JudikaturJustiz10ObS44/22a

10ObS44/22a – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. April 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ. Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Sylvia Zechmeister (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei T*, Ungarn, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Lackner Hausmann Rechtsanwälte OG in Eisenstadt, wegen Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. August 2021, GZ 10 Rs 47/21m 14, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 20. Jänner 2021, GZ 24 Cgs 117/20a 9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Oberste Gerichtshof stellt gemäß Art 89 Abs 2 B VG (Art 140 Abs 1 Z 1 lit a B VG) an den Verfassungsgerichtshof den Antrag, in § 31 Abs 2 erster Satz Kinderbetreuungsgeldgesetz (KBGG), BGBl I 2001/103 idF BGBl I 2016/53, die Wortfolge „ oder die Auszahlung von Leistungen irrtümlich erfolgte, “ als verfassungswidrig aufzuheben.

Mit der Fortführung des Revisionsverfahrens wird bis zur Zustellung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs innegehalten.

Text

Begründung:

[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob die Klägerin als Bezieherin einer Leistung nach dem Kinderbetreuungsgeldgesetz (KBGG) zu deren Rückersatz auch dann verpflichtet werden kann, wenn die Auszahlung der Leistung aufgrund eines Irrtums des Trägers der Krankenversicherung erfolgte, ohne dass der Klägerin die Unrechtmäßigkeit des Bezugs erkennbar sein musste.

[2] Die Klägerin stand seit 21. 1. 2016 als Arbeiterin in einem der vollen Sozialversicherungspflicht nach den österreichischen Rechtsvorschriften unterliegenden Dienstverhältnis und war auf Grundlage dieser Beschäftigung in der Zeit von 21. 1. 2016 bis 20. 12. 2017 nach den österreichischen Rechtsvorschriften zur Sozialversicherung gemeldet.

[3] Im Zeitraum von 21. 12. 2017 bis 12. 4. 2018 galt für die Klägerin anlässlich der Geburt ihres Kindes am 9. 2. 2018 ein Beschäftigungsverbot nach dem Mutterschutzgesetz; die Klägerin bezog Wochengeld.

[4] Für den Zeitraum von 13. 4. 2018 bis 27. 4. 2018 meldete die Dienstgeberin hinsichtlich der Klägerin den Bezug von „Urlaubsabfindung, Urlaubsentschädigung“ an die Sozialversicherung.

[5] Nach der Geburt beantragte die Klägerin am 9. 7. 2018 die Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante „365 Tage ab Geburt des Kindes“ für den Zeitraum ab der Geburt bis zur höchstmöglichen Bezugsdauer. Zusammen mit diesem Antrag legte die Klägerin auch eine Karenzvereinbarung vom 27. 2. 2018 und ein als „Kündigung des Arbeitsverhältnisses“ bezeichnetes Schreiben vom 6. 4. 2018 vor.

[6] Die Karenzvereinbarung vom 27. 2. 2018 lautet auszugsweise:

Vereinbarung über den Karenzurlaub der Mutter

Entbindungstag: 09.02.2018

Mutterschutz bis: (8 bzw 12 Wochen nach Geburt) 06.04.2018

Karenzurlaub:

Hiermit wird einvernehmlich zwischen dem Dienstgeber […] und der Dienstnehmerin […] die Dauer des Karenzurlaubs wie folg [sic] vereinbart:

Beginn der Karenz: 07.04.2018

Ende der Karenz: 08.02.2020“

[7] Das Schreiben vom 6. 4. 2018 lautet auszugsweise:

Kündigung des Arbeitsverhältnisses

Sehr geehrte Frau [Klägerin]!

Hiermit wird das Dienstverhältnis, beschäftigt seit 21.01.2016,

o einvernehmlich

o durch Zeitablauf (befristet bis: __________)

x durch den Dienstgeber [handschriftlich:] wegen Karenzierung

o durch den Dienstnehmer

per 06.04.2018 gekündigt.“

[8] Aufgrund des Antrags der Klägerin vom 9. 7. 2018 stellte die Rechtsvorgängerin der nun beklagten Österreichischen Gesundheitskasse, die Burgenländische Gebietskrankenkasse, am  6. 5. 2019 eine Leistungsmitteilung gemäß § 27 Abs 1 KBGG aus, in der die Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld von 13. 4. 2018 bis 31. 12. 2018 mit 23,99 EUR pro Tag bemessen wurde.

[9] Mit Bescheid vom 17. 7. 2020 widerrief die Beklagte die Gewährung des Kinderbetreuungsgelds und verpflichtete die Klägerin zur Rückzahlung von 6.309,37 EUR.

[10] Die Klägerin begehrt erkennbar die Feststellung, dass der Rückforderungsanspruch nicht zu Recht bestehe.

[11] Die Beklagte beantragte die A bweisung des Klagebegehrens und wendete zusammengefasst ein, dass sich aus der Gesamtabwägung aller Umstände ergeben habe, dass aufgrund der Scheinkarenz keine der Beschäftigung gleichgestellte Situation iSd VO (EG) 883/2004 gegeben sei, weshalb kein grenzüberschreitendes Element zu Österreich vorliege und ausschließlich Ungarn für den verfahrensgegenständlichen Zeitraum für die Gewährung von Familienleistungen zuständig sei. In Österreich bestehe demgegenüber kein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, weil die Klägerin mit ihrer Familie nicht in Österreich lebe und auch keine Erwerbstätigkeit in Österreich vorliege. Die Vereinbarung vom 27. 2. 2018 stelle keine Karenzvereinbarung dar, weil bereits für den Zeitraum von 13. 4. 2018 bis 27. 4. 2018 eine Urlaubsentschädigung an die Klägerin ausgezahlt worden sei . Anhand der vorgelegten Vereinbarungen, der Urlaubsentschädigung und auch der Erklärungen der Klägerin sei ersichtlich, dass sie nach der gesetzlichen Karenzzeit keine Rückkehr zu ihrem Arbeitsplatz geplant bzw gewusst habe , dass das Dienstverhältnis einvernehmlich aufgelöst worden sei . Die bloße Aufrechterhaltung eines Dienstverhältnisses durch die Vereinbarung einer Karenz, jedoch ohne die Absicht, die zuvor ausgeübte Beschäftigung wieder aufzunehmen, könne aber keinerlei Wirkung entfalten.

[12] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt . Rechtlich ging es davon aus, dass die Beklagte nur den Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 KBGG geltend mache, woran es gebunden sei. Danach sei der Leistungsempfänger auch dann zur Rückzahlung verpflichtet, wenn der zugrunde liegende Fehler für den Leistungsempfänger gar nicht erkennbar gewesen sei. Eine so weitgehende Überwälzung des Risikos selbst nicht erkennbarer Behördenfehler allein und einseitig auf den Leistungsempfänger sei sachlich nicht zu rechtfertigen. Der Tatbestand konkretisiere auch nicht, welcher Gestalt ein „Irrtum“ sein müsse, um eine Rückzahlungsverpflichtung zu begründen. Zur Vermeidung eines ansonsten verfassungswidrigen Ergebnisses sei es angezeigt, diesen Rückforderungstatbestand einschränkend in dem Sinn auszulegen, dass nicht jede beliebige Neubewertung der bereits ursprünglich bekannten Umstände eine Grundlage für eine Rückforderung bieten könne. Ein Eingehen auf die Gebührlichkeit der der Klägerin gewährten Leistung im Lichte der von der Beklagten behaupteten „Scheinkarenz“ erübrige sich daher.

[13] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es würden weder Umstände vorliegen, die bei Gewährung schon verwirklicht, jedoch nicht bekannt gewesen seien ( nova reperta ) und daher nicht berücksichtigt werden hätten können, noch solche, die erst nach der Gewährung des Anspruchs entstanden seien ( nova producta ). Der Rückforderung ausschließlich wegen eines Behördenfehlers oder eines Irrtums der Behörde, ohne dass sich ein Sachverhaltselement nachträglich als nicht vorliegend herausgestellt oder geändert hätte, und ohne dass der Klägerin deswegen ein Vorwurf zu machen sei (ein solcher sei dem festgestellten Sachverhalt nicht zu entnehmen), sei aus den dargelegten verfassungsrechtlichen Bedenken entgegenzutreten. Da der angezogene Rückforderungstatbestand nicht als erfüllt anzusehen sei, erübrige es sich auf den – den Grund des Anspruchs auf Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld betreffenden – sekundären Verfahrensmangel einzugehen, den die beklagte Partei geltend gemacht habe.

[14] Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung zu, dass keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage der verfassungskonformen Auslegung der Bestimmung des § 31 Abs 2 Fall 2 KBGG vorliege.

[15] Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im klageabweisenden Sinn, verbunden mit dem Ausspruch einer Verpflichtung der Klägerin zum Rückersatz von 6.309,37 EUR.

Rechtliche Beurteilung

[16] Die Revision der Beklagten ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig.

In der Sache wurde erwogen:

[17] 1. § 31 Abs 2 S 1 KBGG (BGBl I 2001/103 idF BGBl I 2018/100) bestimmt seit der Novelle BGBl I 2016/53 (verfahrensgegenständliche Wortfolge vom Senat hervorgehoben):

„Die Verpflichtung zum Ersatz der empfangenen Leistung besteht auch dann, wenn hervorkommt, dass eine oder mehrere Anspruchsvoraussetzungen bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht vorgelegen oder nachträglich weggefallen sind, oder die Auszahlung von Leistungen irrtümlich erfolgte, oder die zur Ermittlung des Gesamtbetrages der maßgeblichen Einkünfte (§§ 8, 8b) erforderliche Mitwirkung trotz Aufforderung innerhalb angemessener Frist verweigert wird.“

[18] 2. Verfahrensgegenständlich ist ausschließlich der Rückforderungstatbestand der irrtümlichen Auszahlung von Leistungen nach § 31 Abs 2 Fall 2 KBGG.

[19] 2.1. Dieser Tatbestand wurde mit der Novelle BGBl I 2016/53 eingefügt. Bis dahin war ein Rückforderungsanspruch ausgeschlossen, wenn der Krankenversicherungsträger nachträglich die Unrichtigkeit der Gewährung des Kinderbetreuungsgelds bemerkte, ihm aber bei der Gewährung bereits alle dafür maßgebenden Umstände bekannt waren und er – etwa aufgrund einer unrichtigen Rechtsansicht oder einer unrichtigen Berechnung – trotzdem das Kinderbetreuungsgeld auszahlte (RS0126122).

[20] 2.2. Die Erweiterung der Rückforderungstat-bestände durch die Novelle BGBl I 2016/53 diente der „Optimierung“ der Rückforderungsbestimmungen, wodurch verhindert werden sollte, dass auch in Zukunft einige Eltern durch Behördenfehler besser gestellt werden als andere Eltern. Die zu Unrecht bezogenen Leistungen sollten von den Eltern auch dann zurückgefordert werden können, wenn dem Krankenversicherungsträger bei der Gewährung von Leistungen zwar alle maßgebenden Umstände bekannt waren, er aber irrtümlich – etwa aufgrund einer unrichtigen Rechtsansicht oder einer unrichtigen Berechnung – das Kinderbetreuungsgeld ausgezahlt hat (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 12).

[21] 2.3. Das von den Vorinstanzen erzielte Auslegungsergebnis, wonach der Rückforderungstatbestand nicht greifen soll, wenn maßgebliche Umstände weder nachträglich bekannt werden ( nova reperta ) noch entstehen ( nova producta ), noch dem Leistungsempfänger ein Vorwurf zu machen ist, widerspricht der klaren Absicht des Gesetzgebers, der gerade die Fälle einer irrtümlichen Auszahlung bloß aufgrund unrichtiger Rechtsansicht oder unrichtiger Berechnung erfasst sehen wollte ( Sonntag , Unions-, verfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme bei der KBGG-Novelle 2016, ASoK 2017, 2 [8]). Bei der Interpretation darf dem Gesetzgeber überdies kein zweckloser und funktionsloser Regelungswille unterstellt werden (RS0111143). Der eigens geschaffene Rückforderungstatbestand wäre bei einem derart einschränkenden Verständnis inhaltsleer, weil der verbliebene Anwendungsbereich ohnedies von den anderen Rückforderungstatbeständen des § 31 Abs 2 S 1 KBGG erfasst wäre.

[22] 2.4. Der Oberste Gerichtshof geht daher davon aus, dass der Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG eine Rückzahlung (nur dann) anordnet, wenn der Leistungsempfänger weder den Bezug durch unrichtige Angaben oder Verschweigung maßgeblicher Tatsachen herbeigeführt hat (§ 31 Abs 1 Fall 1 KBGG) noch erkennen konnte, dass die Leistung nicht (oder nicht in dieser Höhe) gebührt (§ 31 Abs 1 Fall 2 KBGG), und überdies weder nachträglich hervorkommt, dass eine oder mehrere Anspruchsvoraussetzungen bereits ursprünglich nicht vorgelegen oder nachträglich weggefallen sind (§ 31 Abs 2 S 1 Fall 1 KBGG), noch der Leistungsempfänger eine Mitwirkungspflicht verletzt hat (§ 31 Abs 2 Fall 3 KBGG). Eine irrtümliche Auszahlung setzt lediglich einen Irrtum im Zeitpunkt der Leistungsgewährung voraus. Darunter ist jede unrichtige Vorstellung des Krankenversicherungsträgers – aufgrund der ausdrücklichen Bezugnahme der Materialien auf eine unrichtige Rechtsansicht also nicht nur ein Tatsachen-, sondern auch ein Rechtsirrtum (aA Weißenböck in Holzmann-Windhofer/Weißenböck , Kinderbetreuungsgeld-gesetz 216 [zu § 31 KBGG]) – zu verstehen. Umgekehrt formuliert umfasst der Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG daher jene Fälle, in denen ein Anspruch nicht besteht, dem zuständigen Krankenversicherungsträger bei der Gewährung der Leistung alle dafür maßgebenden tatsächlichen Umstände bereits bekannt gegeben wurden und er – etwa aufgrund einer unrichtigen Rechtsansicht oder einer unrichtigen Berechnung – trotzdem das Kinderbetreuungsgeld auszahlt. Ein gutgläubiger Verbrauch ist aufgrund der objektiven Rückzahlungsverpflichtung des § 31 Abs 2 KBGG ausgeschlossen (RS0124064 [T1]). Vorausgesetzt ist überdies das Vorliegen eines konkreten rechtlichen Leistungsverhältnisses, weil rechtsgrundlose Leistungsgewährungen außerhalb eines solchen, wie irrtümliche Anweisung an einen falschen Adressaten oder irrtümliche Mehranweisung, etwa aufgrund technischer Gebrechen, nach den allgemeinen zivilrechtlichen Bereicherungsnormen und damit im ordentlichen Rechtsweg vor den allgemeinen Zivilgerichten abzuwickeln sind ( Weißenböck in Holzmann-Windhofer/Weißenböck , Kinderbetreuungsgeldgesetz 216 [zu § 31 KBGG]; vgl auch RS0109549; RS0109547 [T1]; Atria in Sonntag , ASVG 12 § 107 Rz 1 zur insofern vergleichbaren Rückforderung im Bereich des ASVG).

[23] 3. Die Beklagte stützte ihr Rückzahlungsbegehren ausdrücklich auf die irrtümlich erfolgte Auszahlung, woran die Gerichte gebunden sind (RS0086067), sodass dem Obersten Gerichtshof eine Prüfung allfälliger anderer Rückforderungsgründe verwehrt ist. Insbesondere die Fragen, ob die Klägerin maßgebliche Umstände verschwieg oder sie erkennen konnte, dass die Leistung nicht gebührt, sind im vorliegenden Verfahren somit nicht zu prüfen. Der Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG ist daher im vorliegenden Fall präjudiziell.

[24] 4. Es bestehen Gründe an der von Art 7 B VG geforderten Sachlichkeit des Rückforderungstatbestands des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG zu zweifeln.

[25] 4.1. Der zuständige Krankenversicherungsträger hat im Fall der Bejahung eines Anspruchs zwar keinen Bescheid, aber eine „Mitteilung“ auszustellen, aus der insbesondere Beginn, voraussichtliches Ende und Höhe des Leistungs anspruchs hervorgehen (§ 27 Abs 1 KBGG; vgl auch die Bezeichnung als „Mitteilung über den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld“ in § 27 Abs 2 KBGG). Damit wird dem Empfänger gegenüber ausdrücklich das Bestehen eines Leistungsanspruchs zugestanden und er geht daher regelmäßig – jedenfalls im hier relevanten Rückforderungsfall – berechtigt davon aus, dass der zuständige Krankenversicherungsträger das Vorliegen der Voraussetzungen geprüft und bejaht hat und ihm das Kinderbetreuungsgeld während der Leistungsdauer zur Verfügung steht.

[26] 4.2. Dabei darf auch nicht übersehen werden, dass die Leistungen nach dem Kinderbetreuungsgeldgesetz nicht nur der kurzfristigen Unterstützung des Leistungsempfängers dienen. Das Gesetz stellt dafür vielmehr einen Rahmen von 61 bis 365 Tagen zur Verfügung (§§ 3 Abs 1 und 5 sowie 24b Abs 1 und 4 KBGG), in dem die Bezieher nach der gesetzgeberischen Zielsetzung ihre Berufstätigkeit zugunsten der Betreuungsleistung einschränken sollen (RS0124063 [T38]; VfGH G 128/08 ua, VfSlg 18.705/2009; Konezny in Sonntag/Schober/Konezny , KBGG 3 § 8 Rz 1). Sowohl das pauschale Kinderbetreuungsgeld als Konto (§§ 2 ff KBGG) als auch das Kinderbetreuungsgeld ... als Ersatz des Erwerbseinkommens (§§ 24 ff KBGG), soll die Betreuung und Erziehung des Kindes, für deren Vorsorge die Eltern nicht nur gesellschaftlich verantwortlich, sondern wozu sie auch zivilrechtlich verpflichtet sind (ErläutRV 620 BlgNR 21. GP 54), während der Kleinkindphase finanziell unterstützen. Aus diesem Grund haben Empfänger typischerweise nicht bloß kurzfristig kein (erhebliches, die Zuverdienstgrenze überschreitendes) Einkommen (im Anlassfall betrug der mitgeteilte Anspruchszeitraum mehr als acht Monate). Dieser Zustand muss während des Bezugs aufrecht erhalten werden, um die Leistung nicht (teilweise) wieder zu verlieren. Typischerweise disponieren Leistungsempfänger im Vertrauen auf die Gewährung also nicht bloß dadurch, dass sie die empfangenen Gelder verbrauchen, sondern auch dadurch, dass sie im Anspruchszeitraum kein (die Zuverdienstgrenze übersteigendes) Einkommen erwirtschaften und sich stattdessen auf die Kinderbetreuung konzentieren. Dies unterscheidet die Rückforderung von Leistungen nach dem Kinderbetreuungsgeldgesetz auch von jener des Familienzeitbonus, der eine Unterstützung für die – vergleichsweise kurze – „Familienzeit“ von (maximal) 28, 29, 30 oder 31 Tagen darstellen soll und bezüglich derer der Oberste Gerichtshof entsprechende verfassungsrechtliche Bedenken nicht teilte (10 ObS 87/21y; RS0133743).

[27] 4.3. Die erörterte Rechtslage verlagert das Risiko der unrichtigen Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen somit zur Gänze auf den Empfänger, obwohl dieser auf die Leistung nicht nur zur Überbrückung eines kurzen Zeitraums angewiesen war und darauf vertrauen durfte, dass die Leistung ihm in diesem Zeitraum zur Verfügung steht. Dieses Ergebnis ist nicht nur zufällige Folge einzelner Härtefälle, es wurde vom Gesetzgeber vielmehr bewusst als Regelfall vorgesehen.

[28] 5.1. Dem Gesetzgeber steht bei Verfolgung familienpolitischer Ziele zwar grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der aber durch das Gleichheitsgebot (nur) insofern beschränkt wird, als es ihm verwehrt ist, Regelungen zu treffen, für die eine sachliche Rechtfertigung nicht besteht (VfSlg 16.542/2002, 8.073/1977).

[29] 5.2. Das Fehlen einer sachlichen Rechtfertigung nahm der Verfassungsgerichtshof bei der Verpflichtung zur (gänzlichen) Rückzahlung von Arbeitslosengeld bzw Notstandshilfe bei Überschreiten der Zuverdienstgrenze an. Eine Rückzahlungsverpflichtung sei nur dann zulässig, wenn den Bezieher der Leistung ein Vorwurf trifft oder er den naheliegenden Verdacht eines solchen nicht widerlegen kann oder aber seine nunmehrige Leistungsfähigkeit aus der neu eröffneten Erwerbsquelle oder auf andere Weise feststeht. Ohne solche Einschränkung widerspreche die Pflicht zur Rückzahlung verbrauchter Gelder aus der Arbeitslosenversicherung dem aus dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz abzuleitenden Sachlichkeitsgebot (VfSlg 14.095/1995).

[30] 5.3. In einer vergleichbaren Situation befindet sich der Empfänger einer Leistung nach dem Kindesbetreuungsgesetz, der (bloß) aufgrund eines Behördenfehlers zur Rückzahlung der Leistungen verpflichtet wird, obwohl er infolge einer den Anspruch bestätigenden Mitteilung davon ausgehen durfte, die erhaltenen Gelder verbrauchen zu können. Diese Regelung wird daher in der Literatur als nicht sachlich gerechtfertigt angesehen ( Sonntag in Sonntag , KBGG 3 § 31 Rz 10d; Sonntag , ASoK 2017, 8; Burger-Ehrnhofer , KBGG und FamZeitBG³ [2017] § 31 KBGG Rz 22).

[31] 5.4. Die Beklagte hält dem entgegen, dass der Verfassungsgerichtshof vergleichbare Bedenken am (objektiven) Rückforderungstatbestand nach § 31 Abs 2 S 2 KBGG (nachträgliche Feststellung des Überschreitens der Zuverdienstgrenze) nicht teilte (VfSlg 18.705/2009). Dieser Rückforderungstatbestand ist jedoch anders gelagert als der hier gegenständliche. Zwar handelt es sich bei beiden Tatbeständen um eine objektive, also vom Verschulden des Empfängers unabhängige Rückforderung, doch liegt die Erzielung eines Einkommens zumindest im Einflussbereich des Empfängers und nicht in jener des Krankenversicherungsträgers. Nach der Ausgestaltung der das Einkommen betreffenden Anspruchsvoraussetzungen, deren Vorliegen erst nach dem Verstreichen des Anspruchszeitraums und in der Regel auch nach Leistungsgewährung geprüft werden kann, besteht vielmehr kein schutzwürdiges Vertrauen darauf, dass ausgezahlte Leistungen trotz Überschreitens der Zuverdienstgrenze (in voller Höhe) behalten werden. Ein Behördenfehler anlässlich der Gewährung, der ein Vertrauen auf einen gerechtfertigten Leistungsbezug schutzwürdig erscheinen ließe, kommt in solchen Fällen nachträglich zu prüfender Umstände schon grundsätzlich nicht in Betracht. Außerdem war es (nach der vom Verfassungsgerichtshof beurteilten Rechtslage) bei Überschreiten der Zuverdienstgrenze ausgeschlossen, dass ein das erzielte Einkommen übersteigender Betrag zurückzuzahlen war (vgl nunmehr § 8a KBGG). Beim hier gegenständlichen Rückforderungstatbestand der irrtümlichen Auszahlung besteht demgegenüber kein Konnex zwischen dem Rückzahlungsbetrag und dem – bei Gewährung noch gar nicht prüfbaren – Einkommen im Anspruchszeitraum. Vielmehr geht es nur um bereits im Gewährungszeitpunkt vorhandene und der Behörde auch bekannte Umstände, die aufgrund einer unrichtigen Beurteilung oder Berechnung zur Leistungsgewährung führen. Aufgrund dieser Unterschiede zwischen den beiden Rückforderungstatbeständen sieht sich der erkennende Senat nicht daran gehindert, die Frage der Verfassungsmäßigkeit des gegenständlichen Rückforderungstatbestands an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen.

[32] 5.5. Die in den Gesetzesmaterialien für die Rückzahlungspflicht angeführte Begründung, dass einige Eltern durch Behördenfehler nicht besser gestellt sein sollen, als andere Eltern, vermag die Zweifel an der Sachlichkeit der Regelung ebenso wenig zu zerstreuen, weil den „besser gestellten“ Eltern gegenüber infolge des Behördenfehlers ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde, und umgekehrt diejenigen Eltern, denen eine Leistung, auf die sie keinen Anspruch haben, zutreffend nicht gewährt wurde, keine Dispositionen im Vertrauen auf einen Leistungsbezug tätigten, die eines besonderen Schutzes bedürften. Ein schutzwürdiges Interesse dieser „schlechter gestellten“ Eltern an einer Gleichbehandlung mit den „besser gestellten“ Eltern besteht somit nicht. Das gleiche gilt in den anderen Rückforderungsfällen, weil dort entweder (insbesondere bei nachträglich hervorkommenden Anspruchshindernissen) kein der Sphäre der Behörde zuzurechnender Fehler oder zusätzlich ein in der Sphäre des Empfängers liegender Umstand vorliegt, was ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Bestand der Leistung jeweils ausschließt.

[33] 5.6. Möglichkeiten der Abfederung der Auswirkungen dieser Rückzahlungspflicht, die die angeführten Bedenken ausräumen, sind nicht ersichtlich. Leistungsempfänger können den Verbrauch der empfangenen Gelder und eine allfällige – im Fall der Rückforderung ja frustrierte – Einschränkung ihrer Erwerbstätigkeit nachträglich nicht mehr rückgängig machen. Zwar kann der Krankenversicherungsträger eine Zahlung in Teilbeträgen (Ratenzahlungen) zulassen, die Rückforderung stunden oder darauf ganz oder teilweise verzichten (§ 32 Abs 4 S 3 KBGG). Bei dieser Beurteilung sind allerdings die Umstände, die zur Rückforderung führten, irrelevant, sondern es sind lediglich – für alle Fälle der Rückforderung gleichermaßen – die Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Empfängers zu berücksichtigen. Insbesondere setzt ein Forderungsverzicht voraus, dass ein vom Gesetzgeber offenbar nicht beabsichtigtes Ergebnis eintritt ( Sonntag in Sonntag , KBGG 3 § 31 Rz 23; Lödl/Antl/Janik/Petridis-Pierre/Pfau , BHG 2013 4 § 74 Anm 6). Die Rückforderung nach § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG ist allerdings gerade auf Bezüge infolge bloßer Behördenfehler, die dem Empfänger nicht erkennbar sind, zugeschnitten, sodass diese Umstände keine atypische Belastung bewirken, die einen Forderungsverzicht rechtfertigen würden. Zu einer Abfederung der Auswirkungen des Rückforderungstatbestands führen solche Zahlungserleichterungen damit nicht oder nur in Ausnahmefällen. Im Normalfall ist der Leistungsempfänger gezwungen, entsprechende Rückstellungen für den Fall einer nicht vorhersehbaren Rückforderung zu bilden und bereit zu halten, bis das Rückforderungsrecht verjährt ist (vgl § 31 Abs 7 KBGG).

[34] 5.7. Aufgrund der dargestellten Bedenken gegen den im vorliegenden Verfahren anzuwendenden Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG sieht sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, die Frage der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Wortfolge mit dem vorliegenden Gesetzesprüfungsantrag an den VfGH heranzutragen.

[35] 6. Der Anfechungsumfang wurde so gewählt, dass – bei Bejahung der verfassungsrechtlichen Bedenken durch den Verfassungsgerichtshof – eine verfassungsrechtlich einwandfreie Rechtsgrundlage für das Anlassverfahren hergestellt wird. Der verbleibende Gesetzesteil bekommt dadurch einerseits nicht einen völlig veränderten oder sprachlich unverständlichen bzw unanwendbaren Inhalt und es werden andererseits alle mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen erfasst (vgl VfGH G 146/2019). Da in § 31 Abs 2 S 1 KBGG mehrere, voneinander trennbare Rückforderungstatbestände enthalten sind, war nur die im Spruch wiedergegebene Wortfolge in die Anfechtung aufzunehmen, weil sich die verfassungsrechtlichen Bedenken nur auf diesen Rückforderungstatbestand beziehen und ein allein unanwendbarer Torso bei Wegfall dieses Tatbestands nicht entsteht.

[36] 7. Die Anordnung der Innehaltung des Verfahrens beruht auf § 62 Abs 3 VfGG.

Rechtssätze
7
  • RS0124063OGH Rechtssatz

    25. April 2023·3 Entscheidungen

    Der auch für die Freigrenze nach § 12 Abs 1 KBGG (idF BGBl I 2001/103) maßgebliche Gesamtbetrag der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 8 Abs 1 Z 1 KBGG idF BGBl I 2001/103) ist im Wesentlichen wie folgt zu ermitteln: Auszugehen ist von jenen Einkünften, die während der Kalendermonate mit Anspruch auf Auszahlung des Kinderbetreuungsgelds und des Zuschusses zum Kinderbetreuungsgeld zugeflossen sind. Als Anspruchsmonate zählen dabei nur jene Kalendermonate, in denen mehr als die Hälfte des Monats Anspruch auf Auszahlung des Kinderbetreuungsgelds und des Zuschusses bestanden hat. Bezüglich der zeitlichen Zuordnung des Einkommens gelangt das im Einkommensteuerrecht geltende Zuflussprinzip zur Anwendung. Bezüglich der Höhe der maßgeblichen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit ist von einer Art Bruttoeinkommen auszugehen, das nicht den tatsächlichen Bruttoeinkünften entspricht. Die gemäß § 2 Abs 2 EStG 1988 während der Anspruchsmonate zugeflossenen Einkünfte sind um 30 % (bei Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe um 15 %) zu erhöhen. Da die Freigrenze für den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld und auf Zuschuss zum Kinderbetreuungsgeld mit einem Jahresbetrag festgelegt ist, bedarf es auch einer entsprechenden Anpassung, wenn der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld bzw Zuschuss nicht das volle Kalenderjahr gegeben ist. Diese Anpassung erfolgt durch die Umrechnung der während des Anspruchszeitraums erzielten Einkünfte auf einen fiktiven Jahresbetrag. Die Summe der während der Anspruchsmonate zugeflossenen Einkünfte, erhöht um 30 % (bzw bei Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe um 15 %), ist durch die Anzahl dieser Anspruchsmonate zu teilen und mit zwölf zu vervielfachen. Der sich ergebende Betrag ist schließlich der Freigrenze nach § 12 Abs 1 KBGG gegenüberzustellen.