JudikaturJustiz10ObS102/98t

10ObS102/98t – OGH Entscheidung

Entscheidung
23. Juni 1998

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Hopf als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Michael Braun und Dr.Reinhard Drössler (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Emilie P*****, vertreten durch Dr.Kurt Klein ua, Rechtsanwälte in Graz, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, Wiedner Hauptstraße 84-86, 1051 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18.Dezember 1997, GZ 8 Rs 276/97p-12, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 6.Mai 1997, GZ 31 Cgs 89/97p-7, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben; die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverweisen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nach § 503 Z 2 ZPO liegt nicht vor; diese Beurteilung bedarf nach § 510 Abs 3 Satz 3 ZPO keiner Begründung. Wenn die Revision unter diesem Rechtsmittelgrund die Unvollständigkeit der Feststellungen rügt, macht sie einen Aspekt der rechtlichen Beurteilung geltend (Kodek in Rechberger, ZPO Rz 5 zu § 503). Soweit sie beanstandet, die kaum mehr vorhandene Gehfähigkeit der Klägerin wäre nicht ausreichend festgestellt worden, sie führt allerdings weder aus, noch ist dies ersichtlich, inwieweit sich im konkreten Fall im Zusammenhalt mit den übrigen Einschränkungen eine andere Einstufung der Klägerin ergeben könnte. Soweit die Revision jedoch die Unvollständigkeit der Feststellungen zur Frage der Behandlung der Unterschenkelgeschwüre beanstandet, ist der Vorwurf begründet, weil die vorliegenden Feststellungen des Erstgerichtes noch nicht ausreichen, um den Streitfall abschließend zu beurteilen.

Was unter Pflegebedarf bzw Betreuung und Hilfe sowie unter Verrichtungen medizinischer bzw nichtmedizinischer Art zu verstehen ist, ist eine Frage der rechtlichen Beurteilung, deren Beantwortung voraussetzt, daß der zugrundeliegende Sachverhalt ausreichend festgestellt wurde. Dies ist hier nicht der Fall.

Primär ist strittig, ob der mit der Versorgung der Unterschenkelgeschwüre der Klägerin verbundene Aufwand unter den Pflegebedarf nach § 4 Abs 2 BPGG zu subsumieren ist. Hiezu stellte das Erstgericht fest, daß die Klägerin, die an ausgeprägten chronischen Unterschenkelgeschwüren bei venöser Insuffizienz leidet, einen täglichen Verbandswechsel benötigt, der für einen Arzt oder eine andere geschulte Person mit einem zeitlichen Aufwand von fünfzehn Stunden pro Monat verbunden ist. Der Verbandswechsel ist für die Klägerin lebensnotwendig, weil es sonst zu einer Thrombose mit nachfolgender Lungenembolie kommen könnte. Er stellt die einzige Möglichkeit dar, die Geschwüre der Klägerin zur Abheilung zu bringen.

Zutreffend ging das Berufungsgericht grundsätzlich davon aus, daß der Ermittlung des Pflegebedarfes bzw der Betreuung und Hilfe lebenswichtige Verrichtungen nichtmedizinischer Art zugrundezulegen sind (Tomandl, SV-System 8.ErgLfg 340; Pfeil, BPGG 80; Gruber/Pallinger, BPGG 6 f, 15 ff; SSV-NF 10/130; ARD 4879/9/97; ARD 4914/8/98; RIS-Justiz RS0106398). Ob der tägliche Aufwand, der mit dem Verbinden der Unterschenkelgeschwüre der Klägerin verbunden ist, als eine lebenswichtige Verrichtung medizinischer oder nichtmedizinischer Art zu qualifizieren ist, kann derzeit aufgrund der erstgerichtlichen Feststellungen noch nicht abschließend beantwortet werden.

Die Abgrenzung zwischen dem anzurechnenden Pflegeaufwand und den nicht im Rahmen des BPGG zu ersetzenden medizinischen Behandlungen ist so vorzunehmen, daß ein Pflegeaufwand jedenfalls dann anzunehmen ist, wenn es sich um Maßnahmen handelt, die ein nicht behinderter Mensch gewöhnlich selbst vornimmt. In diesem Sinn sprach der Senat in den Entscheidungen SSV-NF 8/58 und 10/133 sowie 2/58 (zum damaligen § 105a ASVG) zur Verabreichung von Insulininjektionen aus, daß es sich insoweit um einen Pflegebedarf (und nicht etwa um Hauskrankenpflege aus der Krankenversicherung durch eine diplomierte Krankenschwester oder einen diplomierten Krankenpfleger) handelt. Bei der Verabreichung von Insulininjektionen handelt es sich um eine Tätigkeit, die ein davon Betroffener üblicherweise selbst vornimmt, sodaß die Beiziehung einer Hilfsperson nur notwendig ist, wenn er aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, sich die Injektionen selbst zu verabreichen. Auch dem Einsalben eines Versicherten wurde in der Entscheidung des Senates zu 10 ObS 38/97d (teilweise veröffentlicht in ARD 4926/26/98; RIS-Justiz RS0107451) grundsätzlich Relevanz für die Ermittlung des Pflegebedarfes zugebilligt. Nur das Einsalben an für einen Pflegebedürftigen nicht zugänglichen Rücken- und Schulterbereichen vermag keinen zusätzlichen pflegegeldbegründenden Aufwand zu rechtfertigen, wenn die betreffenden Stellen des Rückens auch ein ansonsten völlig Gesunder (nicht Behinderter) ebenfalls nicht selbst erreichen kann; unterscheidet er sich - trotz seiner Krankheit - insoweit nicht von einem "normalen" (unbehinderten) Menschen, kann er auch nicht den Schutz für Behinderte beim Pflegegeld beanspruchen.

Wird also das Verbinden der Unterschenkel von einem Menschen, der über das Venenleiden hinaus keine Behinderungen hat, regelmäßig selbst durchgeführt und kann die Klägerin dies nur deshalb nicht, weil sie an Behinderungen leidet, so wäre der notwendige Aufwand im Rahmen der Ermittlung des Pflegeaufwandes zu berücksichtigen.

Eine nachvollziehbare Begründung, weshalb schon jetzt feststünde, daß es sich beim täglichen Verbandswechsel der Klägerin um keine medizinische, sondern eine nichtmedizinische Verrichtung handelt, vermag die Revisionswerberin nicht zu geben. Ob der Pflegeaufwand bei einem Unterbleiben der notwendigen lebenswichtigen Verrichtungen medizinischer Art größer wäre, ist nicht entscheidend. Richtig ist, daß die Aufzählung der Verrichtungen, die vornehmlich den persönlichen Lebensbereich betreffen und ohne die der pflegebedürftige Mensch der Verwahrlosung ausgesetzt wäre, in § 1 Abs 2 EinstV bloß demonstrativ ist (Pfeil, aaO 82 und 91); an der Beurteilung, daß es sich um zumindest im weiteren Sinn lebenswichtige Verrichtungen nichtmedizinischer Art handeln muß, ändert sich dadurch allerdings nicht.

Der weitere Einwand, es sei nicht nachvollziehbar, wie das Erstgericht zur Höhe des monatlichen Pflegebedarfs von drei Stunden komme, zielt im Hinblick auf die sich bei den einzelnen notwendigen Verrichtungen entweder aus den Feststellungen selbst oder der EinstV ergebenden Zeitwerte von jeweils zehn Stunden oder mehr offenbar auf den vom Erstgericht errechenbar mit drei Stunden festgestellten Zeitaufwand für die Einnahme von Medikamenten ab, bei der die Klägerin ebenfalls fremder Hilfe bedarf. Da das Ausmaß dieses Aufwandes von der individuellen Situation des Versicherten abhängt, wäre die Festsetzung eines Richtwertes für die erforderliche Betreuung in der EinstV nicht zweckmäßig gewesen (Pfeil aaO 90 f). Es hat eine Bewertung nach dem tatsächlichen Aufwand zu erfolgen (vgl SSV-NF 10/79). Diese wurde vom Erstgericht in erkennbarer Anwendung des § 273 Abs 1 ZPO mit drei Stunden vorgenommen; sie entspricht der Orientierungshilfe des § 9 der Richtlinien des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger für die einheitliche Anwendung des BPGG, SozSi 1994, 686 ff - Amtliche Verlautbarung Nr 120/1994 (Pfeil aaO 91) und erscheint unbedenklich.

Die Frage, ob der tägliche Verbandswechsel der Klägerin eine Maßnahme ist, die ein nicht behinderter Mensch gewöhnlich selbst vornimmt, wurde bisher in erster Instanz nicht erörtert. Da es somit einer Verhandlung erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war mit einer Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und einer Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht vorzugehen. Dieses wird nach Erörterung mit den Parteien und ergänzender Beweisaufnahme die erforderlichen Feststellungen nachzutragen haben.

Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

Rechtssätze
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