht ab.

[13] Gemäß § 39 Abs 2 KartG könnten am Verfahren nicht beteiligte Personen nur mit Zustimmung der Parteien Einsicht in die Akten des Kartellgerichts nehmen. Eine solche generelle Abhängigkeit der Akteneinsicht Dritter im Kartellverfahren von der Zustimmung der Parteien sei nach der Rechtsprechung des EuGH allerdings nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. Das nationale Gericht müsse vielmehr die M öglichkeit haben, jene Interessen, welche einerseits die Übermittlung von Informationen und andererseits den Schutz dieser Informationen rechtfertigen, im Einzelfall gegeneinander abzuwägen. Ob das österreichische KartG nach Inkrafttreten der §§ 37j und 37k (über die Offenlegung von Beweismitteln im Schadenersatzprozess) diesen Anforderungen entspreche, habe der Ober ste Gerichtshof als Kartellobergericht zu 16 Ok 1/22s zu beurteilen gehabt. Demnach könne zwar nicht davon ausgegangen werden, dass die nach § 39 Abs 2 KartG erforderliche Zustimmung aller Verfahrensparteien zur Einsicht eines Dritten in die Akten des Kartellgerichts unter keinen Umständen unionsrechtswidrig sei. Allerdings komme der Veröffentlichung kartellgerichtlicher Entscheidungen in der Ediktsdatei gemäß § 37 KartG besonderes Gewicht zu, weil diese wesentlich zur Informationsgewinnung des Kartellgeschädigten beitrage. Bei Vorliegen einer solchen Veröffentlichung bedürfe es daher konkret zu behauptender Umstände, aus denen sich ergebe, dass die Verweigerung der Akteneinsicht gemäß § 39 Abs 2 KartG die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs dennoch übermäßig erschwere, etwa weil Kategorien von Dokumenten benötigt würden, die in die veröffentlichte Entscheidung keinen Eingang gefunden hätten oder typischerweise in eine solche keinen Eingang fänden. Diese besonderen Umstände müssten im Antrag auf Akteneinsicht näher bezeichnet werden. Es liege also an der Akteneinsicht begehrenden Person, darzulegen, dass ihr unter Berücksichtigung aller verfügbaren rechtlichen Möglichkeiten der Informationsgewinnung ohne Gewährung einer von der Zustimmung der Parteien des Kartellverfahrens unabhängigen Akteneinsicht die Geltendmachung ihres durch die Wettbewerbsrechtsverletzung verursachten Schadens praktisch verunmöglicht oder übermäßig erschwert würde.

[14] Diesen Anforderungen habe die Einschreiterin jedoch nicht entsprochen:

[15] Sie begehre de facto Einsicht in alle Aktenbestandteile mit Ausnahme der privilegierten Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen. Damit habe sie die für die Einbringung einer Schadenersatzklage unbedingt erforderlichen Dokumente oder Kategorien von Dokumenten nicht ausreichend konkret bezeichnet. Dass die Einschreiterin nicht wissen könne, welche Teile der Entscheidung von der Veröffentlichung ausgenommen worden seien und welche relevanten sonstigen Bestandteile der Akt habe, überzeuge nicht. Ersteres sei schon der veröffentlichten Entscheidung zu entnehmen, aus der sich klar ergebe, dass nur Geschäftsgeheimnisse sowie die Bezeichnung bestimmter Urkunden von der Veröffentlichung ausgenommen worden seien und im Übrigen eine Volltextveröffentlichung vorliege; letzteres treffe zwangsläufig auf jeden nicht öffentlich einsehbaren Akt zu. Nach dem Standpunkt der Einschreiterin müsste der Entscheidungsveröffentlichung ganz allgemein die Eignung abgesprochen werden, Wesentliches zur Informationsgewinnung des Kartellgeschädigten beizutragen, was aber der Rechtsprechung des Kartellobergerichts widerspreche.

[16] Der Umfang der Bindungswirkung der Bußgeldentscheidung (hinsichtlich der festgestellten Wettbewerbsrechtsverletzung) für den zivilrechtlichen Haftungsprozess könne von der Einschreiterin anhand deren Veröffentlichung ausreichend beurteilt werden. Diese versetze sie in die Lage, eine schlüssige Schadenersatzklage zu verfassen, weil die Kartellverstöße der Antragsgegnerinnen umfassend veröffentlicht worden seien. Im Haftungsprozess böten die §§ 37c, 37j und 37k KartG der Einschreiterin ohnehin (Beweis-)Erleichterungen. Dass sie (gewisse) Informationen erst im Laufe eines solchen Verfahrens erlangen könne, sei unbedenklich.

[17] Die solidarische Haftung mehrerer Beteiligter an einem Kartell bedeute nicht, dass diese gemeinsam mit einer Klage in Anspruch genommen werden müssten. Vielmehr könne sich der Geschädigte darauf beschränken, von einem Beteiligten den Ersatz des gesamten – auch von den übrigen Kartellanten mitverursachten – Schadens zu fordern. Die Einschreiterin müsse daher keine Kenntnis der Namen jener Kartellbeteiligten haben, gegen die sich das vorliegende Bußgeldverfahren nicht gerichtet habe, um ihren Schaden gegenüber den Antragsgegnerinnen geltend zu machen. Es sei von ihr im Übrigen zu erwarten, dass sie ihre Vertragspartner kenne. Die Einschreiterin habe zur Vorbereitung ihrer Haftungsklage auch ihre eigenen Geschäftsunterlagen heranzuziehen; dass ihr das mit zumutbaren Mitteln nicht möglich sei, habe sie nicht behauptet.

[18] Gegen diese Entscheidung richtet sich der – von den Antragsgegnerinnen beantwortete – Rekurs der Einschreiterin mit dem Antrag, ihr die Akteneinsicht im begehrten Umfang zu bewilligen.

Rechtliche Beurteilung

[19] Dem Rechtsmittel kommt keine Berechtigung zu:

1. Grundsätzliches zur Akteneinsicht:

[20] 1.1. Die Akteneinsicht im Kartellverfahren richtet sich nach § 22 AußStrG iVm § 38 KartG und § 219 Abs 2 ZPO (16 Ok 9/14f; 16 Ok 10/14b; 16 Ok 1/22s). Über die darin festgelegten Voraussetzungen hinaus können am Verfahren nicht beteiligte Personen gemäß § 39 Abs 2 KartG aber nur mit Zustimmung der Parteien Akteneinsicht nehmen.

[21] 1.2. Der EuGH beurteilte eine Regelung wie jene des § 39 Abs 2 KartG, die den Aktenzugang eines Dritten, der die Erhebung einer Schadenersatzklage gegen einen Kartellteilnehmer erwägt, generell von der Zustimmung der Parteien abhängig macht, als mit dem Unionsrecht – insbesondere dem Effektivitätsgrundsatz – unvereinbar (EuGH 6. 6. 2013, C-536/11, Donau Chemie , Rz 49). Das nationale Gericht müsse vielmehr die Möglichkeit haben, jene Interessen, welche einerseits die Übermittlung von Informationen und andererseits den Schutz dieser Informationen rechtfertigen, im Einzelfall abzuwägen (Rn 29 und 34 mwN). Wesentlicher Gesichtspunkt sei dabei, ob dem Geschädigten im Fall der Verweigerung der Akteneinsicht andere Möglichkeiten zur Verfügung stünden, sich die für die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs erforderlichen Beweise zu beschaffen (Rn 32, 39).

[22] 1.3. Ausgehend von dieser Entscheidung des EuGH sowie davon, dass auch der österreichische Gesetzgeber mit dem KaWeRÄG 2012 (BGBl I 2013/13) die private Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen gezielt fördern wollte, erachtete der Oberste Gerichtshof die Wertung, wonach nationale Rechtsvorschriften die Erlangung von Schadenersatz für Wettbewerbsverstöße nicht praktisch unmöglich machen dürfen, als verallgemeinerungsfähig und auch auf Verstöße gegen das österreichische Kartellrecht übertragbar (16 Ok 9/14f; 16 Ok 10/14b; vgl 16 Ok 1/22s).

2. Zum private enforcement im Kartellrecht:

[23] 2.1. Mit der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 11. 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadenersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (SchadenersatzRL, ABl L 349 vom 5. 12. 2014) verfolgt der Unionsgesetzgeber unter anderem das Ziel, private zivilrechtliche Durchsetzungsmaßnahmen und die öffentliche Rechtsdurchsetzung des Wettbewerbsrechts durch die Wettbewerbsbehörden kohärent und mit dem Ziel der höchstmöglichen Wirkung unter anderem im Hinblick auf den Zugang zu Unterlagen, die sich im Besitz der Wettbewerbsbehörden befinden, zu koordinieren (ErwGr 6). Die SchadenersatzRL adressiert den strukturellen Konflikt zwischen dem Bestreben, Geschädigten den Zugang zu Informationen für eine erfolgversprechende Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen aus Wettbewerbsrechtsverstößen zu ermöglichen und gleichzeitig zu verhindern, dass Unternehmen von einer Zusammenarbeit mit den Wettbewerbsbehörden Abstand nehmen, wenn Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen, in denen sie sich selbst belasten, offengelegt würden (ErwGr 26).

[24] 2.2. Der Richtliniengesetzgeber betont die große Bedeutung der Beweismittel für die Durchsetzung von E rsatzansprüchen wegen Kartellrechtsverstößen. Er leitet daraus ab, dass ein Kläger berechtigt sein müsse, die Offenlegung der für seinen Anspruch relevanten Beweismittel zu erwirken, ohne diese konkret benennen zu müssen (ErwGr 15). Um den wirksamen Schutz des Rechts auf Schadenersatz zu gewährleisten, sei es aufgrund einer geplanten Schadenersatzklage aber nicht erforderlich, dem Kläger jedes zu einem Kartell v erfahren gehörende Schriftstück zu übermitteln. Es sei nämlich wenig wahrscheinlich, dass eine Schadenersatzklage auf sämtliche Bestandteile des Akts des Kartellverfahrens gestützt werden müsse (ErwGr 22; vgl auch EuGH C-536/11, Donau Chemie , Rn 33; C-365/12 P, EnBW , Rn 106; 16 Ok 1/22s mwN). Offenlegungsanträge sollten daher nicht als verhältnismäßig angesehen werden, wenn sie sich ganz allgemein auf die Unterlagen in den Akten einer Wettbewerbsbehörde zu einem bestimmten Akt beziehen (ErwGr 23). Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen seien als besonders wichtige und sensible Instrumente der öffentlichen Rechtsdurchsetzung von der Offenlegung auszunehmen (ErwGr 26). Gleichzeitig solle bei Unterlagen, bei denen es sich nicht um Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen handelt, dafür gesorgt werden, dass Geschädigte ausreichend alternative Möglichkeiten des Zugangs zu relevanten Beweismitteln hätten, die für ihre Schadenersatzklagen erforderlich seien (ErwGr 27).

[25] 2.3. Entsprechend diesen Zielsetzungen umschreibt Art 1 Abs 1 der SchadenersatzRL ihren Gegenstand und Anwendungsbereich damit, Vorschriften festzulegen, die erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass jeder, der einen durch eine Zuwiderhandlung […] gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schaden erlitten hat, das Recht, den vollständigen Ersatz dieses Schadens […] zu verlangen, wirksam geltend machen kann. Die Offenlegung von Beweismitteln ist in Kapitel II der SchadenersatzRL geregelt. Nach deren Art 5 Abs 1 gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die nationalen Gerichte in Verfahren über Schadenersatzklagen aufgrund eines substanziiert begründeten Antrags des Klägers unter bestimmten Voraussetzungen die Offenlegung von Beweismitteln durch den Beklagten oder einen Dritten anordnen können. Nach Abs 2 leg cit muss sich die Offenlegung auf bestimmte einzelne Beweismittel oder relevante Kategorien von Beweismitteln beziehen, die soweit zumutbar genau abzugrenzen sind; nach Abs 3 muss die Offenlegung verhältnismäßig sein. Art 6 SchadenersatzRL regelt die Offenlegung von Beweisen, die sich in Akten einer Wettbewerbsbehörde befinden. Die Offenlegung bestimmter Kategorien von Dokumenten darf nach Art 6 Abs 5 erst nach Beendigung des nationalen Kartellverfahrens oder nach Art 6 Abs 6 (Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen) für die Zwecke von Schadenersatzklagen gar nicht angeordnet werden.

[26] 2.4. In Umsetzung der SchadenersatzRL sieht der d urch das KaWeRÄG 2017 (BGBl I 2017/56) neu eingefügte § 37j KartG die Offenlegung von Beweismitteln, die sich in der Verfügungsmacht der Gegenpartei oder eines Dritten befinden, und der ebenfalls neu eingefügte § 37k KartG die Offenlegung und Verwendung von Bewei smitteln, die sich in den Akten von Gerichten oder Behörden befinden, vor. Beide Bestimmungen ermöglichen eine Offenlegung von Beweismitteln aber erst in einem anhängigen schadenersatzrechtlichen Verfahren. § 37k Abs 4 und Abs 5 KartG verbieten die Offenlegung von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen. Durch das KaWeRÄG 2021 (BGBl I 2021/176) wurde deren Schutz erweitert (§ 37a Abs 3 KartG). § 39 Abs 2 KartG, wonach eine Akteneinsicht durch nicht am Verfahren beteiligte Dritte die Zustimmung der Parteien voraussetzt, blieb sowohl durch das KaWeRÄG 2017 als auch das KaWeRÄG 2021 unverändert.

3. Zur Anwendbarkeit des § 39 Abs 2 KartG:

[27] 3.1. In seiner zu 16 Ok 1/22s ergangenen Entscheidung setzte sich der Oberste Gerichtshof grundlegend mit der Frage auseinander, ob § 39 Abs 2 KartG nach der geltenden – auch hier maßgeblichen – Rechtslage uneingeschränkt anzuwenden und die Akteneinsicht daher mangels Zustimmung der Parteien jedenfalls abzulehnen sei, oder ob von einer Anwendung dieser Bestimmung abgesehen bzw diese im Sinn einer Interessenabwägung eingeschränkt werden müsse. Maßgeblich für die Beantwortung dieser Frage sei ganz allgemein, ob dem Akteneinsicht begehrenden Dritten ausreichende und dem Konzept der SchadenersatzRL genügende Informationsmöglichkeiten zur Geltendmachung ihrer behaupteten, durch die Kartellverstöße verursachten Schäden zur Verfügung stünden.

[28] 3.2. Der Oberste Gerichtshof führte dazu in seiner Entscheidung zu 16 Ok 1/22s ua Folgendes aus:

„[50] Die im Urteil Donau Chemie des EuGH aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz abgeleitete Wertung, der Zugang zu Beweismitteln dürfe nicht so ausgestaltet sein, dass dadurch die Erlangung von Schadenersatz durch den Kartellgeschädigten praktisch unmöglich gemacht oder erheblich erschwert werde, ist durch die Erlassung der SchadenersatzRL und deren Umsetzung keineswegs obsolet. Die SchadenersatzRL kann vielmehr als Konkretisierung des bei Beurteilung der Effektivität heranzuziehenden Maßstabs dienen. [...]

[52] Betrachtet man die Regelungen der SchadenersatzRL zur Offenlegung von Beweismitteln, so ist zunächst festzuhalten, dass die Richtlinie keine eindeutige Vorgabe dahin enthält, die Offenlegung von Beweismitteln erst und ausschließlich im Schadenersatzprozess zu ermöglichen ( Hoffer / Barbist , Das neue Kartellrecht³ 149; vgl Weitbrecht , Kartellschadenersatz 2017, NZKart 2018, 106 [107, 109], der 'erhebliche Umsetzungsspielräume' ortet).

[53] Die vom Erstgericht angenommene Harmonisierung besteht […] nur im Hinblick auf den Schutz von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen gemäß Art 6 Abs 6 SchadenersatzRL (vgl Mallmann / Lübbig in Fuchs / Weitbrecht , Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung § 13 Rz 48; in diesem Sinn auch Fiedler / Huttenlauch , Der Schutz von Kronzeugen- und Settlementerklärungen vor der Einsichtnahme durch Dritte nach dem Richtlinien-Vorschlag der Kommission, NZKart 2013, 350 [354]). Im Übrigen wird kein einheitliches Schutzniveau festgelegt; Art 5 Abs 8 SchadenersatzRL gestattet vielmehr – unter Beachtung der Notwendigkeit geeigneter Schutzmaßnahmen für bestimmte Kategorien von offenzulegenden Beweismitteln – ausdrücklich die Beibehaltung oder Einführung nationaler Vorschriften, die zu einer umfassenderen Offenlegung von Beweismitteln führen.

[54] Der Richtlinie kann […] nicht entnommen werden, dass eine Offenlegung erst und ausschließlich im Schadenersatzprozess für die Ermöglichung einer effektiven privaten Rechtsdurchsetzung jedenfalls und in allen denkbaren Fallkonstellationen ausreicht.

[55] Art 5 Abs 1 SchadenersatzRL sieht zwar (bloß) vor, dass die nationalen Gerichte 'in Verfahren über Schadenersatzklagen' die Offenlegung von Beweismitteln anordnen könnten. Die Erwägungsgründe formulieren aber die Zielsetzung, durch Kartellverstöße geschädigten Rechtsträgern den 'für die Erstellung ihrer Schadenersatzklage' notwendigen Zugang zu Beweismitteln zu ermöglichen (ErwGr 27).

[56] Ihrem Gesamtkonzept nach bezweckt die SchadenersatzRL eine möglichst effiziente öffentliche und private Rechtsdurchsetzung. In diesem Sinn ist es geboten, im Hinblick auf die private Durchsetzung des Kartellrechts mit Hilfe des Schadenersatzrechts eine Gesamtbetrachtung der Möglichkeiten zur Informationsgewinnung vorzunehmen, die einem durch einen Wettbewerbsverstoß geschädigten Rechtsträger zur Verfügung stehen.

[57] Diese Möglichkeiten dürfen im Sinn des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes nicht so ausgestaltet sein, dass dadurch die Geltendmachung von Schadenersatz aus Kartellverstößen praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird (vgl EuGH C-360/09, Pfleiderer , Rz 30 f; C-536/11, Donau Chemie , Rz 10).

[58] Bei isolierter Betrachtung der durch das KaWeRÄG 2017 ins KartG eingeführten §§ 37j und 37k ist festzuhalten, dass ein Rechtsträger, der sich durch einen Kartellverstoß geschädigt erachtet, die Schadenersatzklage einbringen, daher insbesondere seinen Schaden beziffern und auf dieser Basis die Pauschalgebühr entrichten muss, bevor er Anträge auf Offenlegung nach §§ 37j oder 37k KartG stellen kann. Im Fall der Abweisung eines Antrags nach § 37j KartG ist die abweisende Entscheidung zudem erst mit der Endentscheidung im Schadenersatzprozess bekämpfbar (§ 37j Abs 8 KartG). Der Kläger kann daher im Fall einer unberechtigten Abweisung seines Offenlegungsantrags mit der Situation konfrontiert sein, erst nach Vorliegen der Sachentscheidung – sohin nach einem beträchtlichen Prozessaufwand – die zur Substanziierung und Schlüssigstellung seiner Ansprüche erforderlichen Urkundenvorlageanträge im Rechtsmittelverfahren erfolgreich verfolgen zu können. Meinungsverschiedenheiten im Zuge der Amtshilfe nach § 37k KartG können überhaupt nur vom ersuchenden Gericht an das übergeordnete Gericht herangetragen werden (8 Nc 40/21f).

[59] Die Rechtsansicht des Erstgerichts, allein aus der Einführung der §§ 37j und 37k KartG sei abzuleiten, die in § 39 Abs 2 KartG vorgesehene Voraussetzung der Zustimmung aller Verfahrensparteien für die Einsicht in die Akten des Kartellgerichts sei unter keinen Umständen mehr als unionsrechtswidrig anzusehen, vermag daher nicht zu überzeugen.

[60] Die isolierte Betrachtung der §§ 37j, 37k KartG greift aber zu kurz. Vielmehr kommt auch der Veröffentlichung kartellgerichtlicher Entscheidungen in der Ediktsdatei gemäß § 37 KartG (seit der Fassung KaWeRÄG 2012) – die […] in den Fällen Donau Chemie und 16 Ok 9/14f und 16 Ok 10/14b noch nicht zur Anwendung kam – Gewicht zu.

[61] In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass das Geldbußenverfahren zwar nicht primär den Zweck verfolgt, die Grundlagen für die Führung von Schadenersatzprozessen zu schaffen, dass aber bei Auslegung des § 37 KartG die gesetzgeberische Zielsetzung zu berücksichtigen ist, die Verfolgung privater Schadenersatzansprüche wegen Kartellverstößen zu erleichtern, sodass der zugrunde liegende Sachverhalt in der Geldbußenentscheidung möglichst deutlich wiederzugeben ist (16 Ok 14/13). Das Unterbleiben einer ausreichenden Veröffentlichung der Entscheidung würde für Geschädigte eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung des durch Art 6 EMRK und Art 47 GRC garantierten Rechts auf Zugang zu einem Gericht bedeuten, wenn – wie nach dem Wortlaut des § 39 Abs 2 KartG – nur mit Zustimmung der Parteien Akteneinsicht in die Akten des Kartellverfahrens zusteht (16 Ok 14/13; 16 Ok 2/21m).

[62] Die Veröffentlichung trägt wesentlich zur Informationsgewinnung des Kartellgeschädigten bei. Bei Vorliegen einer Veröffentlichung wird es daher konkret zu behauptender Umstände bedürfen, aus denen sich ergibt, dass die Verweigerung der Akteneinsicht gemäß § 39 Abs 2 KartG die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs dennoch übermäßig erschwert (sodass der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz verletzt wäre), etwa, weil Kategorien von Dokumenten benötigt werden, die in die veröffentlichte Entscheidung keinen Eingang gefunden haben oder typischer Weise in eine zu veröffentlichende Entscheidung keinen Eingang finden werden. […]

[65] […] Der Effizienzgrundsatz verlangt […] (nur), dass die Geltendmachung von Schadenersatz aus Wettbewerbsrechtsverstößen nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird. […] Ob in einem konkreten Fall der Effektivitätsgrundsatz verletzt ist, kann nur unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls beurteilt werden. [...]

[67] Es liegt daher an der Akteneinsicht begehrenden Person, darzutun, dass ihr unter Berücksichtigung aller ihr zu Gebote stehenden rechtlichen Möglichkeiten der Informationsgewinnung ohne die Gewährung einer von der Zustimmung der Parteien des Kartellverfahrens unabhängige Akteneinsicht die Geltendmachung ihres durch die Wettbewerbsrechtsverletzung verursachten (behaupteten) Schadenersatzanspruchs praktisch verunmöglichen oder übermäßig erschwert würde.“

4. Beurteilung des konkreten Falls:

[29] Ausgehend von der dargelegten Rechtslage, welche auch das Erstgericht bei seiner Entscheidung berücksichtigte, begegnet dessen Beurteilung, wonach die Einschreiterin nicht ausreichend dargelegt habe, dass ihr die Einbringung einer Schadenersatzklage gegen die Antragsgegnerinnen – oder auch gegen andere Beteiligte der festgestellten Kartellabsprachen – ohne die angestrebte Akteneinsicht praktisch unmöglich oder zumindest übermäßig erschwert wäre, keinen Bedenken:

[30] 4.1. Gemäß § 37j Abs 1 KartG reicht es in Verfahren, die Ersatzansprüche aus einer Wettbewerbsrechtsverletzung zum Gegenstand haben, aus, wenn die Klage zumindest soweit substanziiert ist, als diejenigen Tatsachen und Beweismittel enthalten sind, die dem Kläger mit zumutbarem Aufwand zugänglich sind und die die Plausibilität eines Schadenersatzanspruchs ausreichend stützen.

[31] Aus der veröffentlichten Bußgeldentscheidung des Kartellgerichts ergeben sich die von den Antragsgegnerinnen begangenen wettbewerbswidrigen Handlungen im Zeitraum 2002 bis 2017. Diese werden dort ihrer Art nach eingehend beschrieben und die Einschreiterin ausdrücklich als Geschädigte der Wettbewerbsverstöße genannt. Dass nicht festgestellt wurde, durch welche konkrete wettbewerbswidrige Handlung der Antragsgegnerinnen (also etwa durch eine Gebiets- oder Preisabsprache) sie geschädigt wurde, lässt noch nicht erkennen, warum sie zur Erhebung einer den abgeschwächten Schlüssigkeitserfordernissen des § 37j Abs 1 KartG entsprechenden Klage nicht in der Lage sein sollte, zumal  im Wege einer kumulierten Klagenhäufung auch unterschiedliche und sogar einander widersprechende rechtserzeugende Tatsachen zur Begründung eines einheitlichen Urteilsbegehrens vorgetragen werden können (RS0038130).

[32] Die Ausführungen der Einschreiterin beschränken sich weitgehend auf die Behauptung, die veröffentlichte Entscheidung des Kartellgerichts habe nicht alle für die Erhebung eines Schadenersatzbegehrens erforderlichen Angaben enthalten. Tatsächlich wurde diese aber nur hinsichtlich bestimmter Angaben zu (damals) prognostizierten Konzernumsätzen der Erstantragsgegnerin betreffend das Jahr 2021 sowie hinsichtlich bestimmter Urkundenverweise auf privilegierte Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen anonymisiert. Warum diesen Informationen eine konkrete Bedeutung für die Durchsetzung der behaupteten Ersatzansprüche der Einschreiterin zukommen sollte, legt sie auch in ihrem Rechtsmittel nicht dar. Dass für eine nicht am Verfahren beteiligte Person – wie die Einschreiterin – nicht erkennbar sei, inwieweit die Entscheidung anonymisiert wurde, ist entgegen deren Behauptung nicht zutreffend, ergibt sich dies doch hinreichend deutlich aus der veröffentlichten Fassung. Die nicht näher begründete Behauptung der Rekurswerberin, die Veröffentlichung der Entscheidung des Kartellgerichts genüge nicht „den inhaltlichen Vorgaben des Kartellobergerichts“, lässt schon mangels Konkretisierung keine Korrekturbedürftigkeit des angefochtenen Beschlusses erkennen.

[33] 4.2. Zu einer Schädigung der Einschreiterin durch ein bestimmtes kartellrechtswidriges Verhalten der Antragsgegnerinnen enthält auch die unveröffentlichte Fassung der Bußgeldentscheidung keine konkreten Feststellungen. Dass nicht jedes einzelne wettbewerbswidrige Verhalten zulasten jedes einzelnen Geschädigten im Detail festgestellt wurde, liegt daran, dass die Kartellabsprachen insgesamt weit mehr als 1.000 Geschäftsfälle betrafen und die Feststellungen des Kartellgerichts weitgehend auf Außerstreitstellungen der Antragsgegnerinnen beruhten. Eine zu korrigierende unrichtige rechtliche Beurteilung durch das Erstgericht ergibt sich daraus nicht, zumal es nicht der primäre Zweck einer kartellgerichtlichen Entscheidung ist, Schadenersatzklagen gegen wettbewerbswidrig handelnde Personen vorzubereiten (16 Ok 14/13; 16 Ok 1/22s). Davon, dass hier keine ausreichende Veröffentlichung erfolgte, kann – wie dargelegt – keine Rede ein.

[34] 4.3. Soweit die Einschreiterin auf dem Standpunkt steht, sie könne den ihr durch die Wettbewerbsverstöße verursachten Schaden ohne Akteneinsicht nicht bemessen, ist ihr entgegenzuhalten, dass nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die schlüssige Behauptung eines aus einem Kartellverstoß resultierenden Schadens nur ein Vorbringen zu den vom Geschädigten „historisch“ bezahlten Preisen erforderlich ist (5 Ob 193/22a mwN). Warum ihr ein solches Vorbringen aufgrund ihrer eigenen Ausschreibungsunterlagen nicht möglich wäre, erschließt sich nicht. Die Einschreiterin hält den erstinstanzlichen Erwägungen in diesem Zusammenhang auch nichts Konkretes entgegen.

[35] 4.4. Mit ihrem Argument, es sei nicht der „Täter“ (der Schädiger), sondern nur das „Opfer“ (der Geschädigte) eines Wettbewerbsverstoßes schutzwürdig, übergeht die Rekurswerberin, dass die SchadenersatzRL sowie die in deren Umsetzung ergangenen §§ 37j und 37k KartG die geringere Schutzwürdigkeit des Schädigers im Vergleich zum Geschädigten ohnehin berücksichtigen (vgl Art 5 Abs 5 SchadenersatzRL, wonach das Interesse von Unternehmern, Schadenersatzklagen aufgrund von Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht zu vermeiden, nicht schutzwürdig ist).

[36] 4.5. Auch das Argument, wonach die Einschreiterin zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegenüber jenen Beteiligten an den Wettbewerbsverstößen, die in der Entscheidung des Kartellgerichts nicht namentlich genannt wurden, näherer Informationen bedürfe, verfängt nicht:

[37] § 37e Abs 1 KartG bringt nur den allgemeinen Grundsatz zum Ausdruck, dass gemeinschaftlich handelnde Rechtsverletzer solidarisch haften. Wie bereits das Erstgericht ausführte, kann sich die Einschreiterin als behauptete Geschädigte an einen von mehreren gemeinsam handelnden Kartellanten halten und von diesem den Ersatz ihres gesamten Schadens begehren. Sie benötigt somit nicht die Namen sämtlicher Beteiligter des Kartells. Inwieweit die Geltendmachung der Haftung mehrerer Solidarschuldner mit jeweils mehreren Klagen prozessunökonomisch wäre, muss hier nicht beurteilt werden, weil die Einschreiterin dazu in erster Instanz kein Vorbringen erstattet hat. Der Begründung des Erstgerichts, wonach sie auch allfällige Schwierigkeiten bei der Einbringlichmachung von Ersatzansprüchen gegenüber einzelnen Antragsgegnern in erster Instanz nicht behauptet habe, tritt die Einschreiterin in ihrem Rechtsmittel nicht entgegen. Im Übrigen wäre auch nicht ersichtlich, warum die Einsicht in den Kartellakt ein effektives und gebotenes Mittel zur privatrechtlichen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts gegenüber jenen Personen sein sollte, die von der Wettbewerbsbehörde (in jenem Verfahren, in dem der Antrag auf Akteneinsicht gestellt wurde) gar nicht „belangt“ wurden.

[38] 5. Zusammengefasst gelingt es der Einschreiterin nicht, darzutun, warum die Geltendmachung eines auf die festgestellten Wettbewerbsverletzungen gestützten Ersatzanspruchs trotz Veröffentlichung der Bußgeldentscheidung und unter Berücksichtigung aller ihr sonst zu Gebote stehenden Möglichkeiten der Informationsgewinnung, darunter auch ihrer eigenen Unterlagen zu abgewickelten Bauvorhaben, ohne die angestrebte Akteneinsicht praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert wäre. Ihrem Rekurs kommt daher kein Erfolg zu.

Rechtssätze
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