JudikaturJustiz14Os50/19p

14Os50/19p – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. Juni 2019

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 25. Juni 2019 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Setz Hummel in Gegenwart des Schriftführers Mag. Binder in der Strafsache gegen Mircea L***** wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 15, 127, 130 Abs 1 erster Fall StGB, AZ 114 Hv 127/18h des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur Generalanwalt Mag. Stani und des Verteidigers Mag. Haslinger zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren AZ 114 Hv 127/18h des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzt das Unterbleiben der Zustellung einer Übersetzung des nicht rechtskräftigen Urteils in die rumänische Sprache an den Angeklagten § 56 Abs 1 und 3 StPO.

Die Zustellung der Urteilsausfertigung wird für unwirksam erklärt und es wird der Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien aufgetragen, deren neuerliche Zustellung an den Angeklagten samt einer Übersetzung des Urteils in die rumänische Sprache zu veranlassen.

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.

Text

Gründe:

Mircea L***** wurde mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 7. Dezember 2017, AZ 51 Hv 86/17i, des Vergehens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 Abs 1 erster Fall, 15 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt. Mit Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Vollzugsgericht vom 17. September 2018, AZ 9 BE 174/18b, wurde gemäß § 133a Abs 1 StVG vom (weiteren) Vollzug dieser Freiheitsstrafe vorläufig abgesehen (ON 3 S 11).

Der Genannte wurde am 16. Oktober 2018 als eines Diebstahls Verdächtiger auf frischer Tat betreten, von der Kriminalpolizei gemäß § 171 Abs 2 Z 1 iVm § 170 Abs 1 Z 1 StPO festgenommen, am 17. Oktober 2018 in die Justizanstalt Wien Josefstadt eingeliefert und – wegen seiner Rückkehr in das Bundesgebiet während eines aufrechten Aufenthaltsverbots (§ 133a Abs 5 StVG) – zu AZ 51 Hv 86/17i des Landesgerichts für Strafsachen Wien (voraussichtlich bis 25. Juli 2019) in Strafhaft genommen (ON 2, ON 3 S 39 f und ON 4).

Am 18. Oktober 2018 brachte die Staatsanwaltschaft Wien beim Landesgericht für Strafsachen Wien einen Strafantrag ein, mit dem sie L***** das als Vergehen des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 Abs 1 erster Fall, 15 StGB qualifizierte Geschehen vom 16. Oktober 2018 zur Last legte (ON 5). Zugleich stellte sie den Antrag auf Verhängung der Untersuchungshaft über den Genannten gemäß § 173 Abs 1 und 2 Z 1 und 3 lit b StPO „für den Fall(e) der Enthaftung aus der Strafhaft“ (ON 1 S 7). Eine Entscheidung über diesen erfolgte bisher nicht.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 8. November 2018, GZ 114 Hv 127/18h 14, wurde der Angeklagte wegen der am 16. Oktober 2018 begangenen Tat des Vergehens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 15, 127, 130 Abs 1 erster Fall StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen meldete der im Verfahren nicht durch einen Verteidiger vertretene rumänischsprachige (vgl ON 3 S 31 und ON 13) Angeklagte in der Hauptverhandlung (unter Beiziehung eines Dolmetschers und nach Rechtsmittelbelehrung) Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe an (ON 13 S 1, 17). Ausfertigungen des Urteils, des Hauptverhandlungsprotokolls sowie einer Rechtsmittelbelehrung (jeweils in deutscher Sprache) wurden ihm am 29. November 2018 zugestellt (vgl den Zustellschein bei ON 14). Über die unausgeführt gebliebene Berufung hat das Oberlandesgericht Wien noch nicht erkannt.

Das Vorgehen der Einzelrichterin steht mit dem Gesetz teilweise nicht im Einklang:

Wie die Generalprokuratur zutreffend aufzeigt, hat ein Beschuldigter oder Angeklagter (§ 48 Abs 2 StPO), der die Verfahrenssprache nicht spricht oder versteht, (unter anderem) das Recht auf schriftliche Übersetzung der wesentlichen Aktenstücke, soweit dies zur Wahrung der Verteidigungsrechte und eines fairen Verfahrens erforderlich ist (§ 56 Abs 1 StPO). Die Ausfertigung des noch nicht rechtskräftigen Urteils ist ein solches wesentliches Aktenstück (§ 56 Abs 3 StPO).

Die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien hätte daher – da ein Vorgehen nach § 56 Abs 5 und 6 StPO hier nicht in Rede steht – die schriftliche Übersetzung der Urteilsausfertigung in die rumänische Sprache und deren Zustellung an den der Verfahrenssprache nicht hinreichend mächtigen (vgl ON 3 S 17) unvertretenen Angeklagten zu veranlassen gehabt.

Soweit die Generalprokuratur in diesem Zusammenhang auch die Unterlassung der Zustellung einer Übersetzung der schriftlichen Rechtsbelehrung rügt, ist sie hingegen nicht im Recht.

Die Belehrung über die dem Angeklagten zustehenden Rechtsmittel gegen ein erstinstanzliches Urteil hat gemäß § 268 letzter Satz StPO grundsätzlich mündlich im Anschluss an die Urteilsverkündung zu erfolgen. Davon umfasst sind nicht nur die in Bezug auf die Anmeldung, sondern auch auf die Ausführung der in Frage kommenden Rechtsmittel zustehenden Rechte einschließlich der Belehrung über die Fristen, die Formerfordernisse für die Geltendmachung von Nichtigkeitsgründen und über die Beigebung eines Verteidigers nach § 61 Abs 2 StPO (vgl Danek , WK StPO § 268 Rz 13). Nur im – hier nicht gegebenen – Fall der Zustellung eines Abwesenheitsurteils (anlässlich dessen Verkündung dem Angeklagten keine Belehrung erteilt werden kann) ist gemäß § 152 Abs 3 Geo eine (schriftliche) Rechtsmittelbelehrung (bei Sprachunkundigen samt Übersetzung) anzuschließen.

Im vorliegenden Fall wurde dem Angeklagten nach Urteilsverkündung Rechtsbelehrung erteilt (ON 13 S 17). Dass dies nicht im gesetzlichen Umfang oder ohne Übersetzung in die rumänische Sprache durch den anwesenden Dolmetscher erfolgt wäre und deshalb iSd § 6 Abs 2 StPO die Zustellung einer weiteren (schriftlichen) Rechtsbelehrung samt Übersetzung gemeinsam mit dem Urteil geboten gewesen wäre, wird von der Nichtigkeitsbeschwerde nicht behauptet. Eine Pflicht zur bloßen Wiederholung einer bereits erteilten Belehrung ist dem Gesetz jedoch nicht zu entnehmen.

Entgegen der Meinung der Generalprokuratur löste die Zustellung der in deutscher Sprache abgefassten Urteilsausfertigung nach § 467 Abs 1, § 488 Abs 1 StPO die Frist zur Ausführung der rechtzeitig angemeldeten Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe aus. Der Verstoß gegen § 56 Abs 1 und 3 StPO führt nicht zur (schon aus Gründen der Rechtssicherheit nur besonderen Fällen vorbehaltenen) Wirkungslosigkeit der Verfahrenshandlung, kann aber ein Grund für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 364 StPO) sein (vgl zur Frist des § 285 Abs 1 StPO trotz Unterbleibens der Zustellung eines Hauptverhandlungsprotokolls RIS Justiz RS0124686; zum Lauf der Rechtsmittelfrist trotz verfehlter Rechtsbelehrung Ratz , WK StPO § 284 Rz 9; anders hingegen zur Beschwerdefrist bei Beschlüssen, weil die Rechtsmittelbelehrung Bestandteil derselben ist, RIS Justiz RS0096224 [T8]).

Ein aus den aufgezeigten Gesetzesverletzungen resultierender Nachteil für den auch im Rechtsmittelverfahren unvertretenen Angeklagten, der die angemeldete Berufung nicht ausgeführt hat, ist nicht ausgeschlossen. Der Oberste Gerichtshof sah sich veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO).

Weiters erachtet die Generalprokuratur durch das Unterbleiben entweder einer Aufforderung an den Angeklagten, einen Verteidiger zu bevollmächtigen oder die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zu beantragen, oder der Beigebung eines Amtsverteidigers § 61 Abs 1 Z 1 und Abs 3 StPO verletzt und bringt dazu vor:

„Gemäß § 61 Abs 1 Z 1 StPO muss der Beschuldigte oder Angeklagte (§ 48 Abs 2 StPO) im gesamten Verfahren, wenn und solange er in Untersuchungshaft oder gemäß § 173 Abs 4 StPO in Strafhaft angehalten wird, durch einen Verteidiger vertreten sein (notwendige Verteidigung). Gemäß § 61 Abs 3 StPO sind in den Fällen des Abs 1 der Beschuldigte und sein gesetzlicher Vertreter aufzufordern, einen Verteidiger zu bevollmächtigen oder die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers nach Abs 2 zu beantragen. Bevollmächtigt weder der Beschuldigte noch sein gesetzlicher Vertreter für ihn einen Verteidiger, so hat ihm das Gericht von Amts wegen einen Verteidiger beizugeben, dessen Kosten er zu tragen hat (Amtsverteidiger), soweit nicht die Voraussetzungen des Abs 2 erster Satz vorliegen.

Entgegen der Verpflichtung der Einzelrichterin, wegen des Vollzugs der Strafhaft gemäß § 173 Abs 4 StPO (ein Fall notwendiger Verteidigung gemäß § 61 Abs 1 Z 5 StPO lag nicht vor) für die Vertretung des Angeklagten durch einen Verteidiger zu sorgen, forderte diese den Angeklagten Mircea L***** weder auf, einen Verteidiger zu bevollmächtigen oder die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zu beantragen, noch gab sie ihm einen Amtsverteidiger bei, sodass sich dieser nach wie vor unvertreten in Haft befindet.“

Dazu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Die Verhängung der Untersuchungshaft nach § 173 Abs 1 StPO ist nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft und nur bei Vorliegen eines dringenden Tatverdachts, einer gerichtlichen Vernehmung zur Sache sowie zu den Voraussetzungen der Untersuchungshaft, eines Haftgrundes und der Verhältnismäßigkeit sowie der Unerreichbarkeit des Haftzwecks durch gelindere Mittel (§ 173 Abs 5 StPO) zulässig. Die Untersuchungshaft darf auch nicht verhängt werden, wenn die Haftzwecke durch eine gleichzeitige Strafhaft oder Haft anderer Art (§ 173 Abs 4 StPO) erreicht werden können. Der erste Fall des § 173 Abs 4 erster Satz StPO setzt nach seinem Wortlaut (arg „Haftzwecke“, „gleichzeitige Strafhaft oder Haft anderer Art“) voraus, dass zwar sämtliche Voraussetzungen für die Verhängung der Untersuchungshaft vorliegen, deren Zwecke aber auch durch eine Strafhaft oder Haft anderer Art erreicht werden können.

Im gegenständlichen Fall wurde Mircea L***** wegen seiner Rückkehr in das Bundesgebiet während eines aufrechten Aufenthaltsverbots (§ 133a Abs 5 StVG) zu AZ 51 Hv 86/17i des Landesgerichts für Strafsachen Wien (voraussichtlich bis 25. Juli 2019) unmittelbar in Strafhaft übernommen (ON 2, ON 3 S 39 f und ON 4; vgl RIS Justiz RS0124405). Da sich der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verhängung der Untersuchungshaft gar nicht auf die Zeit während des Vollzugs der Strafhaft bezog, wurde der Angeklagte von der Einzelrichterin weder zur Sache noch zu den Voraussetzungen der Untersuchungshaft vernommen und über den (unter einer aufschiebenden Bedingung stehenden) Haftantrag (zu Recht) nicht entschieden. Damit liegt aber keine die Untersuchungshaft substituierende Strafhaft iSd § 173 Abs 4 erster Satz StPO (vgl 13 Os 99/95; aM Nimmervoll, RZ 2013, 260 [264]) und demnach auch nicht der von der Generalprokuratur ins Treffen geführte Fall der notwendigen Verteidigung nach § 61 Abs 1 Z 1 StPO vor, weshalb die Nichtigkeitsbeschwerde in diesem Umfang zu verwerfen war.

Rechtssätze
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