JudikaturJustiz10ObS69/00w

10ObS69/00w – OGH Entscheidung

Entscheidung
03. Oktober 2000

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Manfred Gründler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. RegR. Winfried Kmenta (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ljubinka S*****, vertreten durch Dr. Peter Schlösser, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vertreten durch Dr. Andreas Grundei, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. Dezember 1999, GZ 7 Rs 240/99i-72, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. September 1999, GZ 36 Cgs 279/95p-68, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen, die hinsichtlich der Zuerkennung der Invaliditätspension an die klagende Partei ab 1. 7. 1993 und des Auftrages an die beklagte Partei, der klagenden Partei ab 1. 7. 1993 bis zur Erlassung des die Höhe dieser Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige monatliche Zahlung von S 1.500 zu erbringen hat, und zwar die bis zur Rechtskraft dieses Verfahrens fälligen Beträge binnen 14 Tagen, die in Hinkunft fällig werdenden Beträge am Ersten eines jeden Monats im Nachhinein, in Teilrechtskraft erwachsen sind, werden im Übrigen dahin abgeändert, dass das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei auch für den Zeitraum 1. 5. 1993 bis 30. 6. 1993 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, abgewiesen und der Auftrag an die beklagte Partei, der klagenden Partei für diesen Zeitraum eine vorläufige monatliche Zahlung von S

1.500 zu erbringen, ersatzlos aufgehoben wird.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 30. 5. 1955 geborene Klägerin hat nach Absolvierung der Pflichtschule zunächst keine qualifzierte Berufsausbildung erfahren. Sie war zuerst im ehemaligen Jugoslawien und anschließend im Jahr 1972 als Näherin sowie in weiterer Folge bis 1976 als Fabriksarbeiterin beschäftigt. Vom 2. 10. 1977 bis 2. 4. 1978 absolvierte sie in Bosnien-Herzegowina eine Ausbildung zum Erwerb der Berufsbezeichnung "qualifizierter Dienstnehmer im Schuhwerkfach Stepper-Näher". Das theoretische Wissen, das in diesem Kurs übermittelt wird, geht weit über jenes im Rahmen einer zweijährigen Lehrausbildung eines Oberteilherrichters in Österreich hinaus. Von Mai 1979 bis Februar 1980 war die Klägerin in einer Fabrik in Slowenien beschäftigt. In der Zeit vom 1. 7. 1981 bis 30. 10. 1981 nahm sie an einem weiteren Lehrgang teil und legte eine Prüfung für den Beruf "qualifizierte Arbeiterin-Schuhmacherin" ab. Von Juni 1991 bis September 1993 war die Klägerin schließlich in einer Schuhwerkfabrik in Prnjavor beschäftigt und verrichtete dort die Tätigkeiten einer Oberteilherrichterin. Oberteilherrichter stellen im Wesentlichen Schuhoberteile für alle Arten von Schuhen nach Maß oder nach Schablonen her.

Auf Grund ihrer vom Erstgericht im Detail festgestellten gesundheitlichen Leiden kann die Klägerin nur noch leichte Arbeiten im Sitzen, Stehen und Gehen verrichten. Neben verschiedenen Einschränkungen scheiden auch Akkord- und Fließbandarbeiten, Nachtarbeiten, Arbeiten unter forciertem Arbeitstempo und Arbeiten, die einen Feingriff erfordern, aus. Für die Tätigkeit des Oberteilherrichters müssen die Fingergeschicklichkeit und das Feingefühl der Finger erhalten sein. Sämtliche Berufe im Berufsfeld eines Schuhmachers bzw eines Oberteilherrichters erfordern das Vorliegen einer entsprechenden Feinmotorik für die durchzuführenden Näh- und Stepparbeiten und die anderen damit verbundenen Arbeiten.

Mit Bescheid vom 28. 12. 1994 wies die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 20. 4. 1993 auf Zuerkennung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass Invalidität nicht vorliege (Stichtag 1. 5. 1993).

Das Erstgericht stellte mit Urteil im zweiten Rechtsgang fest, dass das Klagebegehren auf Gewährung einer Invaliditätspension ab 1. 5. 1993 dem Grunde nach zu Recht bestehe, und trug der beklagten Partei eine vorläufige monatliche Zahlung von S 1.500 ab 1. 5. 1993 auf. Auf der Grundlage des eingangs wiedergegebenen Sachverhalts vertrat es die Rechtsansicht, dass die Klägerin auf Grund ihrer in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag verrichteten Tätigkeit Berufsschutz als Oberteilherrichterin genieße. Die Klägerin sei invalid, weil sie zur Ausübung dieses Berufes nicht mehr in der Lage sei und Verweisungsberufe nicht vorhanden seien.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei, die sich nur gegen den Zuspruch einer Invaliditätspension für den Zeitraum 1.

5. bis 30. 6. 1993 richtete, nicht Folge.

Aus der Feststellung des Erstgerichtes, dass die Klägerin von Juni 1991 bis September 1993 in einer Schuhfabrik beschäftigt gewesen sei und dort die Tätigkeiten einer Oberteilherrichterin verrichtet habe, folge, dass die Klägerin bis 30. 9. 1993 nach den Rechtsvorschriften des ehemaligen Jugoslawiens in einem aufrechten Pflichtversicherungsverhältnis gestanden sei. Richtig sei, dass § 254 Abs 1 ASVG in der zum Stichtag (1. 5. 1993) geltenden Fassung den Anspruch auf Invaliditätspension unter anderem daran geknüpft habe, dass der Versicherte am Stichtag keinem Pflichtversicherungsverhältnis in der Pensionversicherung unterlegen sei. Diese Voraussetzung sei erst durch das mit 1. 7. 1993 in Kraft getretene Sozialrechts-Änderungsgesetz 1993 beseitigt worden. Das Bestehen eines aufrechten Pflichtversicherungsverhältnisses stelle demnach einen anspruchshindernden Umstand dar, der allerdings nicht von Amts wegen, sondern nur über Einwendung der beklagten Partei wahrzunehmen gewesen wäre. Die beklagte Partei habe aber in erster Instanz kein Vorbringen zu einer aufrechten Pflichtversicherung der Klägerin erstattet, sondern sich mit dem Einwand fehlender Invalidität begnügt, obwohl mehrfach Hinweise auf ein bestehendes Pflichtversicherungsverhältnis vorgelegen seien. Mit ihrer diesbezüglichen erstmals in der Berufung aufgestellten Behauptung verstoße die beklagte Partei daher gegen das in Sozialrechtssachen geltende Neuerungsverbot. Die überschießende Feststellung des Erstgerichtes könne nur dann berücksichtigt werden, wenn sie in den Rahmen einer bestimmten Einwendung falle; sie könne ein Vorbringen nicht ersetzen. Ein anspruchshemmender Umstand wie der Wegfall einer Pension auf Grund bestehender Erwerbstätigkeit sei nur auf Einwand wahrzunehmen (SSV-NF 12/53). Nichts Anderes könne im vorliegenden Fall gelten. Im einzigen von der beklagten Partei erhobenen Einwand der fehlenden Invalidität könne auch bei weitherzigster Auslegung nicht der Einwand des Bestehens einer Pflichtversicherung erblickt werden. Es wäre Sache der beklagten Partei gewesen, diese rechtsaufhebende Tatsache einzuwenden.

Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das Klagebegehren zum geltenden Stichtag (1. 5. 1993) abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Die Revision ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Frage, ob die Klägerin Berufsschutz als Oberteilherrichterin genießt, braucht nicht überprüft werden, weil die Zuerkennung einer Invaliditätspension an die Klägerin ab 1. 7. 1993 durch das Erstgericht mangels Bekämpfung durch die Berufung der beklagten Partei (ON 69) in Teilrechtskraft erwuchs und für den den Gegenstand des Revisionsverfahrens bildenden davor liegenden Zeitraum 1. 5. bis 30. 6. 1993 schon aus dem nachstehenden Gründen kein Anspruch der Klägerin besteht:

Laut Auskunft des jugoslawischen Sozialversicherungsträgers vom 2. 5. 1994 erwarb die Klägerin im Zeitraum 10. 6. 1981 bis 30. 9. 1993 147 Versicherungsmonate (Stück 6 verso des Pensionsaktes der beklagten Partei vgl RIS-Justiz RS0113190). Das Bestehen einer Pflichtversicherung der Klägerin in dem von der Revision betroffenen Zeitraum ist nicht mehr strittig (ON 75, AS 365). Die Revisionswerberin stützt sich ausschließlich auf den Umstand, dass kein Verstoß gegen das Neuerungsverbot vorliege, sondern es Sache der Gerichte, wäre von Amts wegen die am Stichtag geltenden Rechtsvorschriften anzuwenden. Die festgestellte, der Invaliditätspension entgegenstehende Pflichtversicherung der Klägerin am Stichtag wäre daher ebenfalls von Amts wegen wahrzunehmen gewesen.

Dem hält die Revisionsgegnerin lediglich entgegen, dass das Bestehen der Pflichtversicherung nicht schade, weil die beklagte Partei keine diesbezüglich Einrede erhoben habe.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich die Beurteilung, ob, in welchem Zweig der Pensionsversicherung und in welchem Ausmaß eine Leistung gebührt, grundsätzlich nach den Verhältnissen am Stichtag richtet (§ 223 Abs 2 ASVG; Teschner in Tomandl, SV-System 386 f). Nach § 254 Abs 1 ASVG in der am Stichtag (1. 5. 1993) geltenden Fassung war ein Anspruch auf Invaliditätspension unter anderem dann ausgeschlossen, wenn der Versicherte am Stichtag nach dem ASVG, GSVG oder BSVG pflichtversichert war (Teschner/Widlar, ASVG, Anm 1 zu § 254). Beide Teile gehen von der Anwendung des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Sozialistischen Förderativen Republik Jugoslawien über Soziale Sicherheit vom 19. 11. 1965, BGBl Nr 289/1966 (AbkSozSi-Jugoslawien) in der Fassung des Zweiten Zusatzabkommens vom 11. 5. 1988, BGBl Nr 269/1989, aus. Soweit eine Pflichtversicherung nach den Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates rechtliche Auswirkungen auf eine Leistung der Sozialversicherung hat, kam gemäß Art 6 des AbkSozSi-Jugoslawien die gleiche Wirkung auch einer gleichartigen Pflichtversicherung im anderen Vertragsstaat zu. Durch die Gleichstellung des Tatbestandes "Pflichtversicherung" wurde insbesondere erreicht, dass auch weiterhin eine am Stichtag bestehende Pflichtversicherung in Jugoslawien in gleicher Weise wie eine Pflichtversicherung in Österreich einen Anspruch auf Alterspension (s. zB § 253 Abs 1 ASVG aF) ausschließt (RV 605 BlgNR

17. GP, 17; Siedl/Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, AbkSozSi-Jugoslawien 21; Spiegel in SozSi 1981, 507 [508]). Für die Invaliditätspension nach § 254 Abs 1 ASVG aF, die ebenfalls durch eine Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung am Stichtag ausgeschlossen wurde, hat das Gleiche zu gelten.

Fällt der Stichtag sohin in die Zeit der ab 1. 4. 1991 auf Grund des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 geltenden Fassung des § 254 Abs 1 ASVG vorliegt , so besteht auch dann, wenn im Übrigen Invalidität im Sinne des § 255 ASVG vorliegt, kein Anspruch auf Invaliditätspension, solange auf Grund einer Beschäftigung bei einem Arbeitgeber im Inland die Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung aufrecht besteht (SSV-NF 7/9). Durch die Gleichstellungsbestimmung im AbkSozSi-Jugoslawien wirkt eine in Jugoslawien verwirklichte Tatsche der Pflichtversicherung auch für den österreichischen Rechtsbereich (vgl SSV-NF 11/50).

Auch im Verfahren vor dem Sozialgericht gelten die Regeln der objektiven Beweislast. Ein Anspruch kann grundsätzlich nur bejaht werden, wenn die anspruchsbegründenden Tatsachen erwiesen sind (SSV-NF 5/140; 10 ObS 243/98b; 10 ObS 186/00a; RIS-Justiz RS0086045). Gemäß § 87 Abs 1 ASGG hat das Gericht in Sozialrechtsachen sämtliche notwendig erscheinenden Beweise von Amts wegen aufzunehmen, wenn sich im Verfahren entsprechende Anhaltspunkte für einen Sachverhalt ergeben, der für die Entscheidung von Bedeutung sein kann (RIS-Justiz RS0042477), und zwar innerhalb der weit zu steckenden Grenzen des Parteivorbringens (10 ObS 81/99f). Dies war hier der Fall, das Erstgericht kam auch seiner diesbezüglichen Verpflichtung nach. Eine "überschießende" Feststellung des Erstgerichtes zum Thema des Vorliegens einer Pflichtversicherung zum Stichtag liegt daher nicht vor. Das Berufungsgericht lässt unberücksichtigt, dass das Fehlen der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung bei Geltung des § 254 Abs 1 ASVG in der seit 1. 4. 1991 geltenden Fassung am Stichtag 1. 5. 1993 eine Voraussetzung des eingeklagten Leistungsanspruches ist (vgl auch SSV-NF 12/43; RIS-Justiz RS0085879). Der Verweis des Berufungsgerichtes auf SSV-NF 12/53 zur Begründung einer Verletzung des Neuerungsverbotes in der Berufung der beklagten Partei geht fehl, weil es im dort zu beurteilenden Fall, anders als im gegenständlichen Fall, nicht um die Frage des Anspruchs, sondern um die davon streng zu trennende Frage des Wegfalls ging. Beim Wegfall der Pension handelt es sich bloß um einen die Pensionsauszahlung hemmenden Umstand, der tatsächlich nicht von Amts wegen, sondern nur über Einwendung des Versicherungsträgers wahrzunehmen ist (SSV-NF 12/53; 10 ObS 129/99i; RIS-Justiz RS0109683). Hier geht es jedoch um eine Anspruchsvoraussetzung, deren Fehlen von Amts wegen wahrzunehmen ist. Infolge aufrechter Pflichtversicherung der Klägerin am Stichtag ist ein Anspruch auf die begehrte Leistung für den hier relevanten Zeitraum 1. 5. bis 30. 6. 1993 weder entstanden (§§ 85 und 254 Abs 1 ASVG) noch angefallen (§ 86 Abs 3 Z 3 ASVG; SSV-NF 7/9).

Der Revision der beklagten Partei war daher Folge zu geben und spruchgemäß zu entscheiden.

Die Kostenentscheidungen in I. und II. Instanz bleiben von der Teilabweisung unberührt (§ 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG). Die Kostenentscheidung des Revisionsgerichtes beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

Rechtssätze
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