JudikaturJustiz12Os64/15a

12Os64/15a – OGH Entscheidung

Entscheidung
11. Juni 2015

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. Juni 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel-Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Kampitsch als Schriftführer in der Strafsache gegen Harald S***** wegen des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB, AZ 18 U 144/14z des Bezirksgerichts Feldkirch, über die von der Generalprokuratur gegen das (Abwesenheits-)Urteil dieses Gerichts vom 27. Mai 2014, GZ 18 U 144/14z-10, einen Beschluss und einen Vorgang in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Ulrich zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren AZ 18 U 144/14z des Bezirksgerichts Feldkirch verletzen das Gesetz

1./ die in der Hauptverhandlung am 27. Mai 2014 erfolgte Verlesung des Protokolls über die Vernehmung der Zeugin Bianka F***** in § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO;

2./ das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Feldkirch vom 27. Mai 2014, GZ 18 U 144/14z-10, soweit Harald S***** auch des im Zeitraum 11. April 2014 bis 27. Mai 2014 begangenen Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB schuldig erkannt wurde, in dem in §§ 6, 451 Abs 1 letzter Satz (idF BGBl I 2007/93) und 427 Abs 1 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art 6 EMRK;

3./ der gemeinsam mit dem genannten Urteil verkündete Beschluss des Bezirksgerichts Feldkirch vom 27. Mai 2014, GZ 18 U 144/14z 10, auf Absehen vom Widerruf der mit Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 31. August 2010, GZ 21 Hv 89/10x 19, gewährten bedingten Strafnachsicht und auf Verlängerung der Probezeit in § 53 Abs 3 StGB und § 56 StGB.

Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Feldkirch vom 27. Mai 2014, GZ 18 U 144/14z 10, wird aufgehoben und die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Feldkirch verwiesen.

Der Beschluss des Bezirksgerichts Feldkirch vom 27. Mai 2014, GZ 18 U 144/14z-10, wird im Umfang des Ausspruchs auf Verlängerung der Probezeit ersatzlos aufgehoben.

Text

Gründe:

Im Verfahren AZ 18 U 144/14z des Bezirksgerichts Feldkirch legte die Staatsanwaltschaft Feldkirch Harald S***** betreffend den Tatzeitraum 1. Jänner 2012 bis 10. April 2014 ein als Vergehen der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB subsumiertes Verhalten zum Nachteil des Leander F***** zur Last und beantragte den Widerruf der dem Angeklagten mit (seit 4. September 2010 rechtskräftigem) Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 31. August 2010, GZ 21 Hv 89/10x 19, gewährten bedingten Strafnachsicht (ON 7).

In der am 27. Mai 2014 in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung verlas der Bezirksrichter den auch ein Protokoll über die Vernehmung der Zeugin Bianka F***** beinhaltenden (ON 2 AS 37 f) „gesamten Akteninhalt“ und verkündete sodann „das Abwesenheitsurteil samt den wesentlichen Entscheidungsgründen“ (ON 9 S 2). Das Protokoll über die Hauptverhandlung enthielt entgegen § 271 Abs 1 Z 7 StPO die in § 260 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO bezeichneten Angaben nicht (ON 9).

Nach dem Inhalt des schriftlichen Urteils wurde der Angeklagte des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB schuldig erkannt. Danach hat er (zu ergänzen: in M*****; US 1) seine im Familienrecht begründete Unterhaltspflicht gegenüber seinem Sohn Leander F***** gröblich verletzt, indem er von 1. Jänner 2012 bis 27. Mai 2014 mit einer Ausnahme „im Juni/Juli 2013“ keine Unterhaltszahlungen leistete und dadurch bewirkte, dass der Unterhalt des Unterhaltsberechtigten gefährdet war oder ohne Hilfe von anderer Seite gefährdet gewesen wäre (ON 10).

Eine Beschlussfassung über den Antrag der Staatsanwaltschaft Feldkirch auf Widerruf bedingter Strafnachsicht ist der Urteilsschrift nicht zu entnehmen. In der Begründung sind jedoch Ausführungen zum Absehen vom Widerruf unter gleichzeitiger Verlängerung der Probezeit auf fünf Jahre (§ 494a Abs 1 Z 2, Abs 6 StPO) enthalten.

Mit rechtskräftigem Beschluss vom 3. Juli 2014 (ON 14) „ergänzte“ das Bezirksgericht Feldkirch die „mit dem mündlich verkündeten Urteil“ nicht übereinstimmende Urschrift des Abwesenheitsurteils (ON 10) gemäß § 270 Abs 3 StPO um einen Beschluss, mit welchem „gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht zu 21 Hv 89/10x des Landesgerichts Feldkirch abgesehen, jedoch die Probezeit auf fünf Jahre verlängert“ wurde.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, wurde durch das geschilderte Vorgehen das Gesetz mehrfach verletzt.

Vorangestellt sei, dass die Bestimmungen für das Verfahren vor dem Landesgericht als Schöffengericht auch für das Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht gelten, soweit das 22. Hauptstück der StPO nichts anderes bestimmt (§ 447 StPO).

1./ Protokolle über die Vernehmung von Zeugen sowie Amtsvermerke und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, dürfen bei sonstiger Nichtigkeit nur in den in § 252 Abs 1 StPO geregelten Ausnahmefällen verlesen werden.

Aus dem Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung kann dessen Einverständnis (im Sinn des § 252 Abs 1 Z 4 [und Abs 2a] StPO) zur Verlesung (bzw zum Vortrag) des „gesamten Akteninhaltes“ (ON 9 S 2) nicht abgeleitet werden (RIS-Justiz RS0117012, RS0099242 [T7]). Da auch keiner der Fälle des § 252 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO vorlag, war die in der Hauptverhandlung vom 27. Mai 2014 vorgenommene Verlesung, soweit diese auch das Protokoll über die Vernehmung der (den Angeklagten belastenden) Angaben der Zeugin Bianka F***** enthält (ON 2 AS 37 f), unzulässig.

Ungeachtet dessen, dass das Erstgericht die Feststellungen auf die (geständigen) Angaben des Angeklagten gegenüber der Polizeiinspektion Rankweil, die Einsicht in den Versicherungsdatenauszug und die Zahlungsbestätigung des A***** sowie an das vorgelegte Urteil des Amtsgerichts Wangen stützte und die Angaben der Zeugin Bianka F***** nicht explizit erwähnte (vgl US 2), bleibt es mit Blick auf § 292 letzter Satz StPO zweifelhaft, ob der Inhalt dieser unzulässigerweise vorgekommenen (belastenden) Zeugenaussage das Gericht bei der Entscheidung über die Frage der Schuld des Angeklagten nicht doch für diesen nachteilig beeinflussen konnte (vgl 12 Os 154/12g; Ratz , WK-StPO § 281 Rz 740).

2./ Da § 198 StGB ein Dauerdelikt ist, bedurfte es zwar bei zusammenhängenden Tatzeiträumen nach Einbringen des Strafantrags keiner Ausdehnung im Sinn des § 263 Abs 1 StPO (RIS-Justiz RS0128941 [T1]). Durch die Aburteilung auch des (zeitlich an den Strafantrag anschließenden) Tatzeitraums 11. April 2014 bis 27. Mai 2014 hat das Bezirksgericht Feldkirch aber gegen den in den §§ 6, 451 Abs 1 letzter Satz (idF BGBl I Nr 2007/93), 447 StPO iVm § 427 Abs 1 StPO zum Ausdruck gebrachten Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art 6 EMRK) verstoßen, weil der damalige Angeklagte im Verfahren niemals Gelegenheit hatte, zum über den (schriftlichen) Strafantrag hinausgehenden Vorwurf der Verletzung der Unterhaltspflicht Stellung zu nehmen (RIS Justiz RS0111828, RS0099130; Bauer/Jerabek , WK StPO § 427 Rz 12).

3./ Der (nach dem Inhalt des rechtskräftigen Angleichungsbeschlusses erfolgte; ON 14) Ausspruch auf Absehen vom Widerruf bedingter Strafnachsicht zu AZ 21 Hv 89/10x des Landesgerichts Feldkirch bei Verlängerung der Probezeit (§ 53 Abs 3 StGB) darf nur in der Probezeit, wegen einer während dieser Zeit begangenen strafbaren Handlung jedoch auch innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Probezeit oder nach Beendigung eines bei deren Ablauf gegen den Rechtsbrecher anhängigen Strafverfahrens ergehen (§ 56 StGB). Die Probezeit beginnt mit der Rechtskraft der Entscheidung, mit der die bedingte Strafnachsicht (§§ 43 f StGB) ausgesprochen worden ist (§ 49 erster Satz StGB).

Der Lauf der zu AZ 21 Hv 89/10x des Landesgerichts Feldkirch rechtskräftig bestimmten dreijährigen Probezeit endete am 4. September 2013. In die Probezeit nicht einzurechnende Zeiten, in denen der Verurteilte auf behördliche Anordnung angehalten worden wäre (§ 49 zweiter Satz StGB) sind nicht aktenkundig. Da auch das gegenständliche Strafverfahren erst nach Ablauf der Probezeit anhängig geworden ist, erfolgte die vorliegende Beschlussfassung außerhalb des von § 56 StGB erfassten Zeitraums.

Aufgrund der für den Verurteilten nachteiligen Auswirkungen der angefochtenen Entscheidungen sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, die festgestellten Gesetzesverletzungen mit der im Spruch ersichtlichen konkreten Wirkung zu verbinden.

Die vom kassierten Urteil rechtslogisch abhängigen Anordnungen, Verfügungen und Beschlüsse (hier insbesondere die Beschlussfassung betreffend den Haftaufschub ON 18) gelten gleichermaßen als beseitigt (RIS Justiz RS0100444).

Bleibt zu den Ausführungen der Generalprokuratur anzumerken, dass es einer Aufhebung des angefochtenen Beschlusses im Umfang des Absehens vom Widerruf der vom Landesgericht Feldkirch gewährten bedingten Strafnachsicht unter dem Aspekt des § 292 letzter Satz StPO nicht bedurfte (vgl 15 Os 35/15h).

Rechtssätze
5
  • RS0111828OGH Rechtssatz

    14. Dezember 2023·3 Entscheidungen

    Unzulässigkeit im Abwesenheitsverfahren. Verletzung des rechtlichen Gehörs. Wurde im Verfahren wegen Verletzung der Unterhaltspflicht der Bestrafungsantrag erst in der in Abwesenheit des Beschuldigten vorgenommenen Hauptverhandlung auf einen weiteren Deliktszeitraum ausgedehnt, so ist die Ausdehnung auch der Verhandlung und des Urteils darauf unzulässig, weil die Sonderbestimmungen des § 263 StPO über die Anklageausdehnung in der Hauptverhandlung nur dann zum Tragen kommen, wenn die Verhandlung in Gegenwart des Beschuldigten stattfindet (so schon SSt 17/116). Kommt hingegen in einer in Abwesenheit des Beschuldigten vorgenommenen Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht eine neue Tat hervor, so hat der Ankläger, wenn er sie verfolgen will, gemäß der allgemeinen Vorschrift des § 451 Abs 1 StPO einen schriftlichen Bestrafungsantrag nachzutragen. War somit schon die Anklageausdehnung zu Protokoll formell verfehlt, so war erst recht die Ausdehnung auch der Verhandlung und des Urteils darauf unzulässig, weil der Beschuldigte solcherart im Verfahren niemals Gelegenheit hatte, zum erweiterten Anklagevorwurf Stellung zu nehmen. Durch das insoweit gepflogene Verfahren und das darüber erlassene Urteil wurde daher das Gesetz in dem in §§ 451 Abs 1 letzter Satzteil, 454 und 459 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art 6 MRK (nicht bloß in der Bestimmung des § 459 StPO) verletzt.