JudikaturJustiz11Os75/20v

11Os75/20v – OGH Entscheidung

Entscheidung
01. September 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 1. September 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Weinhandl als Schriftführerin in der Strafsache gegen A***** L***** und E***** L***** wegen des Verbrechens des Mordes nach §§ 2, 75 StGB sowie weiterer strafbarer Handlungen, AZ 38 Hv 78/19i des Landesgerichts Krems an der Donau, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts als Geschworenengericht vom 12. Februar 2020 (ON 53 der Hv Akten) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin MMag. Jenichl, sowie des Verteidigers der Angeklagten Mag. Rauf zu Recht erkannt:

Spruch

Das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Geschworenengericht vom 12. Februar 2020, GZ 38 Hv 78/19i-53, verletzt § 92 Abs 2, Abs 3 erster Fall StGB.

Dieses Urteil wird in den Schuldsprüchen, demzufolge auch in den Strafaussprüchen (einschließlich der Vorhaftanrechnungen) aufgehoben und es wird aufgrund des ihm zugrunde liegenden, unberührt bleibenden Wahrspruchs in der Sache selbst erkannt:

A***** L***** und E***** L***** sind schuldig, sie haben vom Mai 2017 bis zum 17. September 2019 in W***** im einverständlichen Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 erster Fall StGB) ihre Verpflichtung zur Fürsorge und Obhut gegenüber ihrer Tochter R***** L*****, die ihrer Fürsorge und Obhut unterstand und die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, gröblich vernachlässigt und dadurch deren Gesundheit beträchtlich geschädigt, wobei die Tat den Tod der Geschädigten zur Folge hatte, indem sie die notwendige medizinische Behandlung und fortlaufende Therapie der chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung ihrer Tochter unterbanden, wodurch diese letztlich infolge einer Zuckerstoffwechselentgleisung am 17. September 2019 an Herz-Kreislauf-Versagen verstarb,

und haben hiedurch jeweils das Verbrechen des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 2, Abs 3 zweiter Fall StGB begangen.

Im Umfang der Aufhebung der Strafaussprüche wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Krems an der Donau als Geschworenengericht zur Strafneubemessung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhendem (und insoweit unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem) Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Geschworenengericht vom 12. Februar 2020, GZ 38 Hv 78/19i 53, wurden A***** L***** und E***** L***** jeweils eines Verbrechens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 2, Abs 3 erster Fall StGB (I) und eines (weiteren) solchen Verbrechens nach § 92 Abs 2, Abs 3 zweiter Fall StGB (II) schuldig erkannt.

Danach haben sie im einverständlichen Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 erster Fall StGB) in W*****

„(I) vom Mai 2017 bis zuletzt am 16. September 2019 die Verpflichtung zur Fürsorge und Obhut über ihre am ***** 2006 geborene Tochter R***** L*****, die ihrer Fürsorge und Obhut unterstand und die das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, gröblich vernachlässigt und dadurch deren Gesundheit und körperliche Entwicklung beträchtlich geschädigt, indem sie die notwendige medizinische Behandlung und fortlaufende Therapie der Erkrankung ihrer Tochter in Form einer chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung unterbanden, wodurch diese an Untergewicht und Mangelernährung, Verdauungsstörungen, Schmerzen und Übelkeit litt und sich ihr gesundheitlicher Zustand durch den fortschreitenden entzündlichen Prozess durch Zerstörung der Inselzellen bis hin zum Entstehen einer Zuckerkrankheit fortwährend verschlechterte, sodass die Tat eine Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen (§ 85 StGB) zur Folge hatte;

(II) 16. September 2019 bis 17. September 2019 die Verpflichtung zur Fürsorge und Obhut über ihre am ***** 2006 geborene Tochter R***** L*****, die ihrer Fürsorge und Obhut unterstand und die das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, gröblich vernachlässigt und dadurch deren Gesundheit und körperliche Entwicklung beträchtlich geschädigt, indem sie die notwendige medizinische Behandlung und fortlaufende Therapie der Erkrankung ihrer Tochter in Form einer chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung unterbanden, wodurch R***** infolge einer Zuckerstoffwechselentgleisung in Form eines ketoazidotischen Komas bei einer vorbestehenden, krankhaften Organveränderung der Bauchspeicheldrüse in Form einer chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung mit feingeweblichen Befunden einer cystischen Fibrose und vorbestehender Kachexie nach agonalem Hinzutreten einer herdförmigen Lungenentzündung an Herz-Kreislauf-Versagen am Abend des 17. September 2019 verstarb, was bei ärztlicher Intervention mit Sicherheit zu verhindern gewesen wäre.“

Die Geschworenen hatten die anklagekonform gestellten Hauptfragen in Richtung des Verbrechens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 2, Abs 3 erster Fall StGB (1 und 2) bejaht, jene in Richtung des Verbrechens des Mordes nach §§ 2, 75 StGB (3 und 4) verneint und die infolge deren Verneinung zu beantwortenden Eventualfragen (1 und 2) in Richtung des Verbrechens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 2, Abs 3 zweiter Fall StGB bejaht.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht das angefochtene Urteil mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Zum Grundtatbestand (§ 92 Abs 2 StGB):

Das tatsächliche Korrelat zur rechtlichen Unterstellung nach § 260 Abs 1 Z 2 StPO stellt im geschworenengerichtlichen Verfahren der im Urteil wiederzugebende (§ 342 dritter Satz StPO) Wahrspruch der Geschworenen in seiner Gesamtheit dar ( Ratz , WK StPO § 281 Rz 613; RIS Justiz RS0101469 [insbesondere T3, T4], RS0101476).

Auf Basis dessen (US 1 ff) bildet das durch Bejahung der Hauptfragen 1 und 2 („bis zuletzt am 16. September 2019“) einerseits und der Eventualfragen 1 und 2 („von 16. September 2019 bis 17. September 2019“) anderseits festgestellte Tatsachensubstrat jeweils Teilaspekte einer (in Ansehung jedes der beiden Angeklagten) einzigen tatbestandlichen Handlungseinheit nach § 92 Abs 2 StGB (zu dieser Rechtsfigur 13 Os 1/07g [verst Senat]; RIS Justiz RS0122006, RS0127374; Ratz in WK 2 StGB Vor §§ 28–31 Rz 89 und – im gegebenen Zusammenhang – Rz 91 sowie Oberressl in WK 2 StGB § 312 Rz 10 ff, 24 [zu den mit jenen des § 92 StGB identen Tathandlungen des § 312 StGB]).

Hiervon ausgehend ist die Annahme (jeweils) mehrerer strafbarer Handlungen nach § 92 Abs 2 StGB verfehlt.

Zu den Qualifikationstatbeständen (§ 92 Abs 3 erster und zweiter Fall StGB):

Auf der Grundlage des Wahrspruchs hatte die jeweilige Tat zunächst (Hauptfragen 1 und 2) eine Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen (§ 85 StGB) und schließlich (Eventualfragen 1 und 2) den Tod des Opfers zur Folge.

Ein Körperverletzungsdelikt (gemeint ist eine rechtliche Kategorie – Ratz in WK 2 StGB Vor §§ 28–31 Rz 1) ist gegenüber einem Tötungsdelikt materiell subsidiär, wenn ein einheitliches Tatgeschehen vorliegt, das jeweilige Angriffsobjekt ident ist und Ersteres nur als Vorstufe des Letzteren anzusehen ist, also nicht darüber hinausgreift ( Burgstaller , JBl 1978, 393 [402]; Ratz in WK² StGB Vor §§ 28–31 Rz 46). Demzufolge wird in solchen Fällen bei gestuften Erfolgsqualifikationen – somit auch im Verhältnis der beiden Fälle des § 92 Abs 3 StGB – im Fall des Todeseintritts nur die darauf abstellende Qualifikationsnorm und nicht auch die für die Herbeiführung einer qualifizierten Körperverletzung aufgestellte weitere begründet (RIS Justiz RS0126577, vgl auch RS0092697): Bei (wie hier) Tat- und Opferidentität verdrängt der zweite den ersten Fall des § 92 Abs 3 StGB kraft materieller Subsidiarität. Die (jeweilige) rechtliche Unterstellung nach § 92 Abs 3 erster Fall StGB widerspricht im Gegenstand daher dem Gesetz.

Vielmehr wäre die vom Schuldspruch umfasste – einzige – Tat jedes der Angeklagten einem Verbrechen des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 2, Abs 3 zweiter Fall StGB zu subsumieren gewesen.

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Nachteil der Angeklagten wirkt, sah sich der Oberste Gerichtshof dazu bestimmt, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

Rechtssätze
5
  • RS0122006OGH Rechtssatz

    18. März 2024·3 Entscheidungen

    Soweit in früherer Rechtsprechung unter dem Begriff des „fortgesetzten Delikts" (nach Maßgabe zuweilen geforderter, indes uneinheitlich gehandhabter weiterer Erfordernisse) mehrere den gleichen Tatbestand (ob versucht oder vollendet) erfüllende, mit einem „Gesamtvorsatz" begangene Handlungen zu einer dem Gesetz nicht bekannten rechtlichen Handlungseinheit mit der Konsequenz zusammengefasst wurden, dass durch die je für sich selbständigen gleichartigen Straftaten doch nur eine einzige strafbare Handlung begründet würde, hat der Oberste Gerichtshof diese Rechtsfigur der Sache nach bereits mit der Bejahung ihrer prozessualen Teilbarkeit durch die Grundsatzentscheidung SSt 56/88 = EvBl 1986/123 aufgegeben. Seither reduziert er deren Bedeutung auf den unverzichtbaren Kernbereich der der Rechtsfigur zugrunde liegenden Vorstellung, den er als tatbestandliche Handlungseinheit bezeichnet. In der Anerkennung des Fortsetzungszusammenhangs bloß nach Maßgabe tatbestandlicher Handlungseinheiten liegt gezielte Ablehnung einer absoluten Sicht des fortgesetzten Delikts und ein Bekenntnis zur deliktsspezifischen Konzeption. Denn der Unterschied zwischen der Rechtsfigur des fortgesetzten Delikts und der tatbestandlichen Handlungseinheit besteht darin, dass die Rechtsfigur des fortgesetzten Delikts aus dem allgemeinen Teil des materiellen Strafrechts abgeleitet wird, die der tatbestandlichen Handlungseinheit aber gleichartige Handlungen nach Maßgabe einzelner Tatbestände zusammenfasst. Die Kriterien einer Zusammenfassung können demnach durchaus deliktsspezifisch verschieden sein, ohne dass daraus das ganze Strafrechtssystem erfassende Widersprüche auftreten. Von einer tatbestandlichen Handlungseinheit spricht man im Anschluss an Jescheck/Weigend5 (711ff) bei einfacher Tatbestandsverwirklichung, also der Erfüllung der Mindestvoraussetzungen des gesetzlichen Tatbestands, insbesondere bei mehraktigen Delikten und Dauerdelikten (tatbestandliche Handlungseinheit im engeren Sinn) und dort, wo es nur um die Intensität der einheitlichen Tatausführung geht (SSt 56/88), demnach bei wiederholter Verwirklichung des gleichen Tatbestands in kurzer zeitlicher Abfolge, also bei nur quantitativer Steigerung (einheitliches Unrecht) und einheitlicher Motivationslage (einheitliche Schuld), auch wenn höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Träger verletzt werden, sowie bei fortlaufender Tatbestandsverwirklichung, also der Annäherung an den tatbestandsmäßigen Erfolg durch mehrere Einzelakte im Fall einheitlicher Tatsituation und gleicher Motivationslage, etwa beim Übergang vom Versuch zur Vollendung oder bei einem Einbruchsdiebstahl in zwei Etappen (tatbestandliche Handlungseinheit im weiteren Sinn).