JudikaturJustiz14Os130/14w

14Os130/14w – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. Dezember 2014

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. Dezember 2014 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann in Gegenwart der Richteramtsanwärterin MMag. Spunda als Schriftführerin in der Strafsache gegen Michael S***** wegen Vergehen der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB, AZ 2 U 50/12f des Bezirksgerichts Oberndorf, über die von der Generalprokuratur gegen das (Abwesenheits-)Urteil dieses Gerichts vom 2. Dezember 2013, GZ 2 U 50/12f 37, und mehrere Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Leitner zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren AZ 2 U 50/12f des Bezirksgerichts Oberndorf verletzen

1) die Unterlassung einer Information des Angeklagten über sein Recht, binnen festgesetzter Frist begründete Einwände gegen die zum Sachverständigen bestellte Person zu erheben, § 126 Abs 3 letzter Satz StPO;

2) die Unterlassung der unverzüglichen Zustellung des Strafantrags der Staatsanwaltschaft Salzburg vom 26. Juni 2013, AZ 52 BAZ 375/13a (ON 4 in ON 32), an den Angeklagten § 451 Abs 1 letzter Halbsatz StPO;

3) die Durchführung der Hauptverhandlung sowie die Urteilsfällung am 2. Dezember 2013 in Abwesenheit des Angeklagten in Ansehung des im Strafantrag vom 26. Juni 2013 angeführten Anklagevorwurfs § 427 Abs 1 StPO;

4) die in der Hauptverhandlung vom 2. Dezember 2013 erfolgte Verlesung des Sachverständigengutachtens § 252 Abs 1 Z 4 StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO;

5) die Verwertung der Verantwortung des Angeklagten, des Abschlussberichts der PI L***** und der Strafregisterauskunft ON 35 im Urteil vom 2. Dezember 2013 § 258 Abs 1 StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO;

6) das Urteil des Bezirksgerichts Oberndorf vom 2. Dezember 2013, GZ 2 U 50/12f-37, § 198 Abs 1 StGB.

Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Oberndorf vom 2. Dezember 2013, GZ 2 U 50/12f 37, wird aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Oberndorf verwiesen.

Text

Gründe:

Im Verfahren AZ 2 U 50/12f des Bezirksgerichts Oberndorf legte die Staatsanwaltschaft Salzburg Michael S***** mit Strafantrag vom 20. Juli 2012, AZ 54 BAZ 472/12d, ein als Vergehen der Verletzung der Unterhaltspflicht nach §

198 Abs 1

StGB qualifiziertes Verhalten, und zwar von 23. Jänner 2007 bis 20. Juli 2012 gegenüber seiner minderjährigen Tochter Kimberley G*****, zur Last (ON 7).

Nachdem sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung vom 4. Dezember 2012 im Sinn des Strafantrags schuldig bekannt hatte (ON 18 S 5), fasste der Bezirksrichter in dieser den Beschluss, Raphael Sc*****, MAS, zum Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Berufskunde zu bestellen und beauftragte den Genannten, binnen drei Monaten Befund und Gutachten zur Frage der Erwerbsfähigkeit des Angeklagten im angelasteten Tatzeitraum zu erstatten (ON 18 S 8). Eine gesonderte Ausfertigung dieses Beschlusses erfolgte nach dem Akteninhalt nicht.

Eine Belehrung des damals unvertretenen Angeklagten über sein Recht, gegen die vom Gericht zum Sachverständigen bestellte Person binnen festgesetzter Frist begründete Einwände zu erheben, ist aus dem Protokoll über die Hauptverhandlung nicht ersichtlich.

Mit Strafantrag vom 26. Juni 2013, AZ 52 BAZ 375/13a, legte die Staatsanwaltschaft Salzburg Michael S***** erneut ein als Vergehen der Verletzung der Unterhaltspflicht nach §

198 Abs 1

StGB qualifiziertes Verhalten, und zwar nunmehr von 1. April 2012 bis 19. Juni 2013 gegenüber seinem minderjährigen Sohn Stephan D*****, zur Last (ON 4 in ON 32) und beantragte unter einem die gemeinsame Führung mit dem Verfahren AZ 2 U 50/12f (ON 1 S 1 in ON 32).

Eine Zustellung dieses Strafantrags an den Angeklagten ist aus dem Gerichtsakt nicht ersichtlich.

In der Hauptverhandlung am 2. Dezember 2013, zu der der Angeklagte, dem die Ladung durch Hinterlegung zugestellt worden war (ON 1 S 1 l zweites und drittes Blatt), nicht erschien (ON 36 S 3), fasste der Bezirksrichter den Beschluss auf Neudurchführung der Verhandlung gemäß § 276a StPO „wegen Zeitablaufs und Richterwechsels“ und verlas ohne neuen Anklagevortrag am Beginn der Verhandlung (vgl Danek , WK StPO § 276a Rz 9; 11 Os 118, 144/03) unmittelbar darauf das zwischenzeitig erstattete schriftliche berufskundliche Sachverständigengutachten (ON 20, ON 36 S 5). Nach der dem Protokoll zufolge ohne Belehrung über die Zeugenpflichten gemäß § 247 zweiter Satz StPO durchgeführten Vernehmung des informierten Vertreters der Bezirkshauptmannschaft Salzburg-Umgebung und dem abschließenden Antrag des Bezirksanwalts auf „Bestrafung wie schriftlich im Strafantrag sowie im Nachtragsstrafantrag“ wurde der Angeklagte des Vergehens (richtig:

der Vergehen; vgl Markel in WK²

StGB § 198 Rz 82 mwN; 15 Os 88/14a [15 Os 89/14y]) der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB schuldig erkannt, ohne dass zuvor weitere Verlesungen vorgenommen worden wären (ON 36).

Nach dem Inhalt des Schuldspruchs hat Michael S***** „im Zeitraum 23. Jänner 2007 bis 19. Juni 2013 seine im Familienrecht begründete Unterhaltspflicht gröblich verletzt, indem er keine oder nur unzureichende Unterhaltszahlungen gegenüber der mj. Kimberley G***** und dem mj. Stephan D***** leistete und dadurch bewirkt hat, dass der Unterhalt der Unterhaltsberechtigten ohne Hilfe anderer Seite gefährdet wurde“.

In den Entscheidungsgründen erachtete der Bezirksrichter die ausschließlich zum objektiven Sachverhalt getroffenen Feststellungen „aufgrund des durchgeführten Beweisverfahrens, nämlich der Ausführungen des informierten Vertreters der BH Salzburg-Umgebung, der Einholung eines berufskundlichen Sachverständigen-gutachtens, der Einvernahme des Angeklagten, Abschlussbericht der PI L*****“ für erwiesen (ON 37, US 2) und stützte jene zum (bei der Strafzumessung als erschwerend gewerteten [US 3]) Vorleben des Angeklagten auf die Strafregisterauskunft ON 35 (US 2). Beweiswürdigend führte er zusätzlich aus, dass sich die mögliche Verwendung am Arbeitsmarkt und die Verfügbarkeit entsprechender Arbeitsplätze aus dem widerspruchsfreien Sachverständigengutachten ergeben. Insbesondere habe der Angeklagte die Nichtzahlung der Unterhaltsbeiträge „ja nicht bestritten“ (US 2). Konstatierungen zur subjektiven Tatseite sind der Urteilsausfertigung nicht zu entnehmen.

Die verhängte Freiheitsstrafe wurde bisher nicht vollzogen.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, stehen die beschriebene Vorgangsweise des Bezirksgerichts Oberndorf sowie das Urteil vom 2. Dezember 2013, GZ 2 U 50/12f 37, mit dem Gesetz in mehrfacher Hinsicht nicht im Einklang:

Vorauszuschicken ist, dass für das Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht die Bestimmungen für das Verfahren vor dem Landesgericht als Schöffengericht, also jene über die Hauptverhandlung und das Urteil im schöffengerichtlichen Verfahren, gelten, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (§§ 447, 458 zweiter Satz StPO).

1) § 126 Abs 3 letzter Satz StPO, der nicht auf das Ermittlungsverfahren beschränkt ist (vgl dazu Hinterhofer , WK-StPO § 126 Rz 67 mwN), räumt dem Beschuldigten (hier: Angeklagten) das Recht ein, binnen einer angemessen festzusetzenden, eine Woche nicht übersteigenden Frist begründete Einwände gegen die als Sachverständigen ausgewählte Person zu erheben; darüber ist er zu informieren. Diesem Gebot hat das Bezirksgericht bei der Bestellung des Sachverständigen Raphael Sc*****, MAS, nicht entsprochen.

2) Entgegen § 451 Abs 1 letzter Halbsatz StPO, der die unverzügliche Zustellung des Strafantrags an den Angeklagten anordnet, verfügte der Bezirksrichter auch nach Kenntnis vom neuen Wohnort des Angeklagten (vgl ON 30 und 31) oder anlässlich der Ladung zur Hauptverhandlung am 2. Dezember 2013 (ON 1 S 1 l) keine solche Zustellung des Strafantrags vom 26. Juni 2013 (ON 4 in ON 32) an Michael S*****.

3) Gemäß § 427 Abs 1 StPO darf im Fall des Nichterscheinens des Angeklagten bei der Hauptverhandlung bei sonstiger Nichtigkeit in seiner Abwesenheit soweit hier wesentlich nur dann die Hauptverhandlung durchgeführt und das Urteil gefällt werden, wenn ihm die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt wurde. Eine „gehörige Ladung“ im Sinne des § 427 StPO hat neben der Bekanntgabe des Termins der Hauptverhandlung den Angeklagten über den Gegenstand der Verhandlung in Kenntnis zu setzen, wobei ein Hinweis auf den bereits zugestellten Strafantrag, dessen Kenntnis vorausgesetzt ist, genügt ( Bauer/Jerabek , WK-StPO § 427 Rz 9 und 11).

Vorliegend wurde Michael S***** zwar der Strafantrag vom 20. Juli 2012 (ON 7) in der Hauptverhandlung vom 4. Dezember 2012 überreicht (ON 18 S 5) und überdies mit der Ladung für die Hauptverhandlung am 2. Dezember 2012 neuerlich übermittelt, eine Zustellung des Strafantrags vom 26. Juni 2013 (ON 4 in ON 32) ist jedoch nicht aktenkundig. Die Verhandlung und die Urteilsfällung am 2. Dezember 2013 in Abwesenheit des Angeklagten waren daher in Ansehung des Anklagevorwurfs des letztgenannten Strafantrags nicht zulässig (vgl Bauer/Jerabek , WK StPO § 427 Rz 12; RIS-Justiz RS0111828, RS0099130).

4)

Gutachten von Sachverständigen dürfen in der Hauptverhandlung nur in den in

§ 252 Abs 1 Z 2 und 4 StPO genannten Fällen verlesen oder vorgeführt werden (vgl dazu Ratz , WK StPO § 281 Rz 228). Eine Vorführermächtigung nach § 252 Abs 1 Z 2 StPO steht (mangels Vernehmung des Sachverständigen in der Hauptverhandlung) nicht in Rede. Aus dem Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung am 2. Dezember 2013 ist dessen Einverständnis mit einer diesbezüglichen Verlesung oder Vorführung im Sinn der Z 4 nicht abzuleiten (RIS Justiz RS0117012).

5) Gemäß § 258 Abs 1 StPO hat das Gericht bei der Urteilsfällung nur auf das Rücksicht zu nehmen, was in der Hauptverhandlung vorgekommen ist. Aktenstücke können nur insoweit als Beweismittel dienen, als sie in der Hauptverhandlung vorgelesen oder vom Vorsitzenden vorgetragen wurden. Vorgekommen ist ein Beweismittel dann, wenn es prozessordnungsgemäß in die Verhandlung eingeführt wurde (vgl Lendl , WK-StPO § 258 Rz 5). Die Verwertung der Verantwortung des Angeklagten sowie des Abschlussberichts der PI L***** und der Strafregisterauskunft ON 35 im Urteil des Bezirksgerichts Oberndorf vom 2. Dezember 2013 (ON 37 US 2) war daher mangels Verlesung der genannten Aktenbestandteile in der (neu durchgeführten) Hauptverhandlung vom 2. Dezember 2013 nicht zulässig.

6) Die Konstatierungen im Urteil vom 2. Dezember 2013 vermögen zufolge Fehlens von Feststellungen zur subjektiven Tatseite die Subsumtion (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) unter den Tatbestand des § 198 Abs 1 StGB nicht zu tragen.

Da nicht auszuschließen ist, dass die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Verurteilten wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO).

Alle vom aufgehobenen Urteil rechtslogisch abhängigen Entscheidungen und Verfügungen (vgl insbesonders ON 38, 45, 51) sind damit gegenstandslos und gelten gleichermaßen als beseitigt (RIS-Justiz RS0100444).

Rechtssätze
4
  • RS0111828OGH Rechtssatz

    14. Dezember 2023·3 Entscheidungen

    Unzulässigkeit im Abwesenheitsverfahren. Verletzung des rechtlichen Gehörs. Wurde im Verfahren wegen Verletzung der Unterhaltspflicht der Bestrafungsantrag erst in der in Abwesenheit des Beschuldigten vorgenommenen Hauptverhandlung auf einen weiteren Deliktszeitraum ausgedehnt, so ist die Ausdehnung auch der Verhandlung und des Urteils darauf unzulässig, weil die Sonderbestimmungen des § 263 StPO über die Anklageausdehnung in der Hauptverhandlung nur dann zum Tragen kommen, wenn die Verhandlung in Gegenwart des Beschuldigten stattfindet (so schon SSt 17/116). Kommt hingegen in einer in Abwesenheit des Beschuldigten vorgenommenen Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht eine neue Tat hervor, so hat der Ankläger, wenn er sie verfolgen will, gemäß der allgemeinen Vorschrift des § 451 Abs 1 StPO einen schriftlichen Bestrafungsantrag nachzutragen. War somit schon die Anklageausdehnung zu Protokoll formell verfehlt, so war erst recht die Ausdehnung auch der Verhandlung und des Urteils darauf unzulässig, weil der Beschuldigte solcherart im Verfahren niemals Gelegenheit hatte, zum erweiterten Anklagevorwurf Stellung zu nehmen. Durch das insoweit gepflogene Verfahren und das darüber erlassene Urteil wurde daher das Gesetz in dem in §§ 451 Abs 1 letzter Satzteil, 454 und 459 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art 6 MRK (nicht bloß in der Bestimmung des § 459 StPO) verletzt.