JudikaturVwGH

Ra 2024/20/0474 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
11. November 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. a Nussbaumer Hinterauer, Hofrat Mag. Eder, Hofrätin Mag. Rossmeisel, Hofrätin Mag. I. Zehetner und Hofrat Mag. M. Mayr als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Stüger, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Juni 2024, W131 22683981/10E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: M H in L), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

1Der im Jahr 2000 geborene Mitbeteiligte stammt aus Syrien. Er stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 21. Dezember 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). In seiner Vernehmung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gab er zum Grund des Verlassens seines Heimatstaates an, er befürchte, in Syrien von den Kurden zum Militärdienst eingezogen zu werden. Weil er seit dem Jahr 2012 die syrische Staatsangehörigkeit besitze, müsse er auch für die syrischen Behörden den Militärdienst leisten. Er wolle niemanden töten.

2Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den vom Mitbeteiligten gestellten Antrag mit Bescheid vom 27. Jänner 2023 insoweit gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ab, als die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten begehrt wurde. Jedoch wurde ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter mit der Gültigkeit für die Dauer eines Jahres erteilt.

3Der gegen die Versagung der Gewährung von Asyl erhobenen Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung stattgegeben und dem Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt sowie gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, der Mitbeteiligte stamme aus Darabasiyah im Gouvernement Al Hasakah in Syrien. Dieses stehe seit dem Jahr 2016 fast unter vollständiger Kontrolle der Kurden. Sehr kleine Gebietsteile stünden noch unter dem Einfluss der syrischen Regierung. Die Regierungskräfte hätten ihre eigenen Enklaven und „Sicherheitszonen“ innerhalb der von den Syrian Democratic Forces (SDF) kontrollierten Städte Al Hasakah und Qamishli halten können. Regierungskräfte seien auch an der syrisch türkischen Grenze, die in der Nähe des Herkunftsorts des Mitbeteiligten liege.

5 Der Mitbeteiligte habe eine „regime kritische bzw das syrische Regime ablehnende Haltung“ und wolle „gerade auch deshalb keinen Wehrdienst für das Regime leisten“. Die Herkunftsregion des Mitbeteiligten sei „theoretisch“ über näher genannte, nicht von der (syrischen) Regierung kontrollierte Grenzübergänge erreichbar. Hinreichende Sicherheit, dass diese Grenzübergänge aktuell für den Personenverkehr geöffnet und legitim passierbar seien, bestünden nicht. Mit Blick auf die zeitweisen Schließungen und Einschränkungen der Nutzung von sowohl regierungskontrollierten als auch sonstigen Grenzübergängen nach Syrien, die mögliche Verweigerung der Ausstellung von Reisepässen aufgrund der politischen Einstellung einer Person und die damit einhergehende Unsicherheit der Einreise aus Drittländern, müsse die Einreise über einen für den internationalen Verkehr freigegebenen Flughafen erfolgen, die alle unter der Kontrolle des syrischen Regimes stünden. Der Mitbeteiligte müsse diesfalls damit rechnen, in eine Kontrolle des syrischen Regimes zu geraten.

6 Zudem sei das syrische Regime auch in der Nähe seines vom Bundesverwaltungsgericht nicht näher bezeichneten Heimatdorfes präsent. Es sei dem Mitbeteiligten daher mit „glaubhaft naheliegender Wahrscheinlichkeit“ nicht möglich, sich dem Zugriff der syrischen Behörden zu entziehen.

7 Der Mitbeteiligte falle in die „Gruppe der Wehrdienstpflichtigen“. Aufgrund der „festgestellten politischen Überzeugung“ des Mitbeteiligten sei zu schließen, dass „die syrische Regierung ihm eine oppositionelle Gesinnung unterstellen“ werde.

8 Es sei daher von einer Situation auszugehen, in der der Mitbeteiligte einem erhöhten Sicherheitsrisiko ausgesetzt sei und ihm asylrelevante Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohe. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe angesichts des bereits vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gewährten Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht. Der Beschwerde sei daher stattzugeben und dem Mitbeteiligten der Status des Asylberechtigen zu zuzuerkennen.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit der gegenständlichen Revision, die vom Bundesverwaltungsgericht samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt wurde. Der Verwaltungsgerichtshof leitete das Vorverfahren ein. Es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

11 Zur Zulässigkeit der Revision wird vorgebracht, das Bundesverwaltungsgericht weiche von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, weil es verabsäumt habe, schlüssig zu begründen, weshalb es entgegen den Länderberichten und den Feststellungen der revisionswerbenden Behörde von Zugriffs und Rekrutierungsmöglichkeiten der syrischen Regierung in der Heimatregion des Mitbeteiligten ausgehe. Das Bundesverwaltungsgericht habe es zudem unterlassen, die genauen und konkreten Quellen anzugeben, aus denen es geschlossen habe, dass es zahlreiche militärische Kontrollposten gebe, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführten. Das Bundesverwaltungsgericht hätte sich zudem mit den Länderinformationen und der Rechtsprechung nachvollziehbar auseinandersetzen und unter Bedachtnahme darauf konkret aufzeigen müssen, weshalb die Passage des Grenzübergangs Semalka für den Mitbeteiligten aus asylrechtlicher Sicht nicht möglich sei.

12 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch berechtigt.

13 Im vorliegenden Fall ging das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem vor dem Bundesverwaltungsgericht angefochtenen Bescheid davon aus, dass für den Mitbeteiligten im von kurdischen Kräften beherrschten Teil von Al Hasaka keine Gefahr bestehe, zum Militärdienst für die reguläre syrische Armee einberufen oder eingezogen zu werden. Er unterliege dort keiner Verfolgung durch staatliche Behörden aufgrund der angekündigten Verweigerung des Militärdienstes. Der Mitbeteiligte würde im Falle einer Rückkehr in den kurdischen Teil von Al Hasaka seitens der Regierung nicht zum Militärdienst einberufen und keiner Verfolgung durch die syrischen Behörden oder kurdischen Gruppierungen unterliegen. Das Bundesamt stützte seine Feststellungen u.a. auf die Länderinformationen sowie weitere vorliegende Berichte zu Syrien.

14 Der Heimatbezirk des Mitbeteiligten befinde sich vollständig unter der Kontrolle der kurdisch geführten SDF. Es könne daher davon ausgegangen werden, dass er dort nicht in Berührung mit der syrischen Regierung oder syrischen Behördenorganen komme. In Gebieten, die nicht unter der Kontrolle des Regimes stünden, sei eine Wehrpflicht de facto nicht umsetzbar es fehle der Zugriff auf die Administration und die davon betroffenen Personen. Aufgrund der fehlenden administrativen Strukturen des syrischen Regimes herrsche im kurdischen Teil von Al Hasaka kein verpflichtender Wehrdienst und es würden auch keine Wehrpflicht Kampagnen durchgeführt, was sich aus den Länderinformationen ergebe.

15 Die Rückkehr in den kurdischen Teil von Al Hasaka sei dem Mitbeteiligten über die Türkei oder den kurdischen Teil des Irak und in weiterer Folge auf dem Landweg möglich, um so den Kontakt zu staatlichen syrischen Institutionen zu vermeiden, etwa über die Grenzübergänge Semalka oder Bab al Hawa.

16 Nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts die sich insoweit mit jenen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen decken stehe das Gouvernement Al Hasakha seit dem Jahr 2016 fast unter vollständiger Kontrolle der Kurden, zu denen auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehörten. Sehr kleine Gebietsteile des Gouvernements stünden noch unter dem Einfluss der syrischen Regierung. Die Regierungskräfte hielten ihre eigenen Enklaven und „Sicherheitszonen“ innerhalb der von SDF kontrollierten Städte Al Hasakah und Qamishli. Regierungskräfte seien auch an der syrisch türkischen Grenze stationiert, in deren Nähe der Herkunftsort des Revisionswerbers liege.

17 Das Bundesverwaltungsgericht ist im angefochtenen Erkenntnis, in dem es sich auf ebenfalls auf die Länderberichte sowie den Themenbericht der Staatendokumentation zum Thema Syrien Grenzübergänge vom 25. Oktober 2023 gestützt hat, zum Ergebnis gelangt, dem Mitbeteiligten drohe in seiner Heimatregion asylrelevante Verfolgung, weil er wegen seiner regime kritischen Haltung den Wehrdienst bei der syrischen Armee nicht leisten wolle. Anders als das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ging das Bundesverwaltungsgericht unter Verweis auf die Länderberichte jedoch davon aus, dass das syrische Regime Zugriff auf den Mitbeteiligten in seiner Herkunftsregion habe.

18 Das Verwaltungsgericht ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wenn es wie hiervon einer Entscheidung des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl abweichen will, gehalten, auf die beweiswürdigenden Argumente des Bundesamts einzugehen und nachvollziehbar zu begründen, aus welchen Gründen es zu einer anderen Entscheidung kommt (vgl. VwGH 30.11.2021, Ra 2020/20/0412, mwN).

19Der Verwaltungsgerichtshof hat sich jüngst (neuerlich) ausführlich in seinem Erkenntnis vom 14. Oktober 2024, Ra 2024/20/0491, mit den Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 für die Asylgewährung wegen Verfolgung aufgrund der Weigerung, Militärdienst (für staatliche Kräfte einerseits und für sonstige Bürgerkriegsparteien andererseits) zu leisten, befasst. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird insoweit auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

20 Das Bundesverwaltungsgericht geht im Ergebnis davon aus, aus den Länderberichten sei abzuleiten, dass für Männer im wehrdienstpflichtigen Alter im gesamten kurdischen Selbstverwaltungsgebiet Nordsyriens die Gefahr bestehe, vom syrischen Regime zwangsrekrutiert zu werden. Ein solches Ergebnis lässt sich den vom Bundesverwaltungsgericht zitierten Länderinformationen gerade nicht ohne weiteres entnehmen. Aus den vom Bundesverwaltungsgericht maßgeblich zur Begründung herangezogenen Länderinformationen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien in der Fassung Version 11 vom 27. März 2024, 123) geht im Wesentlichen hervor, dass die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen könnten. Die Aussagen (näher genannter Experten und des Syrian Network for Human Rights) über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven und „Sicherheitsquadraten“ auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten gingen jedoch auseinander.

21 Nach dem vom Bundesverwaltungsgericht ebenfalls zur Begründung herangezogenen Themenbericht der Staatendokumentation Syrien Grenzübergänge vom 25. Oktober 2023 (Seite 31 f) könnten Reservisten in von der AANES kontrollierten Regionen nicht von der syrischen Regierung gefasst werden, außer sie würden von der Regierung kontrollierte Gebiete u.a. in al Hasakah betreten. In al Hasakah sei die Regierungskontrolle auf einen sehr kleinen Abschnitt beschränkt, der weniger als einen Quadratkilometer umfasse. Abgesehen von den aufgezählten Regionen sei es für Reservisten in den AANES kontrollierten Gebieten relativ sicher („quite safe“).

22 Das Bundesverwaltungsgericht lässt eine für den Verwaltungsgerichtshof nachvollziehbare Begründung vermissen, warum im Revisionsfall der Mitbeteiligte, dessen Herkunftsort sich auch nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht in einem „Sicherheitsquadrat“ der syrischen Regierung befinde, eine asylrelevante Verfolgung durch eben dieses Regime zu gewärtigen habe. Der bloße Hinweis des Bundesverwaltungsgerichts, dass sich das nicht genannte Dorf des Mitbeteiligten in der Nähe der syrisch türkischen Grenze befinde, an der sich auch Regierungskräfte befänden, vermag diese Feststellung schon deshalb nicht zu tragen, weil sich das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang nicht mit der ebenfalls im genannten Themenbericht vom 25. Oktober 2023 (Seite 32) Aussage, wonach es zwar Kontrollpunkte der syrischen Armee an der Grenze zur Türkei gebe, aber dort keine Personen kontrolliert würden, auseinandersetzt.

23Im Zusammenhang mit dem Grenzübertritt bei (angenommener) Rückkehr des Mitbeteiligten in seinen Heimatstaat ist zunächst auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach es aus asylrechtlicher Sicht nicht darauf ankommt, ob die Einreise in einen verfolgungssicheren Landesteil aus der Sicht des potentiellen Verfolgers legal stattfindet, sondern nur, ob die den Grenzübergang beherrschenden Autoritäten eine Reise in das sichere Gebiet zulassen (vgl. VwGH 24.4.2024, Ra 2024/20/0132, mwN).

24 Das Bundesverwaltungsgericht stützt seine Aussagen über „die generelle Situation an syrischen Grenzübergängen, die Einreisemodalitäten samt Kontrollen der Einreisenden, die (nicht von der Regierung kontrollierten) Grenzübergänge Cilvegözü Bab al Hawa und Faysh Khabur Semalka sowie den Weg bis zum Heimatort“ des Mitbeteiligten auf die Länderberichte, die verfügbaren Karten und dem Themenbericht vom 25. Oktober 2023, ohne dies genauer zu spezifizieren. Dem letztgenannten Themenbericht (Seite 46 f) ist aber zu entnehmen, dass am Grenzübergang Semalka keine Beamten des syrischen Staates präsent seien und es dort nur wenige Rückweisungen gebe. Die Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts, es sei dem Mitbeteiligten die Passage dieses Grenzüberganges nicht möglich, findet in diesem Bericht keine Deckung.

25 Dasselbe gilt für die Beurteilung, der Mitbeteiligte werde dem auf dem Weg vom Grenzübergang Semalka in seine Herkunftsregion entweder beim Grenzübertritt oder bei einem der vielen Checkpoints im Inland vom syrischen Staat kontrolliert und wegen seiner Wehrdienstverweigerung aufgegriffen werden. Aus welchen Feststellungen das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang prognostisch ableitet, am Weg sei mit regelmäßigen Checkpoints von regierungstreuen Kräften zu rechnen, die besonders an der in die gleiche Richtung verlaufenden Fernstraße M4 stationiert seien, ist für den Verwaltungsgerichtshof nicht nachvollziehbar.

26Das angefochtene Erkenntnis war wegen (vorrangig wahrzunehmender) Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben.

Wien, am 11. November 2024