JudikaturJustiz12Os139/16g

12Os139/16g – OGH Entscheidung

Entscheidung
24. November 2016

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. November 2016 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oshidari als Vorsitzenden sowie durch die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Rathgeb als Schriftführerin in der Strafsache gegen Muhsin I***** und andere wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 Abs 1 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 162 Hv 66/16p des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Albert K***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 17. Oktober 2016, AZ 21 Bs 323/16b, 333/16y (ON 183 der Hv Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Albert K***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

Gegen den am 20. April 2002 geborenen, also jugendlichen Angeklagten Albert K***** war beim Landesgericht für Strafsachen Wien ein Hauptverfahren anhängig, in welchem ihm als Verbrechen des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 Abs 1 zweiter Fall StGB, des Raubes nach §§ 15, 142 Abs 1 StGB (Tatzeiten 27. und 28. April 2016) und des schweren Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 5, 129 Abs 1 Z 3 und Abs 2 Z 1 StGB (Tatzeiten 20. Juni und 5. August 2016; Beutewert insgesamt rund 45.277 Euro) sowie Vergehen der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB und der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB (Tatzeiten 22. Juni und 5. August 2016) qualifiziertes Verhalten zur Last gelegt wurde. Zwischenzeitig wurde der Beschwerdeführer mit in Rechtskraft erwachsenem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Jugendschöffengericht vom 14. November 2016, das auch einen Freispruch enthält, des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 Abs 1 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen schuldig erkannt und zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe verurteilt. Der Jugendliche wurde enthaftet.

Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Oberlandesgericht Wien als Beschwerdegericht den Beschwerden des Angeklagten gegen die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15. und vom 28. September 2016, mit welchen über ihn (nach Aufhebung einer zweiwöchigen Untersuchungshaft unter Anwendung gelinderer Mittel am 15. Juni 2016 [ON 55] neuerlich) die Untersuchungshaft verhängt (ON 147a) und fortgesetzt (ON 167) worden war, nicht Folge und setzte diese (unter Mitteilung des Endes der Haftfrist am 19. Dezember 2016) – ausgehend vom (in der Entscheidung detailliert wiedergegebenen) dringenden Tatverdacht der angelasteten Delinquenz – aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO fort.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen erhobenen Grundrechtsbeschwerde des Albert K***** kommt keine Berechtigung zu.

Der Beschwerde zuwider hat das Oberlandesgericht Unverhältnismäßigkeit der Haft auch in Ansehung der Kriterien damit verbundener Nachteile für die Persönlichkeitsentwicklung und das Fortkommen des Jugendlichen (§ 35 Abs 1 zweiter Satz JGG) geprüft und aufgrund der Berichte der Wiener Jugendgerichtshilfe und des Bewährungshelfers (insbesondere zum Schulverweis [ON 132]) sowie mit Blick auf die Bedeutung der angelasteten wiederholten Taten und die bei einem Strafrahmen von bis zu siebeneinhalb Jahren Freiheitsstrafe (§ 143 Abs 1 StGB iVm § 5 Z 4 JGG) zu erwartende Strafe verneint (BS 5 ff), was jedenfalls vertretbar ist (RIS-Justiz RS0120790). Dabei hat es im Hinblick auf die zur Last liegende Verbrechenshäufung mit beträchtlichem Beutewert auch die Voraussetzungen einer Diversion (§ 7 JGG) – schon – in Ansehung des Erfordernisses einer nicht schweren Schuld (§ 7 Abs 2 Z 1 JGG) entgegen dem Beschwerdestandpunkt zutreffend negiert (BS 6).

Nach § 173 Abs 4 StPO hindert es die Verhängung oder Fortsetzung der Untersuchungshaft, wenn die Haftzwecke auch durch eine „gleichzeitige Strafhaft oder Haft anderer Art“ erreicht werden können. Voraussetzung dieses Hafthindernisses ist daher, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Verhängung oder Fortsetzung der Untersuchungshaft eine Haft anderer Art zum Vollzug ansteht ( Kirchbacher/Rami , WK StPO § 173 Rz 60), dass also eine bestimmte andere Haft vollstreckbar ist und sofort vollzogen werden kann. Nur eine solcherart zum jeweiligen Entscheidungszeitpunkt positiv feststehende Haft anderer Art vermag daher – unter der weiteren Voraussetzung der Substituierbarkeit der Haftzwecke – ein Hafthindernis mit der Konsequenz einer Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit (§ 2 Abs 1 GRBG) bei dessen Nichtberücksichtigung zu begründen (vgl auch Kier in WK 2 GRBG § 2 Rz 122).

Mit dem Hinweis auf eine in der Haftverhandlung vom 28. September 2016 (ON 168) vorgelegte unvollständige Kopie einer gegen den Beschwerdeführer ergangenen Strafverfügung der Bezirkshauptmannschaft Tulln vom 31. August 2016 wird das in Rede stehende Hafthindernis und damit ein Verstoß gegen § 173 Abs 4 StPO nicht dargetan, weil sich daraus für das Oberlandesgericht nicht die unmittelbare Vollstreckbarkeit einer Ersatzfreiheitsstrafe ergab. Die Erreichbarkeit der Haftzwecke iSd § 173 Abs 4 StPO wurde vom Beschwerdeführer bloß unsubstantiiert behauptet.

Mit dem gegen die Mitteilung der Haftfrist gerichteten Einwand einer entgegen § 35 Abs 3a erster Satz JGG nicht gesetzeskonformen Anwendung des § 174 Abs 4 zweiter Satz StPO richtet sich der Beschwerdeführer nicht gegen eine strafgerichtliche Entscheidung oder Verfügung (§ 1 Abs 1 GRBG), weil die datumsmäßige Festlegung der Haftfrist nur deklarativ ist (RIS-Justiz RS0109708 [T1]). Im Übrigen wird verkannt, dass das Oberlandesgericht zugleich auch über die Beschwerde gegen den Beschluss auf Fortsetzung der Untersuchungshaft vom 28. September 2016 entschieden hat, sodass sich die Festlegung der Haftfrist vorliegend auf die – von § 35 Abs 3a JGG unberührte – Bestimmung des § 175 Abs 2 Z 3 StPO, nicht aber auf § 174 Abs 4 zweiter Satz StPO stützt.

Die Rüge des Unterbleibens einer Anhörung des Bewährungshelfers und der Vertreterin der Wiener Jugendgerichtshilfe in der Haftverhandlung (ON 168) – welche nach dem Beschwerdevorbringen die Möglichkeit der Unterbringung des Angeklagten in einer betreuten Wohneinrichtung, „wo weder Flucht- noch Tatbegehungsgefahr befürchtet werden muss“, ergeben hätte – verkennt, dass eine solche Anhörung gesetzlich nicht vorgeschrieben ist (vgl § 176 Abs 4 StPO) und verweist – in Anbetracht der angelasteten wiederholten Vermögens- und Gewaltdelinquenz ungeachtet bereits erfolgter Anhaltung in Untersuchungshaft (BS 1 ff) – im Übrigen auch in der Sache nicht auf eine die Verminderung der Tatbegehungsgefahr indizierende Änderung der Verhältnisse (§ 173 Abs 3 letzter Satz StPO).

Mit dem Einwand einer Verletzung des rechtlichen Gehörs im Hinblick auf telefonische Erhebungen des Beschwerdegerichts beim Bewährungshelfer zeigt der Beschwerdeführer mangels Darlegung, dass eine entsprechende Information zur Geltendmachung von die Fortsetzung der Untersuchungshaft hindernden Umständen geführt hätte, keine Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit auf (§ 2 Abs 1 GRBG; vgl neuerlich Kier in WK 2 GRBG § 2 Rz 5, 81).

Der Vollständigkeit halber bleibt anzumerken, dass nach dem nun auch in schriftlicher Ausfertigung (vgl BS 7) vorliegenden jugendneuropsychiatrischen Sachverständigengutachten vom 21. Oktober 2016 (ON 185) keine Anhaltspunkte für eine verzögerte Reife des Angeklagten (§ 4 Abs 2 Z 1 JGG) vorliegen.

Die Grundrechtsbeschwerde war demnach – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.

Rechtssätze
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