Spruch
L501 2290796-2/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Irene ALTENDORFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von Herrn XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Syrien, gesetzlich vertreten durch den Kinder- und Jugendhilfeträger, dieser vertreten durch die Caritas Oberösterreich Flüchtlingshilfe (mit ZSVM) und die Caritas Österreich (ohne ZSVM), gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.02.2024, Zl . XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die beschwerdeführende Partei (in der Folge „bP“), eine minderjährige syrische Staatsangehörige, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 11.09.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zum Fluchtgrund befragt, gab sie im Rahmen der Erstbefragung an, dass, nachdem Soldaten des syrischen Militärs zweimal versucht hätten, sie zu rekrutieren, ihr Vater ihre Flucht aus Syrien beschlossen habe. Im Falle einer Rückkehr befürchte sie verhaftet und in den Kampf geschickt zu werden.
Im Rahmen ihrer niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge „BFA“ bzw. „belangte Behörde“) am 10.01.2024 schilderte die bP den sie betreffenden Versuch einer Rekrutierung durch das syrische Militär in ihrer Schule, erzählte von der Inhaftierung ihres Bruders XXXX aufgrund dessen erfolglosen Versuchs, das Heimatland zu verlassen, sowie der anschließenden, gemeinsam mit ihrem Bruder unternommenen Flucht nach Europa. Im Falle einer Rückkehr fürchte sie, ihm Zuge des Militärdienstes gegen ihre eigenen Leute kämpfen zu müssen, sie wolle diese aber nicht töten.
Mit Spruchpunkt I. des in Beschwerde gezogenen Bescheides wies die belangte Behörde den Antrag der bP auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihr mit Spruchpunkt II. den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr mit Spruchpunkt III. eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Begründend führte die belangte Behörde – auf das Wesentliche zusammengefasst – aus, dass sich die bP aufgrund ihres Auslandsaufenthalts durch die Zahlung einer Gebühr offiziell von der Ableistung des Militärdienstes befreien lassen könne; es fehle daher an der laut Rechtsprechung für die Asylgewährung erforderlichen Voraussetzung, wonach die Verweigerung des Wehrdienstes das einzige Mittel für die Vermeidung einer Beteiligung an Kriegsverbrechen darstellen müsse.
In ihrer fristgerecht erhobenen Beschwerde bringt die bP unter Verweis auf die Berichtslage sowie die Rechtsprechung vor, dass sich die belangte Behörde nicht mit der zukünftigen Gefahr der obligatorischen Wehrpflicht auseinandergesetzt habe, und sich aus der Berichtslage nicht ableiten ließe, dass sich die Situation in Syrien in den nächsten Jahren ändern werde. Die bP lehne jegliche Beteiligung am Bürgerkrieg ab, auch fehlten ihr die Mittel für die Leistung der Befreiungsgebühr. Das u.a. in der UN-Kinderrechtskonvention, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der EU Verfahrensrichtlinie verankerte Kindeswohl sei grundsätzlich immer an die erste Stelle zu setzen.
Am 14.02.2025 führte das erkennende Gericht im Beisein der bP sowie ihres Vertreters und eines Dolmetschers für die arabische Sprache eine mündliche Verhandlung durch.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen:
II.1.1. Die am XXXX geborene minderjährige bP führt den im Spruch angeführten Namen, ist syrische Staatsangehörige arabischer Abstammung und bekennt sich zum sunnitischen Islam. Ihre Identität steht fest.
Die bP wuchs bei ihrer Familie in XXXX , einer Stadt im Gouvernement Rif Dimaschq, in geordneten Verhältnissen auf, besuchte dort ca. neun Jahre lang die Schule und arbeitete in den Ferien als Autoelektrikerin. 2022 verließ sie gemeinsam mit ihrem Bruder XXXX illegal das Heimatland, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen spätestens am 11.09.2022 in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids wurde ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.
Die bP ist ledig, sie hat keine Kinder. Ihre Muttersprache ist Arabisch. Sie leidet an keinen lebensbedrohlichen physischen oder psychischen Erkrankungen, sie bedarf auch keiner medikamentösen Behandlung. Die bP ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Die Eltern der bP sowie ihre drei verheirateten Schwestern leben nach wie vor in Syrien, ihre jüngste Schwester ist ledig und lebt noch im Haushalt der Eltern in XXXX . Die bP hat sechs Brüder; ein Bruder lebt in Deutschland, vier Brüder sind in Österreich asylberechtigt, ihr Bruder XXXX befindet sich noch im laufenden Asylverfahren bei der belangten Behörde.
Der Heimatort der bP ist über den Flughafen Damaskus erreichbar, der Anfang Jänner wieder für den internationalen Flugverkehr geöffnet wurde. Im Fall einer hypothetischen Rückkehr kann die bP auf diesem Weg in Syrien einreisen und dort allenfalls von ihren in Syrien aufhältigen Angehörigen in Empfang genommen werden. Eine Rückkehr auf dem Landweg über ein Drittland ist ebenfalls möglich. Der bP drohen weder bei der Einreisekontrolle bzw. beim Grenzübertritt in ihr Heimatland, noch auf der Weiterreise mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen nach asylrechtlich relevanten Gesichtspunkten.
II.1.2. Die bP hat Syrien bereits als Jugendliche verlassen. Sie stammt aus XXXX , einer südlich von Damaskus im Gouvernement Rif Dimaschq gelegenen Stadt, welche vormals unter der Kontrolle der syrischen Regierung stand und nunmehr von den neuen Machthabern unter Führung der Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) beherrscht wird. Diese hatte nach monatelanger Vorbereitung und Training Anfang Dezember 2024 die Operation „Abschreckung der Aggression“ gestartet und der Regierung von Präsident Bashar al-Assad innerhalb von 11 Tagen ein Ende gesetzt. Am 08.12.2024 wurde Damaskus ohne Gegenwehr eingenommen; das Armeekommando hatte die Soldaten außer Dienst gestellt. Russland verkündete den Rücktritt und die Flucht von al-Assad (Staatendokumentation 10.12.2024).
Eine Verfolgung der bP oder ihrer Familie durch das gestürzte syrische Regime aufgrund einer allenfalls unterstellten oppositionellen Gesinnung oder sonstigen Gründen ist daher ausgeschlossen.
II.1.3. Die HTS wurde 2011 als Ableger der al-Qaida unter dem Namen Jabhat an-Nusra gegründet. Im Jahr 2017 brach die Gruppierung ihre Verbindung mit der Al-Qaida und hat in den letzten Jahren versucht, sich als nationalistische Kraft und pragmatische Alternative zu al-Assad zu positionieren. Bisher kontrollierte sie einen Teil des Gouvernements Idlib im Nordwesten, wo die mit ihr verbundene „Syrische Heilsregierung“ (Syrian Salvation Government, SSG) die Regierungsgeschäfte leitete. Seit der Machtübernahme ist die HTS um eine Konsolidierung der Verhältnisse bemüht. Der Leiter der SSG wurde am 10. Dezember 2024 als Interimspremierminister mit der Leitung der Übergangsregierung des Landes bis zum 1. März 2025 beauftragt, die Minister übernahmen vorerst die nationalen Ministerposten. Am 29.01.2025 wurde die Ernennung des bisherigen Anführers der HTS, Ahmed al-Scharaa, zum „Präsidenten für die Übergangsphase“ bekanntgegeben. Die neue Führung hat sich seit ihrer Machtübernahme verpflichtet, die Rechte der Minderheiten zu wahren und plant, neben den bereits in die Reihen des Verteidigungsministeriums integrierten Rebellenfraktionen auch die kurdischen Streitkräfte zu integrieren. Zwischenzeitlich wurden auch Frauen (vgl. tagesschau.de, Stand 31.12.2024) mit führenden Positionen betraut; so wurde etwa die der drusischen Gemeinde zugehörige Muhsina la Mahithaui zur Gouverneurin der Provinz Suwaida ernannt, Maysaa Sabrine zur geschäftsführenden Direktorin der Zentralbank und Aischa al-Dibas zur Leiterin des Büros für Frauenangelegenheiten.
Eine oppositionelle Haltung der bP bzw. ihrer Familie gegenüber den verbliebenen Akteuren des Bürgerkriegs, insbesondere den nunmehr ihren Herkunftsort kontrollierenden Kräften unter Führung der HTS, ist nicht hervorgekommen und besteht diesbezüglich keine Verfolgungsgefahr. Die bP war und ist nicht politisch tätig und auch sonst nicht in das Blickfeld der HTS oder anderer Konfliktparteien geraten.
II.1.4. Die bP ist im Falle ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt.
Die bP war weder Opfer sexueller Gewalt, häuslicher Gewalt oder Gewalt im Rahmen von „Ehrendelikten“ noch war sie von Zwangsverheiratung, Menschenhandel, extremen Formen von Zwangs- und Kinderarbeit oder sonstigen Formen kinderspezifischer bzw. aufgrund ihres Alters bereits die Schwelle der Asylrelevanz überschreitender Verfolgung betroffen, auch ist nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einem entsprechenden Risiko auszugehen. Die bP wäre bei einer hypothetischen Rückkehr auch nicht auf sich allein gestellt, sondern könnte auf die Unterstützung ihrer an ihrem Heimatort aufhältigen Familienangehörigen zurückgreifen, wobei mit ihrem Vater insbesondere auch ein männlicher Haushaltsvorstand vorhanden ist.
Die bP wird im Falle einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion auch keiner anderweitigen und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung, psychischen und/oder physischen Gewalt oder Strafverfolgung ausgesetzt sein. Sie unterliegt insbesondere keiner individuellen Gefährdung aufgrund ihrer sunnitisch-arabischen Identität, ihrer Familien- bzw. Stammeszugehörigkeit bzw. der Zuerkennung der Asylberechtigung ihrer Brüder, wegen ihrer allgemeinen Wertehaltung oder wegen der Ausreise aus Syrien sowie des in Österreich durchlaufenen Asylverfahrens oder des Aufenthaltes in Europa.
II.1.5. Zur (allgemeinen) Lage im Herkunftsstaat werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber der bP offen gelegten Quellen getroffen:
II.1.5.1. Politische Lage
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.08.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 schien der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.05.2022). Das Assad-Regime kontrollierte rund 70% des syrischen Territoriums.
II.1.5.1.1. Ereignisse im Dezember 2024 [Quelle: Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024, Sicherheitslage, Politische Lage Dezember 2024: Opposition übernimmt Kontrolle, al-Assad flieht]
Nach monatelanger Vorbereitung und Training (NYT 1.12.2024) starteten islamistische Regierungsgegner unter der Führung der Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) (Standard 1.12.2024) die Operation „Abschreckung der Aggression“ – auf نن Arabisch: ردع العدوا - Rad’a al-‘Adwan (AJ 2.12.2024) und setzten der Regierung von Präsident Bashar al-Assad innerhalb von 11 Tagen ein Ende. Die folgende Karte zeigt die Gebietskontrolle der einzelnen Akteure am 26.11.2024 vor Beginn der Großoffensive:
Quelle: AJ 8.12.2024
Am 30.11. nahmen die Oppositionskämpfer Aleppo ein und stießen weiter in Richtung der Stadt Hama vor, welche sie am 5.12. einnahmen. Danach setzten sie ihre Offensive in Richtung der Stadt Homs fort (AJ 8.12.2024). Dort übernahmen sie die Kontrolle in der Nacht vom 7.12. auf 8.12. (BBC 8.12.2024).
Am 6.12. zog der Iran sein Militärpersonal aus Syrien ab (NYT 6.12.2024). Russland forderte am 7.12. seine Staatsbürger auf, das Land zu verlassen (FR 7.12.2024). Am 7.12. begannen lokale Milizen und Rebellengruppierungen im Süden Syriens ebenfalls mit einer Offensive und nahmen Daraa ein (TNA 7.12.2024; Vgl. AJ 8.12.2024), nachdem sie sich mit der Syrischen Arabischen Armee auf deren geordneten Abzug geeinigt hatten (AWN 7.12.2024). Aus den südlichen Provinzen Suweida und Quneitra zogen ebenfalls syrische Soldaten, sowie Polizeichefs und Gouverneure ab (AJ 7.12.2024). Erste Oppositionsgruppierungen stießen am 7.12. Richtung Damaskus vor (AJ 8.12.2024). Am frühen Morgen des 8.12. verkündeten Medienkanäle der HTS, dass sie in die Hauptstadt eingedrungen sind und schließlich, dass sie die Hauptstadt vollständig unter ihre Kontrolle gebracht haben (Tagesschau 8.12.2024). Die Einnahme Damaskus’ ist ohne Gegenwehr erfolgt (REU 9.12.2024), die Regierungstruppen hatten Stellungen aufgegeben, darunter den Flughafen (Tagesschau 8.12.2024). Das Armeekommando hatte die Soldaten außer Dienst gestellt (Standard 8.12.2024).
Russland verkündete den Rücktritt und die Flucht von al-Assad (BBC 8.12.2024). Ihm und seiner Familie sei Asyl aus humanitären Gründen gewährt worden(REU 9.12.2024).
Kurdisch geführte Kämpfer übernahmen am 6.12.2024 die Kontrolle über Deir ez-Zour im Nordosten Syriens, nachdem vom Iran unterstützte Milizen dort abgezogen waren (AJ 7.12.2024), sowie über einen wichtigen Grenzübergang zum Irak. Sie wurden von den USA bei ihrem Vorgehen unterstützt (AWN 7.12.2024).
Die von der Türkei unterstützten Rebellengruppierungen unter dem Namen Syrian National Army (SNA) im Norden Syriens starteten eine eigene Operation gegen die von den Kurden geführten Syrian Democratic Forces (SDF) im Norden von Aleppo (BBC 8.12.2024). ج فف ج Im Zuge der Operation „Morgenröte der Freiheit“ (auf Arabisch رال ر ح ة يية - Fajr al-Hurriya) nahmen diese Gruppierungen am 9.12.2024 die Stadt Manbij ein (SOHR 9.12.2024). Die Kampfhandlungen zwischen Einheiten der durch die Türkei unterstützten Syrian National Army (SNA) auf der einen Seite und den SDF auf der anderen Seite dauerten danach weiter an. Türkische Drohnen unterstützten dabei die Truppen am Boden durch Luftangriffe (SOHR 9.12.2024b).
Die folgende Karte zeigt die Gebietskontrolle der einzelnen Akteure nach der Machtübernahme durch die Oppositionsgruppierungen:
Quelle: AJ 8.12.2024
Der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge sind seit Beginn der Offensive 910 Menschen ums Leben gekommen, darunter 138 Zivilisten (AAA 8.12.2024). Beim Vormarsch auf Homs waren tausende Menschen Richtung Küste nach Westen geflohen (AJ 6.12.2024). Bei der Offensive gegen Manbij wurden hingegen einige Zivilisten in Richtung Osten vertrieben (SOHR 9.12.2024).
In Damaskus herrschte weit verbreitetes Chaos nach der Machtübernahme durch die Opposition. So wurde der Sturz von Assad mit schweren Schüssen gefeiert und Zivilisten stürmten einige staatliche Einrichtungen, wie die Zentralbank am Saba-Bahrat-Platz, das Verteidigungsministerium (Zivilschutz) in Mleiha und die Einwanderungs- und Passbehörde in der Nähe von Zabaltani, außerdem wurden in verschiedenen Straßen zerstörte und brennende Fahrzeuge gefunden (AJ 8.12.2024b). Anführer al-Joulani soll die Anweisung an die Oppositionskämpfer erlassen haben, keine öffentlichen Einrichtungen anzugreifen (8.12.2024c) und erklärte, dass die öffentlichen Einrichtungen bis zur offiziellen Übergabe unter der Aufsicht von Ministerpräsident Mohammed al-Jalali aus der Assad-Regierung bleiben (Rudaw 9.12.2024).
Gefangene wurden aus Gefängnissen befreit, wie aus dem berüchtigten Sedanaya Gefängnis im Norden von Damaskus (AJ 8.12.2024c).
Die Akteure
Syrische Arabische Armee (SAA): Die Syrische Arabische Armee kämpfte gemeinsam mit den National Defense Forces, einer regierungsnahen, paramilitärischen Gruppierung. Unterstützt wurde die SAA von der Hisbollah, Iran und Russland (AJ 8.12.2024).
Die Einheiten der syrischen Regierungstruppen zogen sich beim Zusammenstoß mit den Oppositionskräften zurück, während diese weiter vorrückten. Viele Soldaten flohen oder desertierten (NZZ 8.12.2024). In Suweida im Süden Syriens sind die Soldaten der Syrischen Arabischen Armee massenweise desertiert (Standard 7.12.2024). Am 7.12. flohen mehrere Tausend syrische Soldaten über die Grenze in den Irak (Arabiya 7.12.2024; vgl. Guardian 8.12.2024). Präsident al-Assad erhöhte am 4.12. die Gehälter seiner Soldaten, nicht aber dasjenige von Personen, die ihren Pflichtwehrdienst ableisteten (TNA 5.12.2024). Dieser Versuch, die Moral zu erhöhen, blieb erfolglos (Guardian 8.12.2024).
Die Opposition forderte die Soldaten indes zur Desertion auf (TNA 5.12.2024). Aktivisten der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte beobachteten, dass Hunderte Soldaten ihre Militäruniformen ausgezogen haben, nachdem sie entlassen wurden (SOHR 8.12.2024). Offiziere und Mitarbeiter des Regimes ließen ihre Militär- und Sicherheitsfahrzeuge in der Nähe des Republikanischen Palastes, des Büros des Premierministers und des Volkspalastes unverschlossen stehen, aus Angst von Rebellen am Steuer erwischt zu werden (AJ 8.12.2024b).
Opposition: Obwohl Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) den plötzlichen Vormarsch auf Aleppo gestartet hat und treibende Kraft der Offensive war, haben auch andere Rebellengruppierungen sich gegen die Regierung gewandt und sich am Aufstand beteiligt (BBC 8.12.2024c).
Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS): Die HTS wurde 2011 als Ableger der al-Qaida unter dem Namen Jabhat an-Nusra gegründet (BBC 8.12.2024c). Im Jahr 2017 brach die Gruppierung ihre Verbindung mit der Al-Qaida (CSIS 2018) und formierte sich unter dem Namen Hay’at Tahrir ash-Sham neu, gemeinsam mit anderen Gruppierungen (BBC 8.12.2024c). Sie wird von der UN, den USA, der Europäischen Union (AJ 4.12.2024) und der Türkei als Terrororganisation eingestuft (BBC 8.12.2024c). Der Anführer der HTS, der bisher unter seinem Kampfnamen Abu Mohammed al-Joulani bekannt war, hat begonnen wieder seinen bürgerlichen Namen, Ahmad ash-Shara’a zu verwenden (Nashra 8.12.2024). Er positioniert sich als Anführer im Post-Assad Syrien (BBC 8.12.2024c). Die HTS hat in den letzten Jahren versucht, sich als nationalistische Kraft (BBC 8.12.2024b) und pragmatische Alternative zu al-Assad zu positionieren (BBC 8.12.2024c).
Der Gruppierung werden Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen (BBC 8.12.2024c). Einem Terrorismusexperten zufolge gibt es bereits erste Videos von Personen aus dem HTS-Umfeld, die ein Kalifat aufbauen wollen (WiWo 9.12.2024).
National Liberation Front (NFL): Eine Reihe kleinerer Kampfgruppen, aus denen sich die NFL zusammensetzt, nahmen an der Operation „Abschreckung der Aggression“ teil, darunter die Jaish al-Nasr, das Sham Corps und die Freie Idlib-Armee. Die 2018 in Idlib gegründete NFL umfasst mehrere nordsyrische Fraktionen, von denen einige auch unter das Dach der Freien Syrischen Armee fallen (AJ 2.12.2024b).
Ahrar al-Sham Movement: Die Ahrar al-Sham-Bewegung ist hauptsächlich in Aleppo und Idlib aktiv und wurde 2011 gegründet. Sie definiert sich selbst als „umfassende reformistische islamische Bewegung, die in die Islamische Front eingebunden und integriert ist“ (AJ 2.12.2024b).
Jaish al-Izza: Übersetzt: „Die Armee des Stolzes“ ist Teil der Freien Syrischen Armee und konzentriert sich auf den Norden des Gouvernements Hama und einige Teile von Lattakia. Im Jahr 2019 erhielt die Gruppierung Unterstützung aus dem Westen, darunter auch Hochleistungswaffen (AJ 2.12.2024b).
Nur Eddin Zinki-Bewegung (Zinki): Diese Gruppierung entstand 2014 in Aleppo, versuchte 2017, sich mit der HTS zusammenzuschließen, was jedoch nicht funktionierte. Die beiden Gruppierungen kämpften 2018 gegeneinander, und „Zinki“ wurde Anfang 2019 von ihren Machtpositionen in der Provinz Aleppo vertrieben. Ein Jahr später verhandelte „Zinki“ mit der HTS, und ihre Kämpfer kehrten an die Front zurück, und seitdem ist die Gruppe unter den oppositionellen Kämpfern präsent (AJ 2.12.2024b).
Milizen in Südsyrien: Gruppierungen aus südlichen Städten und Ortschaften, die sich in den letzten Jahren zurückhielten, aber nie ganz aufgaben und einst unter dem Banner der Freien Syrien Armeekämpften, beteiligten sich am Aufstand (BBC 8.12.2024c). In Suweida nahmen Milizen der syrischen Minderheit der Drusen Militärstützpunkte ein (Standard 7.12.2024).
Syrian Democratic Forces (SDF): Die SDF ist eine gemischte Truppe aus arabischen und kurdischen Milizen sowie Stammesgruppen. Die kurdische Volksschutzeinheit YPG ist die stärkste Miliz des Bündnisses und bildet die militärische Führung der SDF (WiWo 9.12.2024). Sie werden von den USA unterstützt (AJ 8.12.2024). Im kurdisch kontrollierten Norden liegen die größten Ölreserven des Landes (WiWo 9.12.2024).
Syrian National Army (SNA): Diese werden von der Türkei unterstützt (BBC 8.12.2024c) und operieren im Norden Syriens im Grenzgebiet zur Türkei (AJ 8.12.2024). Der SNA werden mögliche Kriegsverbrechen, wie Geiselnahmen, Folter und Vergewaltigung vorgeworfen. Plünderungen und die Aneignung von Privatgrundstücken, insbesondere in den kurdischen Gebieten, sind ebenfalls dokumentiert (WiWo 9.12.2024).
II.1.5.1.2. Neueste Entwicklungen [Quelle: ecoi.net, Syrien, Arabische Republik - Informationssammlung zu Entwicklungen rund um den Sturz von Präsident Assad, Stand 13.01.2025]
Die neue Übergangsregierung und Ahmed Al-Sharaa (Führer der HTS)
Mohammed Al-Baschir, der bis zum Sturz Baschar Al-Assads die mit Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) verbundenen Syrischen Heilsregierung im Nordwesten Syriens geleitet hatte, wurde am 10. Dezember 2024 als Interimspremierminister mit der Leitung der Übergangsregierung des Landes bis zum 1. März 2025 beauftragt (MEE, 10. Dezember 2024; siehe auch: Al Jazeera, 10. Dezember 2024). Die Minister der Syrischen Heilsregierung übernahmen vorerst die nationalen Ministerposten. Laut dem Congressional Research Service (CRS) seien einige RegierungsbeamtInnen und Staatsangestellte der ehemaligen Regierung weiterhin im Regierungsapparat beschäftigt (CRS, 13. Dezember 2024). Am 21. Dezember ernannte die Übergangregierung Asaad Hassan Al-Schibani zum Außenminister und Murhaf Abu Qasra zum Verteidigungsminister. Beide seien Verbündete des HTS-Anführers Ahmed Al-Scharaa (Al-Jazeera, 21. Dezember 2024). Am 29. Dezember legte Al-Sharaa in einem Interview mit dem saudischen Fernsehsender Al-Arabiyya dar, dass es bis zu vier Jahren dauern könne, bis Wahlen stattfinden werden, da die verschiedenen Kräfte Syrien einen politischen Dialog führen und eine neue Verfassung schreiben müssten (AP, 29. Dezember 2024).
Al-Sharaa erklärte am 17. Dezember, dass alle Rebellenfraktionen aufgelöst und in die Reihen des Verteidigungsministeriums integriert würden (The Guardian, 17. Dezember 2024). Am 29. Dezember sagte Al-Sharaa in einem Interview aus, dass das syrische Verteidigungsministerium plant auch die kurdischen Streitkräfte in seine Reihen aufzunehmen. Es gebe Gespräche mit den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) zur Lösung der Probleme im Nordosten Syriens (nähere Details zu den Problemen finden Sie unten) (Kurdistan24, 29. Dezember 2024). Am 10. Jänner 2025 bestätigte der Kommandeur der SDF, Mazloum Abdi, dass sich seine Streitkräfte in ein umstrukturiertes syrisches Militär integrieren würden (Shafaq News, 10. Jänner 2025). AFP berichtete am 8. Jänner, dass laut einem Sprecher des Southern Operations Room, einer Koalition bewaffneter Gruppen aus der südlichen Provinz Daraa, die am 6. Dezember gebildet wurde, um beim Sturz Assads zu helfen, die Kämpfer Südsyriens nicht mit einer Auflösung ihrer Gruppen einverstanden seien. Sie könnten sich jedoch eine Integration in das Verteidigungsministerium in ihrer momentanen Form vorstellen (France24, 8. Jänner 2025).
Am 29. Dezember wurde eine Liste mit 49 Personen, die zu Kommandeuren der neuen syrischen Armee ernannt wurden, veröffentlicht. Unter den Namen seien einige Mitglieder der HTS, sowie ehemalige Armeeoffiziere, die zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs desertierten. Laut Haid Haid, beratender Mitarbeiter beim britischen Think Tank Chatham Haus, wurden die sieben höchsten Ränge von HTS-Mitgliedern besetzt. Laut einem weiteren Experten seien auch mindestens sechs Nicht-Syrer unter den neuen Kommandeuren (France24, 30. Dezember 2024).
Die neue Führung hatte sich seit ihrer Machtübernahme verpflichtet, die Rechte der Minderheiten zu wahren (The New Arab, 7. Jänner 2025). Anfang Jänner kündigte das Bildungsministerium der Übergangsregierung auf seiner Facebook-Seite einen neuen Lehrplan für alle Altersgruppen an, der eine stärker islamische Perspektive widerspiegelt und alle Bezüge zur Assad-Ära aus allen Fächern entfernt. Zu den vorgeschlagenen Änderungen gehörte unter anderem die Streichung der Evolutionstheorie und der Urknalltheorie aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht. AktivistInnen zeigten sich besorgt über die Reformen (BBC News, 2. Jänner 2025).
Am 29.01.2025 wurde der De-facto-Herrscher Ahmed al-Scharaa von der Übergangsregierung zum „Präsidenten für die Übergangsphase“ ernannt. Der frühere Militärkommandeur, Anfang 40, gibt sich seit dem Machtwechsel betont moderat. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur SANA soll Scharaa als nächsten Schritt einen legislativen Rat für die Übergangsphase gründen, bis eine neue Verfassung ausgearbeitet worden ist. Die Entscheidungen trafen den Angaben zufolge Vertreter der früheren Aufständischen bei einer „Siegeskonferenz“ (vgl. https://orf.at/stories/3383332/).
Der syrische Interimsaußenminister Asaad al Shaibani forderte auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 15. Februar die Länder auf, die Sanktionen gegen die neue syrische Regierung aufzuheben, um den Wiederaufbau Syriens zu unterstützen. [7] Shaibani signalisierte separat, dass die nächste syrische Regierung auf "Kompetenz" und nicht auf "konfessionellen Quoten" basieren werde. Shaibani forderte Israel auch auf, sich an das Entflechtungsabkommen von 1974 zu halten, und bezeichnete die Golanhöhen als syrisches Territorium. Der türkische Außenminister Hakan Fidan bestätigte, dass die Türkei bereits Gespräche mit den Vereinigten Staaten über die Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien aufgenommen habe. (vgl. Institute für the Study of War, Iran Update, February 16, 2025).
Das Vorbereitungskomitee der Konferenz des Nationalen Dialogs hielt am 16. Februar in der Provinz Homs seine erste "Dialogsitzung" ab. [8] Der syrische Präsident Ahmed al-Scharaa wies das Komitee an, "Beratungen" und "Konsultationen" mit den Bürgern über die Konferenz des Nationalen Dialogs zu ermöglichen. (vgl. Institute für the Study of War, Iran Update, February 16, 2025).
Kontrolle der Demokratischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) und der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF)
Die von der Türkei unterstütze Syrische Nationalarmee (SNA) führte ihre Offensive gegen die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und das Gebiet der Demokratischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) fort. Die SNA nahm Gebiete der nordwestlichen Region Shahba sowie die Stadt Manbidsch ein. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete von heftigen Kämpfen in der Region von Manbidsch zwischen der SNA und der SDF und steigenden Opferzahlen (Shafaq News, 9. Jänner 2025).
Am 11. Dezember übernahm die Koalition ehemaliger oppositioneller Kräfte unter der Führung der HTS die vollständige Kontrolle der ostsyrischen Stadt Deir ez-Zor (Al Jazeera, 11. Dezember 2024). Im Osten der Provinz Deir ez-Zor kam es zu Demonstrationen und der Forderung, die von HTS geführten Streitkräfte sollten die Kontrolle über das Gebiet übernehmen. Einige Kommandanten der SDF seien in Folge desertiert (Syria Direct, 13. Dezember 2024).
Die folgende Karte zeigt die Gebietskontrolle der Akteure mit Stand 17.02.2025:
II.1.5.1.3. Gebiete unter bisheriger Kontrolle der Syrischen Interimsregierung und syrischen Heilsregierung
Im März 2013 gab die Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte als höchste offizielle Oppositionsbehörde die Bildung der syrischen Interimsregierung (Syrian Interim Government, SIG) bekannt, welche die Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes im ganzen Land verwalten soll. Im Laufe der Zeit schrumpften die der Opposition angehörenden Gebiete jedoch, insbesondere nach den Vereinbarungen von 2018, die dazu führten, dass Damaskus die Kontrolle über den Süden Syriens und die Oppositionsgebiete im Süden von Damaskus und im Umland übernahm. Der Einfluss der SIG war nun auf die von der Türkei unterstützten Gebiete im Norden Aleppos beschränkt (SD 18.3.2023). Formell erstreckte sich ihr Zuständigkeitsbereich auch auf die von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierte Zone. Dort wurde sie von der HTS jedoch an den Rand gedrängt (Brookings 27.1.2023). Die von der HTS kontrollierten Gebiete in Idlib und Teile der Provinzen Aleppo und Latakia wurden dann von der syrischen Heilsregierung (Syrian Salvation Government, SSG), dem zivilen Flügel der HTS, regiert (SD 18.3.2023).
Nicht-staatliche Akteure in Nordsyrien haben systematisch daran gearbeitet, sich selbst mit Attributen der Staatlichkeit auszustatten. Sie haben sich von aufständischen bewaffneten Gruppen in Regierungsbehörden verwandelt. In Gebieten, die von der HTS, einer sunnitischen islamistischen politischen und militärischen Organisation, kontrolliert werden, und in Gebieten, die nominell unter der Kontrolle der SIG stehen, haben bewaffnete Gruppen und die ihnen angeschlossenen politischen Flügel den institutionellen Rahmen eines vollwertigen Staates mit ausgefeilten Regierungsstrukturen wie Präsidenten, Kabinetten, Ministerien, Regulierungsbehörden, Exekutivorganen usw. übernommen (Brookings 27.1.2023).
Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) war früher als Jabhat al-Nusra bekannt, die 2011 in Syrien als Al-Qaida-Mitglied gegen die GoS gegründet wurde. Jabhat Al-Nusra wurde schnell zu einer fähigen Organisation, die eine wachsende Anzahl von Kämpfern anzog. Jabhat al-Nusra war in der Lage, aufständische Angriffe durchzuführen und wirtschaftliche Einnahmen, hauptsächlich von Gebern aus den Golfstaaten, sowie aus Steuern und der Beschlagnahme von Vermögenswerten in den von der Organisation kontrollierten Gebieten zu erzielen. Im Jahr 2016 wurde Jabhat al-Nusra aufgelöst und stattdessen Jabhat Fatah al-Sham gegründet. Im Jahr 2017 fusionierte Jabhat Fatah al-Sham jedoch mit mehreren anderen islamistischen Gruppen wie Harakat Nour al-Din al-Zinki, Liwa al-Haq, Jaysh al-Sunna und Jabhat Ansar al-Din. Infolgedessen wurde al-Nusra umbenannt und neu organisiert, um sich als Hay’at Tahrir al-Sham zu etablieren. (DIS 12.2022)
Seit 2017 versuchte die HTS, sich von einer Fraktion der globalen Dschihad-Bewegung und einem Al-Qaida-Mitglied in eine de facto militärische und regierende konservative Macht im Nordwesten Syriens zu verwandeln. Seitdem bestand das Hauptziel der HTS darin, die islamische Herrschaft in den von ihr kontrollierten Gebieten zu etablieren, indem sie die GoS und die iranischen Milizen bekämpfte, Nordsyrien verteidigte und bewahrte und die Einheit zwischen dschihadistischen Gruppen im Nordwesten Syriens anstrebte. (DIS 12.2022)
Die nordwestliche Ecke der Provinz Idlib, an der Grenze zur Türkei, war bis Dezember 2024 die letzte Enklave der traditionellen Opposition gegen Assads Herrschaft. Sie beherbergte Dutzende von hauptsächlich islamischen bewaffneten Gruppen, von denen die HTS die dominanteste war (MEI 26.4.2022). Im Jahr 2017 bildete die HTS die syrische Heilsregierung, die aus zehn Ministerien besteht, darunter Ministerien für Inneres, Justiz, Stiftungen, Bildung, Gesundheit, lokale Verwaltung und Dienstleistungen, Wirtschaft und Ressourcen, Entwicklung und humanitäre Angelegenheiten, Hochschulbildung und Landwirtschaft. Die Organisation funktionierte somit eher wie eine quasi-staatliche Einheit mit einer zentralen Führung, die die verschiedenen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Aspekte und Komponenten der HTS kontrollierte (DIS 12.2022). Mit der syrischen Heilsregierung hatte die HTS ihre Möglichkeiten zur Regulierung, Besteuerung und Bereitstellung begrenzter Dienstleistungen für die Zivilbevölkerung erweitert. In dem Gebiet wurden keine organisierten Wahlen abgehalten und die dortigen Lokalräte wurden von bewaffneten Gruppen beherrscht oder von diesen umgangen. Die HTS versuchte in Idlib, eine autoritäre Ordnung mit einer islamistischen Agenda durchzusetzen. Obwohl die Mehrheit der Menschen in Idlib sunnitische Muslime sind, war HTS nicht beliebt. Die von der HTS propagierten religiösen Dogmen waren nur ein Aspekt, der den Bürgerinnen und Bürgern missfiel. Zu den anderen Aspekten gehörten der Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, willkürliche Verhaftungen, Gewalt und Missbrauch (BS 23.2.2022). Laut einer syrischen Menschenrechtsorganisation war die HTS viel organisierter als die SNA. Die Bereiche, die sie kontrollierte, waren ungefährlicher und sicherer im Vergleich zu den Bereichen, die von SNA kontrolliert wurden. (DIS 12.2022)
In den von der Türkei besetzten und kontrollierten Gebieten in Nordwest- und Nordzentral-Syrien ist die SIG die nominelle Regierungsbehörde. Innerhalb der von der Türkei kontrollierten Zone ist eine von der Türkei unterstützte Koalition bewaffneter Gruppen, die Syrische Nationale Armee (SNA) - nicht zu verwechseln mit Assads Syrischen Streitkräften -, mächtiger als die SIG, die sie routinemäßig ignoriert oder außer Kraft setzt (Brookings 27.1.2023). Beide wiederum operieren de facto unter der Autorität der Türkei (Brookings 27.1.2023; vgl. SD 18.3.2023). Die von der Türkei unterstützten Oppositionskräfte bildeten nach ihrer Machtübernahme 2016 bzw. 2018 in diesem Gebiet Lokalräte, die administrativ mit den angrenzenden Provinzen der Türkei verbunden sind. Laut einem Forscher des Omran Center for Strategic Studies können die Lokalräte keine strategischen Entscheidungen treffen, ohne nicht die entsprechenden türkischen Gouverneure einzubinden. Gemäß anderen Quellen variiert der Abhängigkeitsgrad der Lokalräte von den türkischen Behörden von einem Rat zum nächsten (SD 18.3.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden bewaffneter Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Toleranz gegenüber deren Missbrauch und Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).
II.1.5.2. Sicherheitslage
Die militärische Landkarte Syriens hatte sich seit mehreren Jahren nicht substantiell verändert. Das Regime kontrollierte rund 60 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 2.2.2024). United Nations Geospatial veröffentlichte eine Karte mit Stand Juni 2023, in welcher die wichtigsten militärischen Akteure und ihre Einflussgebiete verzeichnet waren (UNGeo 1.7.2023):
UNGeo 1.7.2023 (Stand: 6.2023)
Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, wie sie bis Anfang Dezember 2024 bestanden haben, wobei auch Konvoi- und Patrouille-Routen eingezeichnet sind, die von syrischen, russischen und amerikanischen Kräften befahren wurden. Im Nordosten kam es dabei zu gemeinsam genutzten Straßen.
CC 13.12.2023 (Stand: 30.9.2023)
Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Die Opposition konnte eingeschränkt die Kontrolle über Idlib und entlang der irakisch-syrischen Grenze behalten. Das Erdbeben 2023 in der Türkei und Nordsyrien machte die tatsächliche Regierung fast unmöglich, weil die Opposition Schwierigkeiten hatte, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen (CFR 24.1.2024).
Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023).
Im Jahr 2022 hielten die Kämpfe im nördlichen Syrien mit Beteiligten wie den Regimetruppen, den SDF, HTS sowie türkischen Streitkräften und ihren Verbündeten an (FH 9.3.2023). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien unter dem Namen 'Operation Claw-Sword', die nach türkischen Angaben auf Stellungen der SDF und der syrischen Streitkräfte abzielte, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße traf (HRW 7.12.2022). Die Türkei führte seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien durch (France 24 20.11.2022; vgl. CFR 24.1.2024). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022). Die türkischen Militäroperationen trieben Tausende Menschen in die Flucht und stellten 'eine ernste Bedrohung für ZivilistInnen' in den betroffenen Gebieten dar. Kämpfe zwischen den pro-türkischen Gruppen ermöglichten Vorstöße der HTS (FH 9.3.2023). Im Nordwesten Syriens führte im Oktober 2022 das Vordringen der HTS in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen (ICG 10.2022). Die Türkei bombardierte auch im Oktober 2023 kurdische Ziele in Syrien als Reaktion auf einen Bombenangriff in Ankara durch die PKK (Reuters 7.10.2023; vgl. AA 2.2.2024).
Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS)
Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Die Anit-Terror-Koalition unter der Führung der USA gibt an, dass 98 Prozent des Gebiets, das der IS einst in Syrien und Irak kontrollierte, wieder unter Kontrolle der irakischen Streitkräfte bzw. der SDF sind (CFR 24.1.2024). Der Sicherheitsrat der VN schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022). Die Terrororganisation IS kann in Syrien selbst in ihren Rückzugsgebieten im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien weiterhin keine territoriale Kontrolle mehr ausüben. Der IS verübte immer wieder Angriffe und Anschläge, insbesondere auf Einheiten der SDF im Nordosten sowie auf Truppen des Regimes in Zentralsyrien (AA 2.2.2024). IS-Kämpfer waren in der Wüste von Deir ez-Zor, Palmyra und Al-Sukhna stationiert und konzentrieren ihre Angriffe auf Deir ez-Zor, das Umland von Homs, Hasakah, Aleppo, Hama und Raqqa (NPA 15.5.2023). Der IS war im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-Terror-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.2.2022).
Aktuelle Lageentwicklung [Quelle: Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024, Sicherheitslage, Politische Lage Dezember 2024: Opposition übernimmt Kontrolle, al-Assad flieht]
Israel hat Gebäude der Syrischen Sicherheitsbehörden und ein Forschungszentrum in Damaskus aus der Luft angegriffen, sowie militärische Einrichtungen in Südsyrien, und den Militärflughafen in Mezzeh. Israelische Streitkräfte marschierten außerdem in al-Quneitra ein (Almodon 8.12.2024) und besetzten weitere Gebiete abseits der Golan-Höhen, sowie den Berg Hermon (NYT 8.12.2024). Die israelische Militärpräsenz sei laut israelischem Außenminister nur temporär, um die Sicherheit Israels in der Umbruchphase sicherzustellen (AJ 8.12.2024d). Am 9.12.2024 wurden weitere Luftangriffe auf syrische Ziele durchgeführt (SOHR 9.12.2024c). Einer Menschenrechtsorganisation zufolge fliegt Israel seine schwersten Angriffe in Syrien. Sie fokussieren auf Forschungszentren, Waffenlager, Marine-Schiffe, Flughäfen und Luftabwehr (NTV 9.12.2024). Quellen aus Sicherheitskreisen berichten indes, dass Israelisches Militär bis 25km an Damaskus in Südsyrien einmarschiert wäre (AJ 10.12.2024).
Das US-Central Command gab an, dass die US-Streitkräfte Luftangriffe gegen den Islamischen Staat in Zentralsyrien geflogen sind (REU 9.12.2024). Präsident Biden kündigte an, weitere Angriffe gegen den Islamischen Staat vorzunehmen, der das Machtvakuum ausnützen könnte, um seine Fähigkeiten wiederherzustellen (BBC 7.12.2024).
Russland versucht, obwohl es bis zum Schluss al-Assad unterstützte, mit der neuen Führung Syriens in Dialog zu treten. Anstatt wie bisher als Terroristen bezeichnen russische Medien die Opposition mittlerweile als „bewaffnete Opposition“ (BBC 8.12.2024d).
Sozio-Ökonomische Lage [Quelle: Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024, Sicherheitslage, Politische Lage Dezember 2024: Opposition übernimmt Kontrolle, al-Assad flieht; ecoi.net, Syrien, Arabische Republik - Informationssammlung zu Entwicklungen rund um den Sturz von Präsident Assad, Stand 13.01.2025]:
Die Opposition versprach, den Minderheiten keinen Schaden zuzufügen und sie nicht zu diskriminieren, egal ob es sich um Christen, Drusen, Schiiten oder Alawiten handle. Gerade letztere besetzten unter der Führung Al-Assad’s oft hohe Positionen im Militär und den Geheimdiensten (TNA 5.12.2024).
Für alle Wehrpflichtigen, die in der Syrischen Arabischen Armee gedient haben, wurde von den führenden Oppositionskräften eine Generalamnestie erlassen. Ihnen werde Sicherheit garantiert und jegliche Übergriffe auf sie wurden untersagt (Presse 9.12.2024). Ausgenommen von der Amnestie sind jene Soldaten, die sich freiwillig für den Dienst in der Armee gemeldet haben (Spiegel 9.12.2024).
Die syrischen Banken sollen ihre Arbeit am 10.12.2024 wiederaufnehmen, die Bediensteten wurden aufgefordert, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren (Arabiya 9.12.2024).
Die HTS, die weiterhin auf der Terrorliste der UN steht, ist seit 2016 von Sanktionen des UN-Sicherheitsrates betroffen. Diplomaten zufolge war die Streichung der HTS von der Sanktionenliste kein Thema bei der jüngsten Ratssitzung (REU 10.12.2024).
Bevor der Wiederaufbau zerstörter Städte, Infrastruktur und Öl- und Landwirtschaftssektoren beginnen kann, muss mehr Klarheit über die neue Regierung Syriens geschaffen werden (DW 10.12.2024)
Am 18. Dezember startete der erste kommerzielle Flug seit dem Sturz von Baschar Al-Assad, ein Inlandsflug nach Aleppo, vom Flughafen Damaskus (Al-Jazeera, 18. Dezember 2024).
Am 7. Jänner 2025 landete der erste internationale Flug seit der Absetzung von Al-Assad auf dem international Flughaften von Damaskus (Al-Jazeera, 7. Jänner 2025).
Anfang Jänner erteilten die USA eine sechsmonatige Ausnahme von den Sanktionen, eine sogenannte Generallizenz, um humanitäre Hilfe nach dem Ende der Herrschaft von Bashar al-Assad in Syrien zu ermöglichen. Die Ausnahme, die bis zum 7. Juli gültig ist, erlaubt bestimmte Transaktionen mit Regierungsinstitutionen, darunter Krankenhäuser, Schulen und Versorgungsunternehmen auf Bundes-, Regional- und lokaler Ebene sowie mit HTS verbundenen Einrichtungen in ganz Syrien. Zwar wurden keine Sanktionen aufgehoben, die Lizenz erlaubt jedoch auch Transaktionen im Zusammenhang mit dem Verkauf, der Lieferung, der Speicherung oder der Spende von Energie, einschließlich Erdöl und Strom, nach oder innerhalb Syriens. Darüber hinaus erlaubt sie persönliche Überweisungen und bestimmte energiebezogene Aktivitäten zur Unterstützung der Wiederaufbaubemühungen (Reuters, 6. Jänner 2025). Nach der Ausnahme von den Sanktionen kündigte Katar eine Hilfe bei der Finanzierung einer 400-prozentigen Erhöhung der Gehälter im öffentlichen Sektor an, die die syrische Übergangsregierung zugesagt hatte (Reuters, 7. Jänner 2025).
Jüngst hat sich auch die EU auf eine stufenweise Lockerung der Sanktionen geeinigt (vgl. etwa https://www.derstandard.at/story/3000000254717/eu-aussenminister-wollen-syrien-sanktionen-teilweise-aussetzen?ref=rss).
Erklärungen der UN-Organisationen (Sicherheit, Sozioökonomische Situation, Flüchtlinge) [Quelle: ecoi.net, Syrien, Arabische Republik - Informationssammlung zu Entwicklungen rund um den Sturz von Präsident Assad, Stand 13.01.2025]
Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) berichtet, dass zwischen dem Beginn der Offensive am 27. November und dem 11. Dezember etwa eine Million Menschen aus den Provinzen Aleppo, Hama, Homs und Idlib vertrieben wurden. Es liegen keine Zahlen vor, Berichten zufolge kehrten im selben Zeitraum Tausende syrischer Flüchtlinge aus dem Libanon ins Land zurück. Auch aus der Türkei kehrten Flüchtlinge in den Nordwesten Syriens zurück. Gleichzeitig flohen einige SyrerInnen in den Libanon (UNHCR, 11. Dezember 2024).
Der UN-Nothilfekoordinator Tom Fletcher berichtet am 17. Dezember über kritische Engpässe bei Nahrungsmitteln, Treibstoff und Vorräten aufgrund unterbrochener Handelsrouten und Grenzschließungen (UN News, 17. Dezember 2024).
Laut UNICEF benötigen 7,5 Million Kinder in Syrien humanitäre Hilfe. Mehr als 2,4 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule, und eine weitere Million Kinder laufen Gefahr, die Schule abzubrechen. Auch die Gesundheitsversorgung sei fragil. Fast 40 Prozent der Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen sind teilweise oder vollständig funktionslos. Fast 13,6 Millionen Menschen benötigen Wasser, Sanitäranlagen und Hygienedienste; und 5,7 Millionen Menschen, darunter 3,7 Millionen Kinder, benötigen Ernährungshilfe (ecoi.net unter Verweis auf UNICEF, 18. Dezember 2024). Als Reaktion auf jüngste Eskalationen hat UNICEF 185 mobile medizinische Teams entsandt, Bildung für 10.000 gefährdete Kinder mit 12 vorgefertigten Schulen ermöglicht und über 3 Millionen Menschen Zugang zu sauberem Wasser verschafft (UNICEF, 18. Dezember 2024).
Die UN berichtet, dass es in der Woche vom 23. Dezember weiterhin zu Feindseligkeiten und Unsicherheiten in den Provinzen Aleppo, Homs, Hama, Latakia, Tartus, Deir-ez-Zor und Quneitra kam. Aufgrund der angespannten Sicherheitslage waren humanitäre Einsätze mit 30. Dezember in mehreren Gebieten weiterhin ausgesetzt. Im November hatten rund zwei Millionen Menschen in ganz Syrien Nahrungsmittelhilfe in unterschiedlicher Form erhalten. Die instabile Sicherheitslage in den ländlichen Gebieten von Hama, Quneitra, Latakia und Tartous beeinträchtigte die Möglichkeit des Schulbesuchs für Kinder (UN News, 30. Dezember 2024).
Mit 29. Dezember haben 94 der 114 von UNHCR unterstützten Gemeindezentren in ganz Syrien ihre Arbeit wiederaufgenommen. Sei dem 27. November haben sich 58,500 Personen an die Gemeindezentren gewandt, um sich anzumelden und um Zugang zu Schutzdiensten zu erhalten. Laut UNHCR kehrten zwischen 8. und 29. Dezember 58,400 Personen nach Syrien (hauptsächlich aus dem Libanon, Jordanien und der Türkei) zurück. Seit Anfang 2024 (bis zum 29. Dezember) kehrten ungefähr 419,200 syrische Flüchtlinge zurück; die Mehrheit von ihnen nach Raqqa (25%), Aleppo (20%) und Daraa (20%) (UNHCR, 30. Dezember 2024).
Der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, erklärte in seinem Briefing an den UN-Sicherheitsrat am 8. Jänner 2025, dass sich die Sicherheitssituation in einigen Regionen zwar verbesserte, es jedoch weiterhin zu Unruhen in den Küstenregionen, Homs und Hama kam. Bewaffnete Gruppen, darunter das Terrornetzwerk Islamischer Staat – und über 60 Gruppen mit widersprüchlichen Agenden – stellten ebenfalls eine anhaltende Bedrohung für die territoriale Integrität Syriens dar. Pederson berichtete weiters über den oben beschriebenen Konflikt zwischen SNA und SDF, sowie die Verstöße Israels. Auch die humanitäre Lage war nach wie vor kritisch: Fast 15 Millionen Syrer benötigten Gesundheitsversorgung, 13 Millionen waren von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen und über 620.000 waren Binnenflüchtlinge. Die am Tischreen-Staudamm verursachten Schäden schränkten die Wasser- und Stromversorgung für mehr als 400.000 Menschen ein (UN News, 8. Jänner 2025).
II.1.5.2.1. Gebiete unter der ehemaligen Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien
Die Sicherheitslage zwischen militärischen Entwicklungen und Menschenrechtslage
Syrien war bis hin zur subregionalen Ebene territorial fragmentiert geblieben. In vielen Fällen wurde die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ehemals ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) waren die Machtverhältnisse mitunter komplex und konnten sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen waren möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle lag lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Die Regierung war nicht in der Lage, alle von ihr kontrollierten Gebiete zu verwalten und bediente sich verschiedener Milizen, um einige Gebiete und Kontrollpunkte in Aleppo, Lattakia, Tartus, Hama, Homs und Deir ez-Zor zu kontrollieren (DIS/DRC 2.2019). Die Hizbollah und andere von Iran unterstützte schiitische Milizen kontrollierten rund 20 Prozent der Grenzen des Landes.
Andere Regionen wie der Westen des Landes, insbesondere die Gouvernements Tartus und Latakia (Kerneinflussgebiete des Assad-Regimes), blieben auch im Berichtszeitraum von aktiven Kampfhandlungen vergleichsweise verschont. Unverändert kam es hier nur vereinzelt zu militärischen Auseinandersetzungen, vorwiegend im Grenzgebiet zwischen Latakia und Idlib (AA 2.2.2024). Damaskus, insbesondere im Zentrum sowie die Provinz Latakia galten als Gebiete mit relativ stabiler Sicherheitslage (NMFA 8.2023).
Seit der Rückeroberung der größtenteils landwirtschaftlich geprägten Provinz um Damaskus im Jahr 2018 versuchte der syrische Präsident Bashar al-Assad, die Hauptstadt als einen 'Hort der Ruhe' in einem vom Konflikt zerrissenen Land darzustellen (AN 1.7.2022; vgl. EUAA 9.2022). Nach mehreren Anschlägen in den Jahren zwischen 2020 bis 2023, bei denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels Autobomben ins Visier genommen wurden (TSO 10.3.2020; vgl. COAR 25.10.2021) und mehreren Anschlägen im Zeitraum von April 2022 bis Juli 2022, bei denen mehrere Personen mit Regimenähe ins Visier genommen wurden (AN 1.7.2022), war die Sicherheitslage vertraulichen Quellen des niederländischen Außenministeriums zufolge in Damaskus Stadt mit Stand August 2023 relativ stabil. Die Syrische Regierung hatte sogar alle Checkpoints aus der Innenstadt entfernt, weil die Sicherheitslage sich insbesondere im Zentrum so stark gebessert hat (NMFA 8.2023).
II.1.5.2.2. Nordwest-Syrien
Im Jahr 2015 verlor die syrische Regierung die Kontrolle über Idlib und diverse rivalisierende oppositionelle Gruppierungen übernahmen die Macht (BBC 18.2.2020), wobei die Freie Syrische Armee (FSA) manche Teile der Provinz schon 2012 erobert hatte (KAS 4.2020).
Die Opposition im Nordwesten Syriens ist in zwei große Gruppen/Bündnisse gespalten: HTS im Gouvernement Idlib und die von der Türkei unterstützte SNA im Gouvernement Aleppo. Die SNA setzt sich in erster Linie aus ehemaligen Gruppen der FSA zusammen, hat sich jedoch zu einer gespaltenen Organisation mit zahlreichen Fraktionen entwickelt, die zu internen Kämpfen neigen (CC 1.5.2023). Die SNA ist auf dem Papier die Streitkraft der syrischen Übergangsregierung (SIG), die rund 2,3 Millionen Syrer regiert. In Wirklichkeit ist die SNA allerdings keine einheitliche Truppe, sondern setzt sich aus verschiedenen Fraktionen zusammen, die unterschiedliche Legionen bilden und nicht unbedingt der Führung des Verteidigungsministers der SIG folgen (Forbes 22.10.2022). Eine hochrangige syrische Oppositionsquelle in Afrîn sagte, dass innerhalb der SNA strukturelle Probleme bestehen, seit die von der Türkei unterstützten Kräfte das Gebiet 2018 von kurdischen Kräften erobert haben (MEE 15.10.2022) und es wird von internen Kämpfen der SNA-Fraktionen berichtet (MEE 25.10.2022). Trotz der internen Streitigkeiten operieren die SIG-Verwaltungen und die bewaffneten Gruppen innerhalb der SNA innerhalb der von Ankara vorgegebenen Grenzen (Forbes 22.10.2022; vgl. Brookings 27.1.2023). Die Anwesenheit der Türkei brachte ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden von bewaffneten Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Duldung des Missbrauchs und der Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).
Das Gebiet unter Kontrolle von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS)
In der nordwestlichen Provinz Idlib und den angrenzenden Teilen der Provinzen Nord-Hama und West-Aleppo befand sich die letzte Hochburg der Opposition in Syrien (BBC 2.5.2023). Das Gebiet wurde von dem ehemaligen al-Qaida-Ableger Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) [Anm.: übersetzt soviel wie: Komitee zur Befreiung der Levante] beherrscht, der nach Ansicht von Analysten einen Wandel durchlief um seine Herrschaft in der Provinz zu festigen (Alaraby 5.6.2023). Das Gebiet beherbergte aber auch andere etablierte Rebellengruppen, die von der Türkei unterstützt werden (BBC 2.5.2023). HTS hatte die stillschweigende Unterstützung der Türkei, die die Gruppe als Quelle der Stabilität in der Provinz und als mäßigenden Einfluss auf die radikaleren, transnationalen dschihadistischen Gruppen in der Region betrachtete. Durch eine Kombination aus militärischen Konfrontationen, Razzien und Festnahmen hat die HTS alle ihre früheren Rivalen wie Hurras ad-Din und Ahrar ash-Sham effektiv neutralisiert. Durch diese Machtkonsolidierung unterschied sich das heutige Idlib deutlich von der Situation vor fünf Jahren, als dort eine große Anzahl an dschihadistischen Gruppen um die Macht konkurrierte. HTS hatte keine nennenswerten Rivalen. Die Gruppe hat Institutionen aufgebaut und andere Gruppen davon abgehalten, Angriffe im Nordwesten zu verüben. Diese Tendenz hatte sich nach Ansicht von Experten seit dem verheerenden Erdbeben vom 6.2.2023, das Syrien und die Türkei erschütterte, noch beschleunigt (Alaraby 5.6.2023).
Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten, war Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren Rückzugsgebiet vieler moderater, aber auch radikaler, teils terroristischer Gruppen der bewaffneten Opposition geworden (AA 29.11.2021). Zehntausende radikal-militanter Kämpfer, insb. der HTS, waren in Idlib präsent. Unter diesen befinden sich auch zahlreiche Foreign Fighters (Uiguren, Tschetschenen, Usbeken) (ÖB Damaskus 12.2022). Unter dem Kommando der HTS stehen zwischen 7.000 und 12.000 Kämpfer, darunter ca. 1.000 sogenannte Foreign Terrorist Fighters (UNSC 25.7.2023). Viele IS-Kämpfer übersiedelten nach dem Fall von Raqqa 2017 nach Idlib - großteils Ausländer, die für den Dschihad nach Syrien gekommen waren und sich nun anderen islamistischen Gruppen wie der Nusra-Front [Jabhat al-Nusra], heute als HTS bekannt, angeschlossen haben. Meistens geschah das über persönliche Kontakte, aber ihre Lage ist nicht abgesichert. Ausreichend Geld und die richtigen Kontaktleute ermöglichten derartige Transfers über die Frontlinie (Zenith 11.2.2022). Der IS sieht den Nordwesten als potenzielles Einfallstor in die Türkei und als sicheren Rückzugsort, wo seine Anhänger sich unter die Bevölkerung mischen (UNSC 25.7.2023). Laut einem Bericht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Februar 2023 waren neben HTS und Hurras ad-Din unter anderem auch die zentralasiatischen Gruppierungen Khatiba at-Tawhid wal-Jihad (KTJ) - im März 2022 in Liwa Abu Ubayda umbenannt - und das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM) - auch bekannt als Turkistan Islamic Party (TIP) - in Nordwestsyrien präsent (UNSC 13.2.2023).
Im Jahr 2012 stufte Washington Jabhat an-Nusra [Anm.: nach Umorganisationen und Umbenennungen nun HTS] als Terrororganisation ein (Alaraby 8.5.2023). Auch die Vereinten Nationen führen HTS als terroristische Vereinigung (AA 2.2.2024). Die Organisation versuchte, dieser Einstufung zu entgehen, indem sie 2016 ihre Loslösung von al-Qaida ankündigte und ihren Namen mehrmals änderte, aber ihre Bemühungen waren nicht erfolgreich und die US-Regierung führte sie weiterhin als "terroristische Vereinigung" (Alaraby 8.5.2023; vgl. CTC Sentinel 2.2023). HTS ging gegen den IS und al-Qaida vor (COAR 28.2.2022; vgl. CTC Sentinel 2.2023) und regulierte nun die Anwesenheit ausländischer Dschihadisten mittels Ausgabe von Identitätsausweisen für die Einwohner von Idlib, ohne welche z.B. das Passieren von HTS-Checkpoints verunmöglicht wird. Die HTS versuchte so, dem Verdacht entgegenzutreten, dass sie das Verstecken von IS-Führern in ihren Gebieten unterstützt, und signalisierte so ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft bei der Terrorismusbekämpfung (COAR 28.2.2022). Im Mai 2023 startete die HTS in den Provinzen Idlib und Aleppo beispielsweise eine Verhaftungskampagne gegen Hizb ut-Tahrir (HuT) als Teil der langfristigen Strategie, andere islamistische Gruppen in den von ihr kontrollierten Gebieten zu unterwerfen und die Streichung der HTS von internationalen Terroristenlisten zu erwirken (ACLED 8.6.2023; vgl. Alaraby 8.5.2023). Das Vorgehen gegen radikalere, konkurrierende Gruppierungen und die Versuche der Führung, der HTS ein gemäßigteres Image zu verpassen, führten allerdings zu Spaltungstendenzen innerhalb der verschiedenen HTS-Fraktionen (AM 22.12.2021). Im Dezember 2023 wurden diese Spaltungstendenzen evident. Nach einer Verhaftungswelle, die sich über ein Jahr hinzog, floh eine Führungspersönlichkeit in die Türkei, um eine eigene rivalisierende Gruppierung zu gründen. Die HTS reagierte mit einer Militäroperation in Afrin (Etana 12.2023). HTS verfolgte eine Expansionsstrategie (UNSC 25.7.2023).
II.1.5.3. Rechtsschutz/Justizwesen
II.1.5.3.1. Gebiete unter der Kontrolle des ehemaligen syrischen Regimes
Die syrische Verfassung sieht Demokratie (Art. 1, 8, 10, 12), Achtung der Grund- und Bürgerrechte (Art. 33-49), Rechtsstaatlichkeit (Art. 50-53), Gewaltenteilung sowie freie, allgemeine und geheime Wahlen zum Parlament (Art. 57) vor. Faktisch haben diese Prinzipien in Syrien jedoch nie ihre Wirkung entfaltet, da die Ba'ath-Partei durch einen von 1963 bis 2011 geltenden, extensiv angewandten Ausnahmezustand wichtige Verfassungsregeln außer Kraft setzte. Zwar wurde der Ausnahmezustand 2011 beendet, aber mit Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Syrien umgehend im Jahr 2012 durch eine genauso umfassende und einschneidende „Anti-Terror-Gesetzgebung“ ersetzt. Sie führte zu einem Machtzuwachs der Sicherheitsdienste und massiver Repression, mit der das Regime auf die anfänglichen Demonstrationen und Proteste sowie den späteren bewaffneten Aufstand großer Teile der Bevölkerung antwortete. Justiz und Gerichtswesen waren von grassierender Korruption und Politisierung durch das Regime geprägt. Laut Verfassung war der Präsident auch Vorsitzender des Obersten Justizrates (AA 29.3.2023).
Das Justizsystem Syriens besteht aus Zivil-, Straf-, Militär-, Sicherheits- und religiösen Gerichten sowie einem Kassationsgericht. Gerichte für Personenstandsangelegenheiten regeln das Familienrecht (SLJ 5.9.2016). Der Konflikt in Syrien hat das bereits zuvor schwache Justizsystem weiter ausgehöhlt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Umsetzung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weitverbreitete Korruption hatte diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt.
Die Verwaltung in den von der ehemaligen Regierung kontrollierten Gebieten arbeitete in Routineangelegenheiten mit einer gewissen Zuverlässigkeit, vor allem in Personenstandsangelegenheiten (AA 2.2.2024). Die religiösen Gerichte behandeln das Familien- und Personenstandsrecht und regeln Angelegenheiten wie Eheschließungen, Scheidungen, Erb- und Sorgerecht (IA 7.2017). Hierbei sind Scharia-Gerichte für sunnitische und schiitische Muslime zuständig. Drusen, Christen und Juden haben ihre eigenen gerichtlichen Strukturen. Für diese Gerichte gibt es auch eigene Berufungsgerichte (SLJ 5.9.2016). Manche Personenstandsgesetze wenden die Scharia unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Beteiligten an (USDOS 20.3.2023).
Die Regierungskampagne zur Konfiszierung von Land und Häusern oder Beschlagnahmung ohne adäquate Entschädigung machte Land- und Immobilienbesitzrechte zu einem sensiblen Thema, bei dem die Justiz nicht unabhängig war. BürgerInnen im Ausland riskierten, dass ihr Besitz beschlagnahmt wird, wenn sie vom Regime mit der Opposition in Verbindung gebracht werden und hatten kaum Einspruchsmöglichkeiten. Die Verfügungen zur Durchführung der Konfiszierung wurden nur in lokalen Zeitungen bekannt gegeben und waren so vom Ausland nicht zugänglich. Die Kläger mussten persönlich (bei Einsprüchen) in solchen Fällen zugegen sein (BS 23.3.2022).
II.1.5.3.2. Ehemalig außerhalb der Kontrolle des Regimes liegende Gebiete unter HTS- oder SNA Dominanz
In ehemaligen Gebieten außerhalb der Kontrolle des syrischen Regimes war die Lage von Justiz und Verwaltung von Region zu Region und je nach den örtlichen Herrschaftsverhältnissen unterschiedlich (AA 2.2.2024). In von oppositionellen Gruppen kontrollierten Gebieten wurden unterschiedlich konstituierte Gerichte und Haftanstalten aufgebaut, mit starken Unterschieden bei der Organisationsstruktur und bei der Beachtung juristischer Normen. Manche Gruppen folgten dem (syrischen) Strafgesetzbuch, andere folgten dem Entwurf eines Strafgesetzbuches auf Grundlage der Scharia, der von der Arabischen Liga aus dem Jahr 1996 stammt, während wiederum andere eine Mischung aus Gewohnheitsrecht und Scharia anwandten. Erfahrung, Expertise und Qualifikation der Richter in diesen Gebieten sind oft sehr unterschiedlich und häufig sind diese dem Einfluss der dominanten bewaffneten Gruppierungen unterworfen (USDOS 11.3.2020). Auch die Härte des angewandten islamischen Rechts unterscheidet sich, sodass keine allgemeinen Aussagen getroffen werden können (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Doch wurden insbesondere jene religiösen Gerichte, welche in (vormals) vom Islamischen Staat (IS) und von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierten Gebieten Recht sprechen, als nicht mit internationalen Standards im Einklang stehend charakterisiert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Die Gerichte extremistischer Gruppen verhängten in ihren religiösen Gerichten harte Strafen wegen in ihrer Wahrnehmung religiösen Verfehlungen (FH 9.3.2023). Urteile von Scharia-Räten der Opposition resultierten manchmal in öffentlichen Hinrichtungen, ohne dass Angeklagte Berufung einlegen oder Besuch von ihren Familien erhalten können (USDOS 20.3.2023).
In Idlib übernahmen quasi-staatliche Strukturen der sogenannten „Errettungs-Regierung“ der HTS Verwaltungsaufgaben (AA 2.2.2024) und verfügten auch über eine Justizbehörde. Die Gruppe unterhielt auch geheime Gefängnisse. Die HTS unterwarf ihre Gefangenen geheimen Verfahren, den sogenannten "Scharia-Sitzungen". In diesen wurden die Entscheidungen von den Scharia- und Sicherheitsbeamten (Geistliche in Führungspositionen der HTS, die befugt sind, Fatwas [Rechtsgutachten] und Urteile zu erlassen) getroffen. Die Gefangenen konnten keinen Anwalt zu ihrer Verteidigung hinzuziehen und sahen ihre Familien während ihrer Haft nicht (NMFA 6.2021). Die COI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) stellte in ihrem Bericht vom Februar 2022 fest, dass durch HTS und andere bewaffnete Gruppierungen eingesetzte, rechtlich nicht legitimierte Gerichte Urteile bis hin zur Todesstrafe aussprechen. Dies sei als Mord einzustufen und stelle insofern ein Kriegsverbrechen dar (AA 2.2.2024).
Für ganz Syrien galt, dass nicht gewährleistet war, dass justizielle und administrative Dienstleistungen allen Bewohnern und Bewohnerinnen in gleichem Umfang und ohne Diskriminierung zugutekommen (AA 2.2.2024). Willkürliche Verhaftungen, summarische Gerichtsverfahren und extralegale Strafen fanden durch alle Kriegsparteien statt (FH 9.3.2023).
II.1.5.3.3. Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Familienrecht, Vormundschaft und Obsorge (ehemals regimekontrollierte Gebiete)
Personenstandsgesetz von 1953 (mit Nivellierungen)
Im muslimisch dominierten multireligiösen und multiethnischen Syrien haben die unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften seit Langem das Recht, bestimmte Angelegenheiten des Familienrechts entsprechend ihren jeweiligen religiösen Vorschriften zu regeln (SLJ 3.10.2019). Im Allgemeinen wird das Familienrecht durch das Personenstandsgesetz (qanun al-ahwal al-shakhsiyya) von 1953 geregelt, eine Kodifizierung islamischen Rechts. Das Gesetz gilt für alle Syrer, aber bestimmte Ausnahmen gelten für Drusen, Christen und Juden, die ihre eigenen religiösen Gesetze in Bezug auf Heirat, Scheidung, Kindesunterhalt, Mitgift, Testamente und Erbschaft anwenden können (MPG 2018). Andere Bereiche wie Vormundschaft und Vaterschaft gelten jedoch für alle Syrer, unabhängig von ihrer Religion - nach einer zeitweisen Ausnahme für Katholiken (Landinfo 22.8.2018). Das Personenstandsrecht und die Scharia-Gerichte, die dieses Recht anwenden, haben Vorrang gegenüber den nicht-muslimischen Gerichten (Eijk 2013).
Nicht nur die verschiedenen Religionsgruppen, auch die unterschiedlichen Konfessionen haben eine jeweils eigene Gesetzgebung in bestimmten rechtlichen Angelegenheiten den Personenstand betreffend (Eijk 2013). So existiert ein kodifiziertes Familienrecht für Katholiken, Protestanten sowie für die Armenisch-, Griechisch- sowie Syrisch-Orthodoxen Kirchen u. a. in verschiedenen Personenstandsgesetzen (MPG 2018). Das Gesetz unterscheidet hingegen nicht zwischen den verschiedenen islamischen Konfessionen und gilt für Sunniten, Alawiten und andere schiitische Gruppen gleichermaßen (ausgenommen sind hiervon Drusen, wenn man diese als muslimische Gruppe ansieht) (Eijk 2016).
Am 25.3.2021 ist mit der Unterschrift des Präsidenten das Gesetz Nr. 13/2021 zum Erlass eines neuen Personenstandsgesetzes (PSG) verabschiedet worden. Das neue Gesetz ersetzt das Personenstandsgesetz von 2007. Gegenstand der enthaltenen Neuerungen sind insbesondere die Automatisierung und Informatisierung von Registerprozessen und ihre Vereinfachung; u. a. soll es Erleichterungen bei der Beantragung von Urkunden geben (VfSt 30.3.2021). Bezüglich Heirat, Scheidung, Kinderobsorge und Erbschaft sind Frauen weiterhin im Personenstandsgesetz diskriminiert (HRW 11.1.2024).
Außerhalb der regimekontrollierten Gebiete
Der militärische und politische Zerfall Syriens hat auch Auswirkungen auf das Familienrecht, weil die einzelnen politischen Gruppen in ihren Herrschaftszonen zum Teil eigene Normensysteme gebildet haben und anwenden (MPG 2018).
II.1.5.4. Wehr- und Reservedienst bei den syrischen Streitkräften
Für männliche syrische Staatsbürger war im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007).
II.1.5.4.1. Die Umsetzung der Wehrpflicht:
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendete die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer wurden in einer zentralen Datenbank erfasst. (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. (STDOK 8.2017; vgl. DIS 7.2023). Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
II.1.5.4.2. Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts:
Das syrische Wehrdienstgesetz sah vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen konnten den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020).
II.1.5.4.3. Rekrutierung durch andere Organisationen
Bewaffnete oppositionelle Gruppen wie die SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) legten Zivilisten in von ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 5.2022; vgl. DIS 12.2022). Quellen des niederländischen Außenministeriums berichteten, dass es keine Zwangsrekrutierungen durch die SNA und die HTS gibt (NMFA 8.2023).
Rekrutierungspraxis der HTS:
Die Rekrutierung von HTS erfolgt typischerweise in Moscheen und über örtliche Scheichs und Geistliche. Der Schwerpunkt bei diesen Rekrutierungsprozessen liegt darauf, sicherzustellen, dass neue Rekruten die gleiche islamistische Ideologie wie HTS teilen. HTS hat hauptsächlich durch Rekrutierungskampagnen, bei denen Männer ab 18 Jahren ermutigt werden, sich der militärischen Abteilung von HTS anzuschließen, rekrutiert. Zu diesen Kampagnen gehören die Verteilung von Flugblättern und Ankündigungen auf Social-Media-Plattformen wie Telegram und Twitter. (DIS 12.2022)
HTS hat auch aus von der SNA kontrollierten Gebieten über Familien- oder Stammesverbindungen rekrutiert. Allerdings erlaubt HTS ehemaligen Oppositionsgruppenkämpfern, wie z.B. ehemaligen SNA-Kämpfern, nicht, dem HTS beizutreten. Sie erlaubt Oppositionsgruppen auch nicht, Rekrutierungsbüros und Ausbildungsstützpunkte in von HTS kontrollierten Gebieten zu eröffnen. (DIS 12.2022)
HTS verfügt über eine große Anzahl von Kämpfern, da sich viele Männer, die in HTS-Gebieten leben, ihrem militärischen Zweig anschlossen. Allerdings ist die genaue Anzahl der Kämpfer, die HTS zur Verfügung stehen, laut der Online-Medienveröffentlichung Al-Monitor nicht bekannt. Eine syrische Menschenrechtsorganisation schätzt, dass HTS derzeit aus etwa 80.000 Kämpfern bestand. Laut Fabrice Balanche bestand HTS im Oktober 2022 aus 30.000 bis 50.000 Kämpfern. Im Oktober 2018 verfügte HTS über eine Kampftruppe von 12.000 bis 15.000 Kämpfern. (DIS 12.2022)
Junge Männer schlossen sich HTS vor allem wegen der attraktiven Anreize an, die die Organisation ihren Kämpfern bietet. HTS betrachtet seine Kämpfer als wichtigen Teil seiner Organisation, was insgesamt einen wichtigen Motivationsfaktor für den Beitritt zu HTS darstellt. Neben der Zahlung von Gehältern stellt HTS seinen Mitgliedern auch Lebensmittelkörbe und Unterkünfte zur Verfügung. (DIS 12.2022)
Zwei der befragten Quellen gaben an, dass sich auch viele junge Männer der HTS angeschlossen haben, weil sie die ideologischen und religiösen Überzeugungen der Organisation teilen. (DIS 12.2022)
Dem Bericht des Danish Immigration Service (DIS) vom Dezember 2022 ist zu entnehmen, dass Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) im Allgemeinen keine Zwangsrekrutierung einsetzt. HTS hat keine Zwangsrekrutierung benötigt, da eine große Anzahl von Männern bereitwillig der Organisation beitrat. Darüber hinaus setzte HTS keine Zwangsrekrutierung ein, da es für HTS von wesentlicher Bedeutung ist, dass ihre Rekruten motiviert und loyal gegenüber der Organisation sind.
Es war möglich, in von HTS kontrollierten Gebieten zu leben, ohne bei der HTS dienen zu müssen. Männer, die sich dafür entscheiden, HTS nicht beizutreten, hatten keine Probleme mit HTS, wenn sie nicht beitraten. Sie konnten als Zivilisten in den vom HTS kontrollierten Gebieten leben. In Idlib lebten 100.000 Menschen, die arbeiteten und sich frei bewegten und nicht vom HTS rekrutiert wurden. (DIS 12.2022)
Allerdings hat HTS in einigen Fällen bei der Einstellung von Mitarbeitern Gewalt oder Nötigung angewendet, und zwar zwang laut Al-Ghazi HTS Personen mit militärischer Erfahrung dazu, sich HTS anzuschließen. Darüber hinaus haben örtliche HTS-Polizeieinheiten gelegentlich Männer unter Druck gesetzt, sich HTS anzuschließen, insbesondere im Zusammenhang mit den Angriffen der syrischen Regierung auf Idlib. Allerdings gab es keine systematische Praxis dieser Art der Rekrutierung. Es gab auch Fälle von Zwangsrekrutierung von Männern aus IS-Schläferzellen, um eine feste Kontrolle über diese Kämpfer zu erlangen. (DIS 12.2022)
HTS erlaubt es Kämpfern nicht, aufzuhören oder zu entscheiden, ob sie an bewaffneten Kämpfen teilnehmen möchten. Über diese Angelegenheiten entscheiden ausschließlich die Leiter von HTS. Laut SNHR kann Männern, die in der HTS-Militärabteilung dienen und aufhören wollen, ein höheres Gehalt angeboten werden, wenn sie erfahrene Kämpfer sind. Wenn sie jedoch kündigen, werden sie höchstwahrscheinlich als Verräter wahrgenommen und vor ein HTS-Militärgericht gestellt. (DIS 12.2022)
Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer "regulären Armee" zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten "HTS-Wehrpflicht" in ldlib liebäugelte, damit dem "Staatsvolk" von ldlib eine "staatliche" Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte (BMLV 12.10.2022).
II.1.5.4.4. Rekrutierung von Minderjährigen
Neben der Gefährdung durch sexualisierte Gewalt und Kampfhandlungen bleibt die Zwangsrekrutierung von Kindern im Syrienkonflikt durch verschiedenste Parteien ein zentrales Problem. Neben Somalia und Nigeria zählte Syrien 2020 laut UNICEF zu den Ländern mit den höchsten Rekrutierungsquoten von Kindersoldaten.
Im August 2021 hat die syrische Regierung ein Kinderschutzgesetz, Gesetz Nr. 21 von 2021 erlassen. Das Gesetz verbietet die Rekrutierung oder Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und allen anderen damit verbundenen Aktivitäten (OSS 18.1.2023; vgl. UNSC 27.10.2023). Auch das Gesetz Nr. 11/2013 kriminalisiert alle Formen von Rekrutierung und Einsatz von Kindern unter 18 Jahren durch die syrischen Streitkräfte und bewaffnete Oppositionsgruppen (USDOS 29.7.2022).
Laut einem Bericht des US-amerikanischen Außenministeriums vom Juli 2022 hatte die Regierung jedoch keine Bemühungen gezeigt, den Einsatz von Kindersoldaten durch Regierungs- und regierungstreue Milizen, bewaffnete Oppositionsgruppen und terroristische Organisationen zu verfolgen. Bewaffnete Gruppierungen haben auch Kinder für Zwangsarbeit oder als Informanten eingesetzt, wodurch diese Vergeltungsschlägen und extremer Bestrafung ausgesetzt waren (USDOS 29.7.2022). Dem gegenüber stand ein Bericht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, wonach Vertreter der Syrischen Regierung im Jahr 2022 an Awareness-Workshops über Kinder im Konflikt teilgenommen haben und die Regierung sich mit den Vereinten Nationen auf einen handlungsorientierten Dialog zur Beendigung und Vermeidung von sowie Reaktion auf schwere Verbrechen gegen Minderjährige durch das Syrische Regime oder mit ihm verbundene Gruppierungen geeinigt haben (UNSC 27.10.2023).
II.1.5.4.4.1. Rekrutierung von Minderjährigen durch die HTS [Quelle: DIS 6.2022]
Die von für diesen Bericht konsultierten Quellen gaben an, dass die HTS Minderjährige nicht im gleichen Umfang rekrutiert wie zuvor während des syrischen Bürgerkriegs, da die HTS versucht, die Rekrutierung von Kindern für ihre Streitkräfte zu vermeiden. Die SNHR erklärte, dass die HTS derzeit nur wenige Minderjährige in ihrem Militärzweig hat. Die tatsächliche Anzahl der Minderjährigen, die ab November 2022 in der HTS dienen, ist jedoch nicht bekannt.
Zwei Quellen gaben an, dass das Alter der rekrutierten Jungen zwischen 12 und 18,93 Jahren liegt. HTS rekrutiert Jungen, die körperlich fit sind, um Kämpfer zu werden. Al-Ghazi gab an, dass es Beispiele für Minderjährige gibt, die zwischen 2018 und 2020 an den Frontlinien in der Region Idlib getötet wurden.
Minderjährige werden in der Regel auf ideologischer Basis durch lokale Moscheen rekrutiert. Dies hat auch in Binnenvertriebenenlagern durch lokale Scheichs stattgefunden. Manchmal rekrutieren Lehrer in Schulen in HTS-kontrollierten Gebieten Minderjährige, um sich HTS anzuschließen. Im Allgemeinen basiert die HTS-Rekrutierung von Minderjährigen hauptsächlich auf der Notwendigkeit, sie in die Ideologie der HTS zu indoktrinieren, und nicht auf dem Bedarf an Arbeitskräften.
SNHR und eine syrische Menschenrechtsorganisation bestätigten, dass HTS Minderjährige auf freiwilliger Basis rekrutiert. Laut Al-Ghazi lockt HTS Jungen aus armen Familien in Binnenvertriebenenlagern, wo der Vater möglicherweise vermisst wird, mit wirtschaftlichen Anreizen, sich HTS anzuschließen.
II.1.5.4.4.2. Durch die Vereinten Nationen verifizierte Fälle (LIB, UNGA, 5.6.2023, UNGA, 3.6.2024; UN Security Council, 27.10.2023)
Laut dem Bericht des UNO Generalsekretärs an den UNO Sicherheitsrat zu Kindern im bewaffneten Konflikt in Syrien vom Oktober 2023 betreffend den Zeitraum von 1. Juli 2020 bis 30 September 2022 (UN Security Council, 27. Oktober 2023, S. 4-5) habe es insgesamt 2.990 bestätigte Fälle gegeben (2.860 Jungen, 130 Mädchen), davon wurden 400 Kinder in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 rekrutiert und eingesetzt, während es im Jahr 2021 1.299 und zwischen Januar und September 2022 1.291 Fälle waren. Die Kinder waren zwischen 9 und 17 Jahre alt.
Rekrutierungs- und Einsatzfälle hätten sich im Vergleich zum vorherigen Bericht mehr als verdoppelt. Die Vorfälle, die der oppositionellen SNA (hauptsächlich von der Faylaq al-Sham, Ahrar al-Sham, Hamzah Division und Suqur al-Sham Fraktionen) zugeschrieben wurden, seien um etwa 180 Prozent gestiegen. Obwohl die SDF sich zu Maßnahmen im 2019 mit den Vereinten Nationen unterzeichneten Aktionsplan zur Beendigung und Vorbeugung der Rekrutierung und des Einsatzes von Kinder verpflichtet hatte, nahmen verifizierte Fälle, die den SDF und den internen Sicherheitskräften zugeschrieben werden, um 80 Prozent zu.
Kinder wurden von folgenden Fraktionen rekrutiert und eingesetzt: unter dem Dach der oppositionellen SNA (1.094) (Faylaq al-Sham (121), Ahrar al-Sham (84), Hamzah-Division (59), Suqur al-Sham (52), Sultan Murad Abteilung (29), Jabhah al-Sharqiyah(29), Jabhah al-Shamiyah (24), Jaysh al-Sharqiyah (17), Jabhah al-Islamiyah (16), Jaysh al-Izzah (10), Jaysh al-Nusrah (8), Faylaq al-Majd (7), Samarqand Brigade (5), Dir’ al-Furat (4), Armee des Islam (3), Mu’tasim-Brigade (2), Hizb al-Turkmani (2), Jaysh al-Thani (1), Ahrar al-Sharqiyah (1), Firqah al-Sahiliyah (1) und nicht identifizierte Fraktionen (619)); Hay’at Tahrir al-Sham (852); SDF (829) (YPG/YPJ (824), andere SDF-Komponenten (3) und Afrin Liberation Forces (2)) und interne Sicherheitskräfte (45); syrische Regierungstruppen (115), regierungsfreundliche Kräfte (15) und regierungsfreundliche Milizen, einschließlich NDF (44); Patriotische revolutionäre Jugendbewegung (43); Hurras al-Din (6); und nicht identifizierte Täter (6).
Verstöße ereigneten sich in den Gouvernements Idlib (1.220), Aleppo (641), Hasakah (626), Dayr al-Zawr (257), Raqqah (217), Damaskus (11), Homs (8), Rif Dimashq (7) und Qunaytirah (3).
Die meisten Kinder wurden in Kampfrollen (2.977) eingesetzt. Die übrigen Kinder wurden in unterstützenden Rollen eingesetzt, unter anderem als Reinigungskräfte oder Köche (13). Zum Beispiel wurden im September 2022 zwei bewaffnete Jungen im Alter von 16 und 17 Jahren eingesetzt, um Fahrzeuge an einem Kontrollpunkt, der von Hay’at Tahrir al-Sham im Gouvernement Idlib betrieben wird, anzuhalten und zu kontrollieren.
Darüber hinaus verschleppten Fraktionen der oppositionellen SNA 6 Kinder nach Libyen, um an Feindseligkeiten zur Unterstützung der Kräfte der Regierung der Nationalen Einheit im Austausch für ein monatliches Stipendium.
Gründe für die Rekrutierung von Kindern waren in erster Linie finanzielle Anreize, Zugang zu Dienstleistungen und Gütern angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage, ideologische Gefolgschaft und zunehmende Spannungen zwischen den Parteien im Nordosten und Nordwesten.
Die Gesamtzahl der im Berichtszeitraum freigelassenen Kinder konnte nicht überprüft werden. Die SDF gab an, dass 278 Kinder (226 Jungen, 52 Mädchen) formell demobilisiert wurden, von denen 54 Wiedereingliederungshilfe erhielten.
Darüber hinaus verifizierten die Vereinten Nationen eine späte Überprüfung von 170 Fällen von Rekrutierung und Einsatz von Kindern (157 Jungen, 13 Mädchen), die sich im Jahr 2015 (1), 2018 (1), 2019 (9) und im ersten Halbjahr 2020 (159) ereignet haben. Fälle wurden Hay’at Tahrir al-Sham (83); oppositionellen SNA-Fraktionen (31); YPG/YPJ (27); den syrischen Regierungsstreitkräften (1) und regierungsnahen Milizen (18); der Revolutionären Jugend (6); und Da’esh (4) zugeschrieben. Die meisten Fälle ereigneten sich in den Gouvernements Idlib (91), Dayr Al-Zawr (35) und Raqqah (19) (UN Security Council, 27. Oktober 2023, S. 4-5)
Berichtsreihe „Children and Armed Conflict“
Der im Juni 2022 veröffentlichte Jahresbericht des Generalsekretärs an die UN-Generalversammlung über Kinder in bewaffneten Konflikten berichtet über die Rekrutierung und den Einsatz von insgesamt 1.296 Kindern (1.258 Buben und 38 Mädchen) im Konflikt in Syrien zwischen Januar und Dezember 2021. Dem Bericht zufolge wurden 1.285 der Kinder im Kampf eingesetzt. 569 verifizierte Fälle werden der Syrian National Army (SNA) zugeschrieben, 380 der HTS, 220 der YPG und den mit der YPG verbundenen Frauenschutzeinheiten (YPJ) und 46 den regimenahen Kräften und Milizen, neben anderen Akteuren (LIB S. 151 mit Verweis auf UNGA 23.6.2022; USDOS 20.3.2023).
Laut dem Bericht des UNO Generalsekretärs an den UNO Sicherheitsrat über Kinder und bewaffnete Konflikte vom Juni 2023 wurden im Zeitraum von Jänner bis Dezember 2022 die Rekrutierung von insgesamt 1.696 Kinder (1.593 Jungen, 103 Mädchen) identifiziert; 15 davon wurden Regierungstruppen und 10 regierungstreuen Milizen, 637 den SDF (kurdische Volksverteidigungseinheiten und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) (633), andere Teile der SDF (4)) und den Kräften der inneren Sicherheit unter dem Dach der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (21) (Internal Security Forces) und 10 der Revolutionären Jugend, 611 der SNA, 383 der Hay’at Tahrir al-Sham, 5 Nour al-Din al-Zanki und 4 dem Da’esh zugerechnet. Der Großteil der Kinder wurde im Kampf eingesetzt (1.688). Die Entführung von vier Kindern (1 Bub, 3 Mädchen) durch die YPG/YPJ (2) und die Revolutionäre Jugend (2) zwecks Rekrutierung und Einsatz wurde verifiziert. Zusätzlich sei 2022 die Rekrutierung und der Einsatz von drei Kndern (2 Buben, 1 Mädchen) durch die YPG/YPJ (2) and die Revolutionäre Jugend (1) aus früheren Jahren verifiziert worden. Jeweils ein Junge wurde von syrischen Regierungstruppen und der YPG/YPJ aufgrund des Vorwurfs der Verbindung zu bewaffneten Gruppen verhaftet (UNGA, 5.6.2023, S. 24 f; s.a. AB ACCORD 12.10.2023, a-12243)
Laut dem jüngsten Bericht des UN-Generalsekretärs an den Sicherheitsrat vom Juni 2024 wurde im vergangenen Jahr die Rekrutierung von insgesamt 1.073 (1.059 Jungen, 14 Mädchen) verifiziert; 73 davon wurden syrischen Regierungsstreitkräften bzw. regierungstreuen Milizen zugerechnet (regierungstreue Milizen [51], syrische Regierungsstreitkräfte [20], regierungstreue Luftstreitkräfte [2]), 282 der SNA; 477 der HTS, 231 den SDF (kurdische Volksverteidigungseinheiten und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) (203), Kräfte der inneren Sicherheit unter dem Dach der Selbstverwaltung (27) (Internal Security Forces), andere Teile der SDF (1)) und 10 der Revolutionären Jugend. Der Großteil der Kinder sei in einer Kampfrolle eingesetzt worden (1.062). Die Entführung von insgesamt vier Mädchen wurde verifiziert, drei davon von der Revolutionären Jugend. Alle diese Mädchen wurden freigelassen. Die Verhaftung von 10 Jungen durch die SDF aufgrund des Vorwurfs der Verbindung zu Konfliktparteien wurde verifiziert (UNGA, 3.6.2024, S. 27).
II.1.5.5. Kinder
Das Kinderschutzgesetz, Gesetz Nr. 21 von 2021, wurde im August 2022 veröffentlicht und ist das erste seiner Art in Syrien. Es soll die Kinder schützen, versorgen und die wissenschaftliche, kulturelle, psychologische und soziale Rehabilitation aller Kinder sicherstellen. Demnach hat der syrische Staat die Pflicht, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechte von Kindern zu gewährleisten (OSS 18.1.2023).
Unverändert kommt es in Syrien regelmäßig zu schwersten Verletzungen der Rechte von Kindern (AA 2.2.2024). Trotz Bemühungen der Vereinten Nationen (VN) werden noch immer Kinder für den Dienst an der Waffe rekrutiert. Der UN zufolge wurde die Mehrheit der Minderjährigen auch in bewaffneten Konflikten eingesetzt und nur eine kleine Minderheit in nicht kämpferischen Rollen, beispielsweise als Köche oder für Reinigungsarbeiten (UNSC 27.10.2023).
Zu weiteren Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder zählten neben Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten insbesondere Inhaftierung und Folter, Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Kinder, Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser sowie die Verweigerung humanitärer Hilfsleistungen (AA 29.3.2023). Im Berichtszeitraum 2023 haben die Vereinten Nationen die Tötung (201) und Verstümmelung (274) von 475 Kindern (326 Jungen, 103 Mädchen, 46 Geschlecht unbekannt), durch syrische Regierungstruppen und regierungsnahe Kräfte (325) (regierungsnahe Kräfte (184), regierungsnahe Luftstreitkräfte (139), syrische Regierungstruppen (1), regierungsnahe Milizen (1)), durch nicht identifizierte Täter (139), durch die SDF (8) (YPG/YPJ (4), andere SDF-Komponenten (3), innere Sicherheitskräfte (1)) sowie die oppositionelle SNA (2) und die türkischen Streitkräfte (1) verifiziert. Die Verluste resultierten aus Bodenbeschuss (203), Luftangriffen (142), explosiven Kampfmitteln (123) und Schüssen (7). Darüber hinaus wurden 20 Angriffe auf Schulen (19) und Krankenhäuser (1) durch Beschuss (18) und Luftangriffe (2) durch regierungsnahe Kräfte (15) und regierungsnahe Luftstreitkräfte (2), nicht identifizierte Täter (2) und YPG / YPJ (1) festgestellt. Die militärische Nutzung von 34 Schulen (33) und Krankenhäusern (1) wurde YPG/YPJ (31), syrischen Regierungstruppen (1), oppositionellen SNA (1) und Hay’at Tahrir al-Sham (1) zugeschrieben (UNGA, 3.6.2024).
Die Anzahl der Kinder unter den Binnenvertriebenen wächst weiterhin - mit Stand Februar 2022 2,4 Millionen Kinder, von denen ungefähr eine Million in Ansiedlungen und Lagern lebte (USDOS 20.3.2023)
Staatsbürgerschaft und Geburtsregistrierung
Kinder leiten die Staatsbürgerschaft ausschließlich von ihrem Vater ab (USDOS 20.3.2023).
In weiten Teilen des Landes, in denen die Standesämter nicht funktionieren, registrieren Behörden Geburten oft nicht (USDOS 20.3.2023), obwohl das neue Kinderrechtsgesetz jedem Kind das Recht auf eine Staatsangehörigkeit garantiert (NMFA 5.2022). Die Nichtregistrierung führt zur Vorenthaltung von Dienstleistungen, wie z. B. Ausstellung von Zeugnissen für sekundäre Schulbildung, Zugang zu Universitäten, Zugang zu formeller Beschäftigung sowie zu Dokumenten und Schutz (USDOS 20.3.2023).
Bildung und Schulen
Laut dem Kinderschutzgesetz haben Kinder ein Recht auf Bildung (OSS 18.1.2023). Für alle Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren besteht Schulpflicht. Der Anteil an Einschulungen, Unterrichtsteilnahme und Schulabschlüssen war zwischen Buben und Mädchen vergleichbar (USDOS 20.3.2023).
Mindestens 2,4 Millionen von 6,1 Millionen Kindern in Schulalter gingen 2022 in Syrien nicht zur Schule und eine von drei Schulen war beschädigt, zerstört oder wurde zweckentfremdet genutzt - auch für militärische Zwecke (HRW 12.1.2023). Kombattanten aller Seiten greifen regelmäßig Schulen an oder requirierten die Schulgebäude (FH 9.3.2023, zu besonderen Sicherheitsherausforderungen für Mädchen vgl. UNFPA 28.3.2023). SNHR’ verzeichnete im Jahr 2022 mindestens zwei Angriffe auf Bildungseinrichtungen (Schulen, Kindergärten) in Idlib durch Regierungskräfte. Im Jahr 2021 waren es 13 Angriffe gewesen (SNHR 17.1.2023).
Wiederholte Angriffe auf Schulen, ökonomische Faktoren wie Kinderarbeit, die Rekrutierung von Buben für militärische Aufgaben und die Inhaftierung von Kindern behindern weiterhin die Möglichkeiten von Kindern, eine Ausbildung zu erhalten. Die Vereinten Nationen verifizierten im Berichtszeitraum von Juni 2020 bis September 2022 insgesamt 63 Angriffe auf Schulen (39) und Krankenhäuser (24), was im Vergleich zum vorgehenden Bericht einen Rückgang von etwa 80% darstellt (UNSC 27.10.2023). Außerdem benötigen viele Schulen massive Reparaturarbeiten, einschließlich der Räumung von nicht-detonierten Explosivstoffen des Krieges. Überdies brauchen die Schulen Hilfe bei der Beschaffung einer Basisausstattung mit Lernmaterialien (USDOS 20.3.2023), darunter auch die wiedereröffneten Schulen in zuvor vom sogenannten Islamischen Staat (IS) gehaltenen Gebieten, die von den Syrian Democratic Forces erobert wurden (USDOS 30.3.2021).
Laut UNOCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) kommt in Idlib, dem Gebiet anhaltender bewaffneter Zusammenstöße, ein funktionierender Klassenraum auf 178 Schulkinder. Viele Schulen bedürfen dort großer Reparaturen, manchmal auch der Entfernung nicht-detonierter Explosivstoffe. Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) zwingt ihre Interpretation der Scharia den Schulen auf, und diskriminiert Mädchen im HTS-Gebiet. Im September 2022 wurde den Aussagen von SchuldirektorInnen zufolge verheirateten Studentinnen der Besuch von öffentlichen Schulen und Universitäten untersagt. HTS auferlegt zudem Lehrerinnen und Schülerinnen Kleidervorschriften. (USDOS 20.3.2023 mit Verweis auf die „COI“).
Neben dem Bombardieren von Bildungseinrichtungen in Gebieten außerhalb seiner Kontrolle und dem Gebrauch einer Anzahl an Bildungseinrichtungen für militärische Zwecke wurde auch der Lehrplan für Regimezwecke eingesetzt (SNHR 17.1.2023). Auch militante islamistische Gruppen und die PYD (Kurdish Democratic Union Party) haben Bildungssysteme in ihren jeweiligen Gebieten eingerichtet, die eine durchdringende politische Indoktrinierung beinhalten (FH 9.3.2023). Im letzteren Fall werden von den Syrian Democratic Forces Strafen gegen MitarbeiterInnen der Schulverwaltung verhängt, wenn diese nicht ihren (PYD-)Lehrplan verwenden (USDOS 20.3.2023).
Kinder-, Früh- und Zwangsehe
Das gesetzliche Heiratsalter beträgt dem neuen Gesetz zufolge allgemein 18 Jahre (OSS 18.1.2023). Buben im Alter von 15 Jahren oder Mädchen im Alter von 13 Jahren können heiraten, wenn ein Richter beide Parteien für willig und 'körperlich reif' erklärt, und die Väter oder Großväter beider Parteien zustimmen. Früh- und Zwangsehen sind immer häufiger anzutreffen, insbesondere in Gebieten unter Kontrolle bewaffneter Gruppen. Die Heiraten werden aus Angst vor Haft und Wehrdienst oft nicht offiziell registriert. Die Verschlechterung der Wirtschaftslage sowie der Tod oder das Verschwinden des männlichen Haushaltsvorstands durch das Regime oder andere bewaffnete Gruppen wirken sich negativ auf die Kinder durch steigende Kinderarbeit und Kinderheiraten aus. Berichten zufolge arrangierten viele Familien die Verheiratung von Mädchen in jüngerem Alter, als dies vor Ausbruch des Konflikts üblich war, in dem Glauben, dass dies die Mädchen schützen und die finanzielle Belastung der Familie verringern würde. Es gibt Fälle von Früh- und Zwangsverheiratung von Mädchen mit Mitgliedern des Regimes, der regimenahen Kräfte und der bewaffneten Opposition (USDOS 20.3.2023). 2023 haben die Vereinten Nationen die Zwangsheirat eines Mädchens mit einem oppositionellen SNA-Kommandeur (UNGA 03.06.2024) bestätigt.
Nordwestsyrien
Laut UNOCHA hat weniger als eines von zehn Kindern Zugang zu adäquater und ausreichender Ernährung (AA 29.3.2023). Es wird berichtet, dass Familien im Nordwesten Syriens ihre Töchter zunehmend wiederholt für kurze Zeit gegen Geld verheiraten, was den Tatbestand des sexuellen Menschenhandels erfüllt. Früh- und Zwangsverheiratungen waren besonders in Idlib vermehrt verbreitet. Es wurden Fälle berichtet, in denen SNA (Syrian National Army)-Mitglieder der Sultan-Murad-Brigade kurdische Frauen in Afrin und Ra's al-'Ayn zwangsverheirateten (USDOS 30.3.2021).
Nordost-Syrien - Kinder und Jugendliche unter Herrschaft des sogenannten Islamischen Staats und der aktuelle Umgang mit ihnen
Im Nordosten kritisiert die CoI (United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) in ihrem Bericht insbesondere die Inhaftierung ohne gerichtlichen Prozess von über 1.000, mitunter als Jugendliche verhafteten, männlichen mutmaßlichen IS-Angehörigen in Haftanstalten, teilweise in Isolationshaft sowie die De-facto-Inhaftierung von rund 58.000 Personen (AA 29.3.2023).
Kindesmisshandlung und -missbrauch
Das Gesetz verbietet Kindesmisshandlung nicht ausdrücklich. Es sieht vor, dass Eltern ihre Kinder in einer Form disziplinieren können, die nach allgemeinem Brauch zulässig ist (USDOS 20.3.2023). Regierungstruppen setzen die Vergewaltigung von Kindern als "Kriegswaffe" ein und missbrauchen Kinder von Oppositionellen in Gefängnissen, an Kontrollpunkten und bei Hausdurchsuchungen systematisch und komplett ungestraft. Einem befragten Unteroffizier zufolge machten sie bei der Inhaftierung keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Minderjährigen, selbst in Fällen, in denen Folter angewendet wurde. Kinder werden absichtlich mit Erwachsenen zusammen eingesperrt, weshalb es auch zu Vergewaltigungen durch andere Gefangene kommt (ZI 2.7.2017). Regimemitarbeiter folterten Berichten zufolge Kinder auch wegen ihrer familiären Verbindungen - real oder angenommen - mit MenschenrechtsaktivistInnen und mit anderen AktivistInnen (USDOS 20.3.2023).
NGOs berichteten ausführlich über Regime- und regimefreundliche Kräfte sowie HTS und IS, die Kinder sexuell missbrauchen, foltern, festhalten, töten und anderweitig misshandeln. Die HTS hat Kinder in den von ihr kontrollierten Gebieten extrem hart bestraft und auch hingerichtet. Das gesetzliche Alter für die sexuelle Mündigkeit liegt bei 15 Jahren, wobei es keine Ausnahmeregelung für Minderjährige gibt. Vorehelicher Sex ist illegal, aber Beobachter berichteten, dass die Behörden das Gesetz nicht durchsetzen. Die Vergewaltigung eines Kindes unter 15 Jahren wird mit einer Freiheitsstrafe von mindestens 21 Jahren und Zwangsarbeit bestraft. Es gab keine Berichte über die strafrechtliche Verfolgung in Vergewaltigungsfällen von Kindern durch das Regime (USDOS 20.3.2023).
Zwischen März 2011 und März 2023 dokumentierte SNHR den Tod von mindestens 15.272 Personen durch Folter, darunter 197 Kinder, durch die Konfliktparteien in Syrien, wobei das syrische Regime für 98,47 % dieser Todesfälle verantwortlich ist (SNHR 3.2023)
Kinderarbeit und Nahrungsmittelversorgung
Das Gesetz sieht den Schutz von Kindern vor Ausbeutung am Arbeitsplatz vor und verbietet die schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Es gab nur wenige öffentlich zugängliche Informationen über die Durchsetzung des Kinderarbeitsgesetzes. Das Regime unternahm keine nennenswerten Anstrengungen zur Durchsetzung von Gesetzen, die Kinderarbeit verhindern oder beseitigen. Das Mindestalter für die meisten nichtlandwirtschaftlichen Tätigkeiten beträgt 15 Jahre oder den Abschluss der Grundschule, je nachdem, was zuerst eintritt. Das Mindestalter für die Beschäftigung in Industrien mit schwerer Arbeit beträgt 17 Jahre. Für die Beschäftigung von Kindern unter 16 Jahren ist die Erlaubnis der Eltern erforderlich. Kinder, die jünger als 18 Jahre sind, dürfen nicht mehr als sechs Stunden pro Tag arbeiten und keine Überstunden leisten oder in Nachtschichten, an Wochenenden oder offiziellen Feiertagen arbeiten. Das Gesetz sieht vor, dass die Behörden bei Verstößen "angemessene Strafen" verhängen sollen. Es gab jedoch keine Informationen, aus denen hervorging, welche Strafen angemessen waren. Die Beschränkungen für Kinderarbeit gelten nicht für Personen, die in Familienbetrieben arbeiten und kein Gehalt erhalten (USDOS 12.4.2022).
Kinderarbeit gibt es in Syrien sowohl in informellen Sektoren, einschließlich Betteln, Hausarbeit und Landwirtschaft, als auch in Positionen, die mit dem Konflikt zu tun haben, z. B. als Aufpasser, Spione und Informanten. Bei konfliktbezogener Arbeit sind Kinder erheblichen Gefahren durch Vergeltung und Gewalt ausgesetzt. Organisierte Bettelringe setzen die innerhalb des Landes vertriebenen Kinder weiterhin der Zwangsarbeit aus (USDOS 12.4.2022). Viele bewaffnete Gruppen rekrutieren Kinder als Soldaten. Binnenvertriebene und Flüchtlinge sind besonders vulnerabel bezüglich sexueller und Arbeitsausbeutung sowie Menschenhandel (FH 9.3.2023).
Die Zahl der chronisch unterernährten Kinder (unter fünf Jahren) stieg von 553.000 im Jahr 2022 auf 609.979 im Jahr 2023. Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) sind 75.726 Kinder (zwischen sechs und 59 Monaten) akut unterernährt. Nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dürften sich diese Zahlen über das Jahr 2022 erhöht haben, auch aufgrund der Abhängigkeit insbesondere der Regimegebiete von Importen aus Russland. Rund 70 Prozent der Bevölkerung macht von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch (z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten). Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich. Etwa 90 Prozent aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse (Wasser, Strom) aus, in 48 Prozent der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei (AA 29.3.2023). Kinder als Straßenverkäufer oder auf Müllhalden wurden mit der anhaltenden Verschlechterung der Lebensbedingungen aller syrischen Familien ein regelmäßiger Anblick, weil Hunderttausende von Familien unterhalb der Armutsgrenze leben. Auch kam es zu einer Zunahme an obdachlosen Kindern, die allen Formen der Ausbeutung ausgesetzt sind (SNHR 20.11.2021).
II.1.5.6. Bewegungsfreiheit:
Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, 'außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen' schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sahen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (USDOS 20.3.2023).
II.1.5.7. Ein- und Ausreise, Rückkehr
Minderjährige Kinder konnten nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befanden (STDOK 8.2017).
SyrerInnen, die im Ausland leben, können ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten erneuern. (USDOS 20.3.2023).
Der neue syrische Regierungschef Mohammed al-Baschir hat nunmehr syrische Flüchtlinge in der ganzen Welt ausdrücklich dazu aufgerufen, in ihre Heimat zurückzukehren (vgl. etwa https://orf.at/stories/3378627/ vom 13.12.2024). Mit Stand 10. Jänner 2025 sind laut Schätzungen des UNCHR bereits mehr als 125.000 Syrer zurückgekehrt (UNHCR-Update 10.01.2025). Das UNHCR hält fest, dass jedermann das Recht auf eine Rückkehr in sein bzw. ihr Heimatland hat und die Organisation bereit sei, über die Lage voll informierte syrische Flüchtlinge, die sich für eine freiwillige Rückkehr entscheiden, zu unterstützen und hat bereits eine Reihe an Gemeinschaftszentren in Syrien wieder in Betrieb genommen, wenn auch eine groß angelegte freiwillige Rückkehr aufgrund der vielen Herausforderungen derzeit nicht beworben wird (vgl. UNHCR 12.2024, UNHCR-Update 10.01.2025).
Laut dem türkischen Innenminister sind mit Stand 09.01.2025 seit 8. Dezember 52.622 Personen freiwillig aus der Türkei zurückgekehrt, der Prozess würde von der UNHCR überwacht. (UNHCR Update 10.01.2025). Die Regierung bestätigte ferner, dass Go-and-See-Besuche vom 1. Januar bis 1. Juli 2025 über zwei Grenzübergänge (Zeytindalı/Jinderes in Hatay und Çobanbey/Al Rai in Kilis) durchgeführt werden können. Diese Möglichkeit sei zwischen 01. und 08. Jänner von 1.766 Personen genutzt worden (UNHCR-Update 10.01.2025).
Rückkehrbewegungen erfolgen auch über die Grenzübergänge zu den übrigen Nachbarstaaten, wie dem Libanon oder Irak vgl. im Einzelnen UNHCR Update 10.01.2025). Auch der Flughafen Damaskus hat den Betrieb wieder aufgenommen (ecoi.net, Informationssammlung Stand 13.01.2025]:
Das UNHCR prognostiziert im Zeitraum von Jänner bis Juli 2025 die Rückkehr von bis zu einer Million Flüchtlinge (UNHCR Voluntary Return 17.01.2025).
II.2. Beweiswürdigung:
II.2.1. Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den von der belangten Behörde vorgelegten Verfahrensakt, darin enthalten u.a. eine Kopie des vorgelegten syrischen Reisepasses im Original, des syrischen Personalausweises, des Personenregisterauszuges inkl. Übersetzung, des Familienregisterauszugs inkl. Übersetzung, durch die Einvernahme der bP in der vor dem erkennenden Gericht durchgeführten mündlichen Verhandlung, ferner durch Einholung aktueller Auszüge aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister und dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister sowie schließlich im Wege der Einsichtnahme in die vom erkennenden Gericht in das Verfahren eingebrachten und der bP unter Angabe der Quellen mit Noten von 29.01.2025 und 31.01.2025 sowie im Rahmen der mündlichen Verhandlung bekanntgegebenen und übermittelten Länderberichten zur Lage im Herkunftsstaat, insbesondere UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen,6. Aktualisierte Fassung, März 2021; EUAA COI-Report, Syria: Targeting of Individuals, September 2022; EUAA Country Guidance Syria, April 2024; Länderinformation der BFA Staatendokumentation betreffend Syrien, vom 27.03.2024; EUAA COI Report, Syria – Country Focus, October 2024; EUAA COI Report, Syria – Security Situation, October 2024; UNHCR Position on Returns to the Syrian Arab Republic, December 2024; UNHCR Preparedness and Response - Voluntary Return of Syrian Refugees (January – June 2025); Kurzinformation der BFA Staatendokumentation zu Syrien – Sicherheitslage, Politische Lage Dezember 2024: Opposition übernimmt Kontrolle, al-Assad flieht, 10.12.2024; Bericht aus dem ecoi.net zu Syrien, Arabische Republik – Informationssammlung zu Entwicklungen rund um den Sturz von Präsident Assad; UNHCR Regional Flash Update #9, Syria situation crisis, 10 January 2025; UNHCR Regional Flash Update #11, Syria situation crisis, 23 January 2025; The Danish Immigration Service, COI-Report Syria – Recruitment to Opposition Groups, December 2022; Bericht der UN Generalversammlung, Children and armed conflict, 5 June 2023; Bericht des UN Sicherheitsrats, Children and armed conflict in the Syrian Arab Republic, 27 October 2024; Bericht der UN Generalversammlung, Children and armed conflict, 3 June 2024; UNHCR Regional Flash Update #13, Syria situation crisis, 7 February 2025.
Die Beweiswürdigung stützt sich neben den Länderinformationen insbesondere auf das Vorbringen der bP in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie die aus dem Verfahrensakt hervorgehenden Aussagen der bP vor den Organen des Öffentlichen Sicherheitsdienstes und dem BFA und zieht auch das in der Beschwerde sowie in der Stellungnahme vom 13.02.2025 erstattete Vorbringen mit ein.
Im Lichte der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs ist ersichtlich, dass es zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Minderjährigen einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung bedarf und dass darauf Bedacht genommen werden muss, aus welchem Blickwinkel die Schilderung der Fluchtgeschichte erfolgte (vgl. etwa VwGH 15.10.2020, Ra 2020/18/0223, mwN). Das Alter sowie der Entwicklungsstand des Kindes sind zu berücksichtigen (VwGH 24.06.2020, Ra 2020/19/0201). Im vorliegenden Fall wurde die bP etwa zwei Monate nach ihrer Einreise in Österreich 15 Jahre alt, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung war sie ca. neun Monate von ihrer Volljährigkeit entfernt und besteht seitens des Bundesverwaltungsgerichts kein Zweifel daran, dass sie die Ereignisse klar einordnen und wiedergeben konnte. Bei der Beurteilung des Vorbringens fand dennoch in die Beweiswürdigung Eingang, dass es sich bei der bP um eine Minderjährige handelt und die Dichte ihres Vorbringens nicht mit „normalen Maßstäben“ gemessen werden darf (vgl. VwGH 24.09.2014, 2014/19/0020). Weitere Beweisanträge wurden nicht gestellt.
II.2.2. Die Feststellungen zur Person
Feststellungen zur Person der bP, ihrer Staatsangehörigkeit, Abstammung, den Familienverhältnissen sowie persönlichen und familiären Lebensumständen beruhen auf ihren insoweit stringenten Angaben im Verfahren erster Instanz und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Ergänzend wurden vom erkennenden Gericht elektronische Abfragen in den österreichischen Registern durchführt. Die Identität der bP sowie der Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Syrien kann aufgrund des im Verfahren vor der belangten Behörde vorgelegten – als unbedenklich qualifizierten– syrischen Reisepasses festgestellt werden.
Die bP legte im Laufe des Verfahrens im Hinblick auf ihren gesundheitlichen Zustand dar, dass es ihr gut gehe. Ausgehend davon und ob des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks ist daher festzustellen, dass die bP gesund ist.
Die zur Lage im Herkunftsstaat unter dem Punkt II.1. getroffenen Feststellungen ergeben sich aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnisquellen (insbesondere dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 11 vom 27.03.2024), die der bP mit Schreiben vom 29.01.2025 und 31.01.2025 bzw. im Rahmen der mündlichen Verhandlung und unter gleichzeitiger Angabe der herangezogenen Quellen zur Erstattung einer Stellungnahme bekanntgegeben wurden. Die jüngsten Ereignisse machten die Heranziehung weiterer Erkenntnisquellen erforderlich, darunter insbesondere die Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024 sowie die aktuelle Position des UNHCR zur Rückkehr nach Syrien. Die Ausführungen in den Berichten wurde seitens der bP nicht in Abrede gestellt.
Zum Zweck einer einheitlichen Darstellung unter Einbeziehung der neuen Situation seit Anfang Dezember 2024 wurden die einschlägigen Inhalte des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation gestrafft und um den Inhalt spezifischer und aktueller – betreffend insbesondere die Situation Minderjähriger, die aktuelle politische Lage und Rückkehrsituation – erweitert. Bei den angeführten Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der im vorliegenden Fall relevanten Situation in Syrien ergeben.
Für die Feststellungen zur aktuellen Situation wurden primär die Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024 sowie die unter https://www.ecoi.net/de/laender/arabische-republik-syrien/themendossiers/informationssammlung-zu-entwicklungen-zum-sturz-von-praesident-assad/ abrufbare laufend aktualisierte Informationssammlung herangezogen und Einsicht in das tagesaktuelle Kartenmaterial unter https://syria.liveuamap.com/ und ergänzend in die mittlerweile ebenfalls aktualisierten Karten unter https://www.cartercenter.org/news/multimedia/map/exploring-historical-control-in-syria.html genommen. Speziell zur Rückkehr wurden die Berichte des UNHCR berücksichtigt, darunter insbesondere die aktuelle Position des UNHCR vom Dezember 2024, welche die aus dem Jahr 2021 stammenden UNHCR-Erwägungen zu Syrien ersetzt.
Die bP gab im Laufe des gesamten Verfahrens vor dem BFA und dem Bundesverwaltungsgericht durchgehend an, dass sie aus XXXX stammt.
Die Machtverhältnisse in der Herkunftsregion der bP sind nicht strittig. Sie ergeben sich aus den jüngsten Berichten über den Sturz Assads und die Zeit danach sowie einer Einsichtnahme in das von den einschlägigen Websites (https://syria.liveuamap.com/; https://www.cartercenter.org/news/multimedia/map/exploring-historical-control-in-syria.html) abgerufene, in das Verfahren eingeführte und der bP zur Kenntnis gebrachte Kartenmaterial in Zusammenschau mit den Darstellungen und Ausführungen im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation bzw. den sonstigen bekanntgegebenen Quellen. Auch wenn sich seit der Machtübernahme vereinzelt Widerstand gegen die HTS formiert hat, gibt es keine validen Anhaltspunkte für einen neuerlichen umfassenden Machtwechsel in den nunmehr von der HTS kontrollierten Gebieten, insbesondere nicht in der Hauptstadt.
Die zum Wehrdienst und zur Rekrutierungspraxis der HTS getroffenen Feststellungen ergeben sich aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in Kombination mit dem dem Report des Danish Immigration Service vom Dezember 2022 („Recruitment to Opposition Groups“).
Die Feststellungen zur Lage von Kindern, insbesondere im Hinblick auf die Rekrutierung Minderjähriger in Syrien im Allgemeinen und dem Herkunftsgebiet der bP im Besonderen, gründen sich auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, die mit Schwerpunkt auf das Herkunftsgebiet insbesondere um die aktuellen Berichte des UN-Generalsekretärs an den Sicherheitsrat aus den Jahren 2023 und 2024 ergänzt wurden. Die jeweils im Einzelfall herangezogene Quelle wurde in den Feststellungen ersichtlich gemacht, die Quellen zeigen insgesamt ein übereinstimmendes Gesamtbild und ermöglichen damit zweifelsfreie Feststellungen zur Situation vor Ort (siehe dazu noch die Ausführungen unter Pkt. II.2.5.)
Zur Feststellung der potentiellen Einreisemöglichkeit in die Herkunftsregion wurde neben den – der medialen Berichterstattung zu entnehmenden – notorischen Informationen insbesondere auf die vom UNHCR bereitgestellten aktuellen Informationen sowie die Informationssammlung unter https://www.ecoi.net/de/laender/arabische-republik-syrien/themendossiers/informationssammlung-zu-entwicklungen-zum-sturz-von-praesident-assad/ zurückgegriffen.
II.2.3.Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte vor Ort zu verifizieren, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen (VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153; 15.03.2016, Ra 2015/01/0069).
Im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit von Angaben eines Asylwerbers hat der Verwaltungsgerichtshof als Leitlinien entwickelt, dass es erforderlich ist, dass der Asylwerber die für die ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert (VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294) und dass diese Gründe objektivierbar sind (VwGH 05.04.1995, Zl. 93/18/0289). Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, genügt zur Dartuung von selbst Erlebtem grundsätzlich nicht (VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).
Es entspricht ferner der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass ein Vorbringen im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden kann, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens bzw. der niederschriftlichen Einvernahmen unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 06.03.1996, Zl. 95/20/0650).
II.2.4. Zur vorgebrachten Gefahr einer Verfolgung durch den syrischen Staat ist Folgendes auszuführen:
II.2.4.1. Eingangs ist festzuhalten, dass der vorgebrachten Verfolgung durch die Regierung Assad durch den Zusammenbruch des syrischen Regimes die Grundlage entzogen wurde. Dementsprechend wurden die Erwägungen des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, jüngst durch eine Position zur Rückkehr ersetzt, die ausdrücklich festhält, dass Risiken in Bezug auf die Verfolgung durch die frühere Regierung aufgehört haben (vgl. UNHCR-Position zur Rückkehr in die Arabische Republik Syrien vom Dezember 2024).
Die Feststellungen unter Punkt II.1.2. und II.1.3. ergeben sich neben der notorischen medialen Berichterstattung insbesondere aus der aktuellen Kurzinformation der Staatendokumentation vom 10.12.2024, aus der unter anderem auch hervorgeht, dass die Regierungstruppen ihre Stellungen aufgaben, flohen oder desertierten. Am 08.12.2024 wurde vermeldet, dass das Armeekommando die Soldaten außer Dienst gestellt hat.
II.2.4.2. Nunmehr ist die HTS in der Herkunftsregion der maßgebliche Kontrollakteur und sind – wie bereits unter Punkt II.2.2. dargelegt - diesbezüglich auch keine Veränderungen zu erwarten. Eine oppositionelle politische Haltung der bP bzw. ihrer Familie gegenüber der HTS wurde nicht einmal behauptet und ergaben sich im Verfahren auch keine Anhaltspunkte für eine Verfolgung, zumal die HTS Rückkehrende willkommen heißt.
Wie sich der Berichtslage entnehmen lässt, legte die HTS Zivilisten in den von ihr bisher kontrollierten Gebieten generell auch keine Wehrdienstpflicht auf. Sie verfügte über genügend Kämpfer und es herrschte kein Mangel an Männern, die bereit waren, sich ihr anzuschließen, was ausweislich der Länderberichte auch der Grund war, warum keine Zwangsanwerbungen von Personen durchgeführt wurden. Wirtschaftliche Motive waren der Hauptgrund, den Einheiten der HTS beizutreten, die islamische Ideologie ein weiterer Anreiz. Darüber hinaus setzte HTS keine Zwangsrekrutierung ein, da es für HTS von wesentlicher Bedeutung ist, dass seine Rekruten motiviert sind und loyal gegenüber der Organisation. Folglich war es ohne weiteres möglich, in von der HTS kontrollierten Gebieten zu leben, ohne der Organisation militärisch beitreten zu müssen. Es gab zwar vereinzelt Berichte über Zwangsrekrutierungen unter bestimmten Umständen im Verlauf des bewaffneten Konflikts in Syrien, allerdings handelte es sich hierbei um spezielle Einzelfälle bzw. um Rekruten mit einem besonderen Profil; beispielsweise zwang HTS Personen mit militärischer Erfahrung dazu, sich ihr anzuschließen. Darüber hinaus haben örtliche HTS-Polizeieinheiten gelegentlich Männer unter Druck gesetzt, sich HTS anzuschließen, insbesondere im Zusammenhang mit den Angriffen der syrischen Regierung auf Idlib. Allerdings gab es keine systematische Praxis dieser Art der Rekrutierung. Umso weniger ist anzunehmen, dass die HTS nunmehr – nach Wegfall ihres Hauptgegners und Übernahme der Staatsgewalt – in großem Stil beginnen sollte, Zwangsrekrutierungen von Zivilisten durchzuführen. Aufgrund einer 2021 angekündigten Zulassung von Freiwilligenmeldungen war zum damaligen Zeitpunkt zwar in Berichten mitunter darüber spekuliert worden, dass HTS in den von ihr beherrschten Gebieten mit der Einführung einer „Wehrpflicht“ liebäugelt, um eine „staatliche“ Legitimation der Gruppierung zu präsentieren; eine wie auch immer geartete „Wehrpflicht“ wurde aber entgegen dieser Spekulationen trotz des seitdem verstrichenen langen Zeitraums von der HTS nicht eingeführt. Insofern ist daher gleichfalls nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die HTS nunmehr – nach Wegfall ihres Hauptgegners und Übernahme der Staatsgewalt – in großem Stil beginnen wird, Zwangsrekrutierungen von Zivilisten durchzuführen.
Entscheidungswesentlich ist aber, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste. Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Erlassung der Entscheidung vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der „Asylentscheidung“ immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 29.02.2024, Ra 2023/18/0298, mwN). Dies ist gegenständlich aber – wie dargelegt – im Hinblick auf die Gefahr einer Zwangsrekrutierung nicht der Fall.
Selbst unter der Annahme, dass die neue syrische Gesetzgebung bzw. Regierung unter Führung der HTS das Milizsystem der ehemaligen syrischen Regierung grundsätzlich weiter beibehält und auch tatsächlich beginnen sollte, Männer ab 18 Jahren einzuziehen, ist zu betonen, dass die Verpflichtung zur Wehrdienstleistung als solche ihre rechtliche Deckung in dem grundsätzlichen Recht eines souveränen Staates findet, seine Angehörigen zur Militärdienstleistung zu verpflichten und einzuziehen (vgl. VwGH 14.10.2024, Ra 2024/20/0491). Die Einberufung zum Militärdienst und eine wegen der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes bzw. wegen Desertion drohende, auch strenge Bestrafung ist – ohne Zusammenhang zu einem Konventionsgrund – nicht als Bedrohung iSv § 3 AsylG anzusehen (vgl. bereits VwGH 05.04.2002, 2001/18/0255). Die Angaben der bP ließen diesbezüglich nicht einmal im Ansatz erkennen, dass sie den Dienst an der Waffe als solchen aus politischen oder Gewissensgründen ablehnen würde. Vielmehr erklärte sie im Rahmen der mündlichen Verhandlung, dass sie, wenn kein Bürgerkrieg herrsche, bereit sei, für die neue Regierung zu kämpfen.
HTS tritt gemäßigt auf und lassen sich auch etwa zwei Monate nach der Machtübernahme keine signifikanten Anzeichen dafür ausmachen, dass sie von ihrem bisherigen Kurs abweichen und eine extremistische Ausrichtung annehmen bzw. tolerieren würde. An dieser Einschätzung vermögen weder der Umstand, dass es einzelne Videos von Personen aus dem HTS-Umfeld gibt, die ein Kalifat aufbauen wollen, noch der Umstand, dass HTS – in der Vergangenheit – teils brutal gegen Andersdenkende vorgegangen ist, Frauenrechte eingeschränkt bzw. Scharia-Gerichte harte Strafen wegen religiöser Verfehlungen verhängt haben, etwas zu ändern. Im Gegenteil: Als jüngst etwa lokale bewaffnete Gruppen die Situation für „Vergeltungsakte“ an Mitgliedern der alawitischen Minderheit bzw. ehemaligen Beamten der Regierung Assad ausnutzten, folgten Festnahmen (vgl. https://orf.at/stories/3383023/). Die einzige greifbare Aktivität der HTS stellt bislang offensichtlich die Umgestaltung des Lehrplans hin zu einer stärker religiösen Ausrichtung dar. Die Situation ist mit jener in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban nicht vergleichbar. Die neue Regierung ist einem Legitimationsdruck von innen und von außen ausgesetzt und konnte bereits die Aussetzung der Sanktionen durch die USA und – wie zuletzt vermeldet – auch eine stufenweise Lockerung durch die Europäische Union erreichen. Es finden sich überdies auch etwas mehr als zwei Monate nach dem Fall des Regimes von Baschar al-Assad keine validen Anhaltspunkte für nahende bürgerkriegsähnliche Zustände bzw. - wie bereits u.a. unter Pkt. II.2.2. ausgeführt - für einen neuerlichen umfassenden Machtwechsel. Die neuen Machthaber sind bestrebt, alle bewaffneten Kräfte in die syrische Armee einzugliedern und finden allen Widerstand zum Trotz diesbezüglich Gespräche mit den Beteiligten und keine militärischen Zwangsmaßnahmen statt (vgl. Bericht aus dem ecoi.net zu Syrien, Arabische Republik).
Die Befürchtung der bP, in einem Bürgerkrieg kämpfen zu müssen, erweist sich sohin gesamt gesehen als nicht maßgeblich wahrscheinlich. In diesem Zusammenhang wäre überdies auch die Annahme, die bP hätte ihre eventuell dann bestehende Wehrpflicht in einem eventuell in der Zukunft stattfindenden Bürgerkrieg abzuleisten und wäre sie dann hierdurch eventuell gezwungen, an völkerrechtswidrigen Militäraktionen teilzunehmen, ebenso rein spekulativ wie das Strafausmaß, dass die neuen Machthaber im Falle einer Weigerung des eventuell verpflichtenden Militärdienstes verhängen würden.
Der Ausführung in der Stellungnahme vom 13.02.2025, dass bei Kampfhandlungen - quasi zwangsläufig - auch unter der neuen Regierung Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des humanitären Völkerrechts zu erwarten seien, da solche von der syrischen Armee unter der alten Regierung bzw. von den an die Macht gekommenen Gruppierungen begangen worden seien, kann so nicht gefolgt werden. Vielmehr mangelt es einer solchen Annahme im Hinblick auf das bisherige Handeln der HTS an der Staatsspitze an belastbaren Substrat. Die in der Stellungnahme unter Hinweis auf das UNHCR Flash-Update vom 10.01.2025 und ETANA syria-udate 16 angesprochenen Kämpfe erwähnen zwar Zusammenstöße zwischen den neuen Behörden und bewaffneten Gruppen bzw. Berichte über nicht explodierte Kampfmittel, die zivile Opfer fordern, bzw. eine schlechte Sicherheitslage, u.a. auch durch Kämpfe gegen ehemals vom Regime unterstützte Banden – bekannt als Shabiha – oder Stammesmilizen in Deir ez-Zor, allerdings sind diese allgemein bestehenden Gefährdungen nur für die Prüfung subsidiären Schutzes relevant, der der bP aber bereits von der belangten Behörde (rechtskräftig) zuerkannt wurde.
Es ist deshalb neuerlich zu betonen, dass entscheidungswesentlich ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste. Auf diesen Zeitpunkt hat die der „Asylentscheidung“ immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 29.02.2024, Ra 2023/18/0298, mwN). Dies ist gegenständlich – wie dargelegt - nicht der Fall. Zudem weist die bP kein gefahrenerhöhendes Profil auf: Sie hat Syrien im Alter von etwa 14 Jahren verlassen und war zuvor weder politisch aktiv noch ist sie sonst mit irgendeiner der Parteien des Bürgerkriegs näher in Berührung gekommen. Für eine oppositionelle Haltung der Familie gegenüber der HTS gibt es nicht die geringsten Anhaltspunkte und heißt die HTS Rückkehrende auch grundsätzlich willkommen.
Abschließend ist überdies noch festzuhalten, dass eine Gefahr der Rekrutierung bzw. Verfolgung durch andere Akteure von der bP nicht vorgebracht wurde und sich auch sonst diesbezüglich keine aufzugreifenden Anhaltspunkte ergaben. Dementsprechend hat die bP selbst in der mündlichen Verhandlung keine Furcht vor einer gegen ihre Person gerichteten Verfolgung zum Ausdruck gebracht, sondern lediglich gemeint, dass sie nicht wissen würden, wie die neue Regierung handeln wird und was passieren wird. Das Vorbringen in der Stellungnahme vom 13.02.2025 wiederum konzentriert sich vor allem auf die Wiedergabe des allgemeinen Risikos anhand der Berichtslage. Diese allgemeinen Befürchtungen wären jedoch lediglich für die Prüfung subsidiären Schutzes relevant.
II.2.5. Zur Gefahr einer (Zwangs-)Rekrutierung als Minderjährige:
Hinsichtlich einer (Zwangs-)Rekrutierung von Minderjährigen ist zunächst festzuhalten, dass in Syrien bereits seit 2013 alle Formen von Rekrutierung und Einsatz von Kindern unter 18 Jahren unter Strafe stehen und die syrische Regierung mit dem Kinderschutzgesetz 2021 die Rekrutierung und Beteiligung von Kindern explizit verboten hat. Dennoch kam es in Syrien nach wie vor zu Zwangsrekrutierungen Minderjähriger, wobei diesbezüglich zwischen den verschiedenen Akteuren differenziert werden muss und die Anzahl der Fälle von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich hoch ist, wobei die Herkunftsregion der bP zu jenen Gebieten mit der niedrigsten Anzahl an Vorfällen zählt (dazu noch unten). Zudem erfolgt die Einstufung als „Zwangsrekrutierung“ nicht einheitlich und weisen nur manche Quellen Alter und Umstände der Rekrutierung aus. So wird etwa in den Berichten der Vereinten Nationen, denen das erkennende Gericht in Anbetracht der Unabhängigkeit der Quelle besondere Bedeutung beimisst, jede Rekrutierung von Kindern unabhängig von der Anwendung von Gewalt als Zwangsrekrutierung eingestuft, „Entführungen“ zum Zweck der Rekrutierung jedoch gesondert ausgewiesen. Im Hinblick auf die HTS ist dies insofern relevant, als diese Minderjährige syrischen Menschenrechtsorganisationen zufolge in der Regel nicht zwangsweise, sondern auf freiwilliger Basis – sei es durch wirtschaftliche Anreize, sei es durch ideologische Motivation durch Lehrer oder lokale Moscheen – rekrutiert. Regelmäßig findet sich auch der Hinweis darauf, dass die Rekrutierung in Binnenvertriebenenlagern stattgefunden hat. 2022 vom Danish International Service konsultierte Quellen, darunter zwei Menschenrechtsorganisationen, gaben an, dass die HTS Minderjährige nicht im gleichen Umfang rekrutierte wie zuvor während des syrischen Bürgerkriegs, da die HTS versuchte, die Rekrutierung von Kindern für ihre Streitkräfte zu vermeiden; laut dem SNHR habe HTS nur wenige Minderjährige in ihrem Militärzweig. Allgemein hat HTS hauptsächlich durch Rekrutierungskampagnen, bei denen Männer ab 18 Jahren zum Anschluss ermutigt werden, rekrutiert.
Dementsprechend bewegen sich auch die den Berichten der Vereinten Nationen zu entnehmenden Anzahl derartiger Rekrutierungen konstant im Bereich einiger hundert Personen: Der Jahresbericht 2022 betreffend den Zeitraum zwischen Jänner und Dezember 2021 schreibt von 1.296 Fällen (davon 1.258 Buben) 380 der HTS zu, im darauffolgenden Jahr wurden von der HTS 383 Kinder von insgesamt 1.696 (davon 1.593 Buben) rekrutiert. 2024 verzeichnete die UN 477 der HTS zuzurechnende Fälle (insgesamt 1.073, davon 1.059 Buben). Angesichts der Gesamtbevölkerung ist die Anzahl der Rekrutierungen Minderjähriger durch die nunmehrigen Machthaber daher unter Heranziehung der – aus Sicht des erkennenden Gerichts als besonders verlässlich einzustufenden – Zahlen der UN-Berichte auch unter zusätzlicher Annahme einer gewissen Dunkelziffer sowie „Schwankungsbreite“ gesamtbetrachtet als überschaubar zu bezeichnen. Darüber hinaus ist – bei aller Verwerflichkeit dieser Praktiken – zu betonen, dass die HTS dabei nicht gewaltsam vorgeht, sodass davon auszugehen ist, dass eine Rekrutierung Minderjähriger gegen den Willen der Betroffenen auf Ausnahmefälle beschränkt ist. Auch ist angesichts der jüngsten Entwicklungen nicht davon auszugehen, dass die HTS nunmehr von der bisher bewährten Praxis absehen und in großem Stil beginnen sollte, Jugendliche systematisch zwangsweise zu rekrutieren: Zum einen war sie bereits in ihrem vorherigen eingeschränkten Kontrollbereich um eine Distanzierung von ihrem Ursprung als Teil der Terrororganisation al-Qaida und um den Aufbau staatlicher Strukturen, wenn auch mit islamistischer Prägung, bemüht und setzt diese konsolidierenden Bemühungen nun auch nach der Machtübernahme konstant fort. Zum anderen hatte sie sich nie mit dem Regime Assad arrangiert und war daher trotz der grundsätzlichen Patt-Situation regelmäßig in Auseinandersetzungen mit regimefreundlichen Kräften verwickelt, griff aber selbst unter diesen Bedingungen nur in vergleichsweise geringem Ausmaß auf die Rekrutierung von Kindern bzw. Jugendlichen zurück. Umso weniger ist anzunehmen, dass – selbst ausgehend davon, dass ein Bedarf an Kämpfern zumindest in nächster Zeit fortbestehen wird – dieser nicht wie bisher durch Rekrutierungskampagnen über 18-Jähriger gedeckt werden wird. Nicht zuletzt ist auch hier wiederum darauf zu verweisen, dass es auch über zwei Monate nach der Machtübernahme keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass die neue Führung in Damaskus nachhaltig in Frage gestellt wird.
Die Wahrscheinlichkeit, dass konkret die bP bei einer Rückkehr in ihre nunmehr unter dem gefestigten Einflussbereich der neuen Regierung unter Führung der HTS liegenden Herkunftsregion gegen ihren Willen zwangsrekrutiert werden würde, ist daher weiterhin äußerst gering, zumal es in der Region vor der Machtübernahme kaum Rekrutierungsfälle gab: Laut dem Bericht des UNO Generalsekretärs an den UNO Sicherheitsrat zu Kindern im bewaffneten Konflikt in Syrien vom Oktober 2023 wurden im Zeitraum zwischen Juli 2020 und September 2022 insgesamt lediglich 11 bzw. 7 Fälle in Damaskus bzw. Damaskus-Land verifiziert. Anhaltspunkte für gefahrenerhöhende Umstände liegen ebensowenig vor, insbesondere kann die bP auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen und befinden sich auch ihre Angehörigen nicht in einer vulnerablen Position, wie es etwa einem Aufenthalt im Binnenvertriebenenlager oder Fehlen eines männlichen Haushaltsvorstandes der Fall wäre. Eine von anderen Akteuren ausgehende Rekrutierungsgefahr wurde nicht einmal behauptet und ergeben sich diesbezüglich in Anbetracht der Kontrollsituation auch keine Anhaltspunkte. Ein Schutz vor dem allgemeinen Restrisiko liegt insofern vor, als der bP durch die belangte Behörde subsidiärer Schutz erteilt wurde.
II.2.6. Sofern im Beschwerdeschriftsatz auf das Kindeswohl verwiesen wird, ist dazu Folgendes festzuhalten:
Vorauszuschicken ist, dass das Gericht keinesfalls in Frage stellt, dass Kinder ähnliche oder dieselben Formen von Schaden wie Erwachsene erleiden können, diese jedoch anders erleben können, sodass Handlungen oder Bedrohungen, die im Fall eines Erwachsenen noch nicht als Verfolgung anzusehen sind, bei Kindern bereits Verfolgung bedeuten können, einfach deshalb, weil sie Kinder sind (vgl. UNCHR-Richtlinien betreffend Asylanträge von Kindern im Zusammenhang mit Artikel 1 (A) 2 und 1 (F) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 22.12.2009). Ebenso verkennt das Gericht nicht, dass Kinder auch spezifischen Formen der Verfolgung ausgesetzt sein können, die auf ihr Alter, ihre fehlende Reife oder Verletzlichkeit zurück zu führen sind, wie insbesondere die Gefahr der Zwangsrekrutierung. Dies ändert jedoch nichts am grundsätzlichen Erfordernis, dass die Gefahr einer solchen Verfolgung konkret mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohen muss, und trifft dies auf die bP nicht zu.
Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts können diesbezüglich die – mittlerweile durch die Position zur Rückkehr vom Dezember 2021 abgelösten – UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, bis zur Erlassung ausführlicherer, aktualisierter Richtlinien und unter Bedachtnahme auf den Umstand, dass sie sich im Einzelnen auf bereits mehrere Jahre zurückliegende Berichte stützen, im Hinblick auf nicht regimespezifischen Risiken grundsätzlich nach wie vor Berücksichtigung finden. Es haben sich im Verfahren jedoch keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die bP einem der in diesen Richtlinien formulierten Profile unterfallen würde bzw. einer der dort genannten Praktiken zum Opfer gefallen wäre. Festzuhalten ist, dass Kindern in Syrien im Allgemeinen und in der Herkunftsregion der bP im Besonderen der Schulzugang nicht systematisch verwehrt wird. Das Recht auf Bildung für Kinder ist gesetzlich verankert und besteht eine Schulpflicht von sechs bis zwölf Jahren. Die bP selbst befindet sich nicht mehr im schulpflichtigen Alter und hat in Syrien neun Jahre lang die Schule besucht.
Es ist nicht hervorgekommen, dass die bP einer über die – durch die allgemeine Situation in Syrien bedingte – hinausgehende Gefährdung, der bereits durch die Zuerkennung subsidiären Schutzes Rechnung getragen wurde, unterliegen würde. Bei der bP handelt es sich nicht um ein alleinstehendes bzw. von seiner Familie verlassenes Kind noch um ein Waisenkind, sondern eine mittlerweile mündige Minderjährige, deren Eltern sowie Schwestern nach wie vor im Herkunftsort aufhältig sind. Die bP verfügt in Syrien daher über ein soziales Netzwerk und wäre nicht auf sich allein gestellt. Bei den Angehörigen handelt es sich auch nicht um einen Haushalt, dessen Mitglieder – als Binnenvertriebene oder mangels männlichem Haushaltsvorstand – einem besonders hohen Risiko von Übergriffen ausgesetzt sein könnten.
Auch gehört die bP keiner Minderheit in Syrien an und brachte zu keinem Zeitpunkt eine Gefährdung und/oder Verfolgung ob ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit vor bzw. ergeben sich aus den aktuellen Länderberichten auch keine vom Verwaltungsgericht amtswegig aufzugreifenden Anhaltspunkte.
II.2.7. Zur Wiedereinreisemöglichkeit
Kurz nach der Machtübernahme in Syrien wurde der Flughafen Damaskus auch für den zivilen nationalen und Anfang des Jahres auch für den internationalen Flugverkehr geöffnet und kann die bP daher auf dem Luftweg direkt in ihre Herkunftsregion einreisen, ohne eine Verfolgung befürchten zu müssen. Die bP verfügt über ihren syrischen Reisepass, auch wird ihr im Falle einer hypothetischen Rückkehr bei der syrischen Vertretungsbehörde ein Reisedokument ausgestellt werden. Schließlich hat sie als subsidiär Schutzberechtigte zudem einen Anspruch auf die Ausstellung eines Fremdenpasses (§ 88 FPG 2005).
Anhaltspunkte für eine Verfolgungsgefahr durch die HTS sind im Verfahren nicht hervorgekommen und ist nicht ersichtlich, dass die Verwandten die bP nicht am Flughafen abholen lassen bzw. dort in Empfang nehmen könnten.
Den allgemeinen Gefahren der Rückkehr wurde bereits durch die Gewährung subsidiären Schutzes Rechnung getragen.
II.3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde
II.3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).
Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Hinsichtlich der Intensität können Verfolgungshandlungen gegen Minderjährige nicht mit demselben Maßstab beurteilt werden wie Verfolgungshandlungen gegen Erwachsene (VwGH 26.06.1996, 95/20/0427). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413).
Die Bestimmung des Heimatortes des Asylwerbers ist Grundlage für die Prüfung, ob dem Asylwerber dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung droht (vgl. etwa VwGH 25.08.2022, Ra 2021/19/0442).
Entscheidend ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. etwa VwGH 23.06.2021, Ra 2021/18/0164, mwN). Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 17.03.2009, Zl. 2007/19/0459). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in seinem Heimatstaat Verfolgung zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233, mwN; vgl. ferner unter Hinweis auf diese Entscheidung VfGH 27.2.2023, E 3307/2022; VwGH 23.05.2023, Ra 2023/20/0110).
II.3.2. Wie festgestellt, geht vom mittlerweile gestürzten syrischen Regime keine Verfolgung mehr aus. Dies entspricht auch der aktuellen Position des UNHCR, die ausdrücklich festhält, dass Risiken in Bezug auf die Verfolgung durch die frühere Regierung aufgehört haben (vgl. UNHCR-Position vom 16.12.2024). Dem Vorbringen bezüglich einer möglichen Zwangsrekrutierung durch das syrische Regime, einer Verfolgung aufgrund der Verwandtschaft zu Wehrdienstverweigerern bzw. aus sonstigen Gründen ist damit die Grundlage entzogen.
II.3.3. Gefahr einer Rekrutierung durch die HTS
Wie in der Beweiswürdigung ausgeführt, ist eine Zwangsrekrutierung der bP als Volljährige bzw. eine Zwangsrekrutierung als Minderjährige nicht wohlbegründet. Weder geht aus den Länderfeststellungen eine systematische Zwangsrekrutierung durch die HTS oder eine systematische Zwangsrekrutierung von Minderjährigen am Herkunftsort hervor, noch kamen valide Anhaltspunkte für eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende individuelle Gefahr einer zwangsweisen oder auch ideologisch motivierten Rekrutierung oder für mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende bürgerkriegsähnliche Umstände hervor. Insofern liegt lediglich die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung vor, die für die Gewährung von Asyl nicht ausreicht.
II.3.4. Der bP droht in ihrem Herkunftsgebiet schließlich auch keine Verfolgung durch andere Gruppierungen oder Milizen bzw. aus sonstigen Gründen.
Wie beweiswürdigend ausgeführt, befindet sich das Gebiet unter gefestigter Kontrolle der nunmehrigen syrischen Regierung unter Führung der HTS, und geht von dieser keine Verfolgungsgefahr für Rückkehrer im Allgemeinen und die bP im Besonderen aus.
Wie beweiswürdigend ausgeführt, trifft keines der vom Hochkommissar der Vereinten Nationen in seinen Erwägungen vom März 2021 zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, definierten Risikoprofile („Kinder mit bestimmten Profilen oder in speziellen Situationen“) auf die bP zu und haben sich auch sonst keine Hinweise auf eine erhöhte Vulnerabilität ergeben. Insbesondere besteht in der Heimatregion der bP noch ein familiäres Netzwerk, auf das sie im Falle einer Rückkehr zurückgreifen kann. Dem Umstand, dass die bP aufgrund der Situation in ihrem Heimatland dem realen Risiko ausgesetzt ist, Opfer von willkürlicher Gewalt zu werden, wurde hingegen bereits vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Rechnung getragen, indem es der bP den Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt hat.
II.3.5. Die Aufforderung im aktuellen Positionspapier des UNHCR vom Dezember 2024, wonach negative Entscheidungen über die Zuerkennung des internationalen Schutzstatus angesichts der rasch geänderte Dynamiken und sich entwickelnden Situation in Syrien solange ausgesetzt werden sollten, bis sich die Situation stabilisiert hat und verlässliche Informationen über die Sicherheit und Menschenrechtssituation verfügbar sind, ist im vorliegenden Fall insofern nicht maßgeblich, als der bP bereits subsidiärer Schutz gewährt wurde und die von ihr vorgebrachte Verfolgungsgefahr durch die Regierung Assad beendet ist. Dafür, dass konkret die bP durch „andere Risiken“, die – in absehbarer Zeit – „fortbestehen oder deutlicher werden können“ über die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten hinaus in asylrelevanter Weise betroffen sein könnte, gibt es – wie aus der Beweiswürdigung hervorgeht – keinerlei Anhaltspunkte. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass seit der Veröffentlichung des Positionspapiers bald zwei Monate vergangen sind, ohne dass sich die Situation in Syrien im Allgemeinen bzw. in der Herkunftsregion der bP im Besonderen grundlegend verändert hat.
II.3.6. Die im Verfahren behauptete Furcht der bP, in Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, ist folglich nicht begründet. Das Bundesverwaltungsgericht gelangte aus den im Rahmen der Beweiswürdigung erörterten Gründen zur Überzeugung, dass die bP keiner individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche Organe oder nichtstaatliche Akteure im Herkunftsstaat ausgesetzt war und im Falle ihrer Rückkehr dorthin auch keiner mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt wäre.
Eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK liegt sohin nicht vor.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schließlich liegt der Schwerpunkt im gegenständlichen Verfahren im Bereich der Tatsachenfragen. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist nicht revisibel (vgl. VwGH vom 30.08.2018, Ra 2018/21/0149, mwN).